Islam in Europa „Im Dialog mit dem Islam dominiert der sicherheitspolitische Blick“, konstatiert die Berliner Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus in dieser IP: „Häufig werden Bemühungen um die Kommunikation mit Muslimen mit den Folgen terroristischer Anschläge begründet.“ In der Tat: Seit islamische Fundamentalisten in Europa Bomben werfen, Züge in die Luft sprengen, Filmemacher ermorden und frustrierte junge Muslime Pariser Banlieues abfackeln, nehmen die europäischen Mehrheitsgesellschaften aufgeschreckt zur Kenntnis, dass unter ihnen auf dem Kontinent rund 15 Millionen Muslime leben – zum Teil schon seit drei Generationen, zum Teil in „Parallelgesellschaften“, auf jeden Fall eher am Rande als in der Mitte unserer Gemeinwesen. Aufgewühlte Debatten finden statt. Begriffe schwirren hin und her. „Multikulti“ ist tot, „Leitkultur“ aber auch. Ja, wir sind ein Einwanderungsland, aber nein, Kopftücher in den Schulen wollen wir nicht, auch keine hochaufragenden Minarette an deutschen Moscheen. Warum scheitert die Integration? Wieviel Assimilation verlangen wir? Welche Bildungschancen haben Migrantenkinder aus muslimischen Ländern? Wer oder was behindert ihren gesellschaftlichen Aufstieg? Und, vor allen Dingen: Ist „der Islam“ das Problem? „Der Islam“ existiert natürlich genauso wenig wie „das Christentum“. Deshalb bedarf es schon eines genaueren Blickes, einer sorgfältigeren Analyse – und unweigerlich auch der Selbstanalyse: Wie halten wir Europäer es denn generell mit den Religionen? Welchen Platz in der Gesellschaft räumen wir ihnen ein? Oder anders gefragt: Wieviel „Vertrautheit mit Verschiedenheit“ (Marcia Pally) sind wir zu ertragen bereit? „Für den Ort, die Rolle, die Zukunft des Islams als Bestandteil europäischer Gemeinwesen“, schreibt der Philosoph Otto Kallscheuer in dieser Ausgabe, „gibt es kein historisches Modell. Auch deshalb, weil er in der historischen Erinnerung Europas dessen Anderes, sein Gegenüber, in bestimmten Epochen seinen Feind darstellt.“ Von solchem (unbewussten?) historischen Ballast muss die heutige Debatte über den Islam in Europa sich befreien. Nur dann kann sie sich entfalten. SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
Islam in Europa
Gewinn oder Gefahr? 8 Otto Kallscheuer Keine Religion wie jede andere Im Westen ankommen – aber wie? Wege zur Integration des Islams Über Jahrhunderte verkörperte der Islam für Europa das „Andere“, zuweilen gar den Feind. Doch heute gilt es, Wege zu finden, muslimische Religiosität in Europa zu integrieren. Voraussetzung dafür: der Abschied von einem primär national regulierten und an der ethnischen Herkunft orientierten Religionsverständnis.
16 Kerstin Schweighöfer Meister Proper Amsterdam: Wie ein Marokkaner seinen Landsleuten westliche Werte eintrichtert
Ghettobildung, Verwahrlosung, Hass auf die fremde Heimat: Der Amsterdamer Stadttteil Slotervaart spiegelte exemplarisch das Scheitern einer Politik, die von den Einwanderern nichts fordert und alles erlaubt. Doch die Niederlande sind aufgewacht: Keiner steht besser für den Kurswechsel als Bürgermeister Marcouch, der als „Superbulle“ Null-Toleranz predigt.
24 Sadik J. Al-Azm Galilei und Rushdie Zwei Ketzer, zwei Opfer religiöser Orthodoxie: ein Vergleich Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich auch muslimische Intellektuelle mit den Erkenntnissen und Folgen der europäischen Aufklärung auseinander. Lassen sich Wissenschaft und Islam miteinander vereinbaren? Der Ausgang der Debatte ist offen. Aber der Umgang mit dem Häretiker Rushdie weist verblüffende Parallelen zum Fall Galilei auf.
30 Fakhri Saleh Freidenker leben gefährlich Wer den Koran wissenschaftlich analysiert, setzt sein Leben aufs Spiel Der Koran kann als ein Code, als Stück Geschichte oder als literarisches Werk verstanden werden. Immer mehr arabische Forscher analysieren die heilige Schrift der Muslime mit wissenschaftlichen Methoden. Doch an arabischen Hochschulen kommen sie nicht zu Wort – einige von ihnen erhalten sogar Todesdrohungen.
36 Sabine Riedel Zwischen „Euro-Islam“ und Islamophobie Einheit in Vielfalt? Wider den Zwang, Europas Muslime zu institutionalisieren Lässt sich der Islam von außen „europäisieren“? Muss er sich nach dem Vorbild der christlichen Kirchen institutionalisieren, um für Europas Mehrheitsgesellschaften akzeptabel zu werden? Solche Versuche, einen okzidental domestizierten „Euro-Islam“ heranzuzüchten, müssen fehlschlagen. Und, noch schlimmer: Sie fördern islamistische Ideologen.
46 Ayatollah Ghaemmaghami »Ideologisierung ist eine Epidemie« Warum Islam und Demokratie kein Widerspruch sind 48 Mina Ahadi & Barbara John »Ein guter Muslim muss antiwestlich sein« Eine Exil-Iranerin und eine Deutsche streiten über Islam und Integration Ist unser Land zu tolerant? Wer bedroht, wer verteidigt unsere Werte? Verträgt sich der Koran mit dem Grundgesetz? Ein Streitgespräch über die Gefahr einer islamischen Gegenkultur, die Radikalisierung durch Religion und zerplatzte Träume der multikulturellen Gesellschaft.
56 Riem Spielhaus Die Integration religiöser Symbole Kopftuch und kein Konsens: viel zu tun für die Islamkonferenz Wenn Integration ernst gemeint ist, muss auch nichtchristliche Religiosität sichtbar sein können, ohne als Bedrohung empfunden zu werden. Der Umgang mit islamischen Symbolen ist von Vorurteilen geprägt, die es vor allem muslimischen Frauen erschweren, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Es gibt noch viel zu tun für die Deutsche Islamkonferenz.
61 Marcia Pally Amerika, machst du es besser? Warum muslimische Einwanderer in den USA besser integriert sind als in Europa Im Gegensatz zu europäischen Muslimen verüben muslimische Amerikaner keine Selbstmordattentate gegen ihr Gastland, und sie müssen sich ihrer Identität auch viel weniger durch rebellisches islamistisches „Anderssein“ vergewissern. Worin unterscheidet sich das amerikanische Integrationsmodell vom europäischen? Ein interkultureller Vergleich.
Internationale Politik 70 Europa | Alan Posener Europas sanfter Imperialismus Wie man Imperium wird, ohne es selbst zu merken Die Vorstellung, dass ein Bewohner Istanbuls, Kiews, ja, Tel Avivs oder Casablancas eines Tages sagt: „civis europaeus sum“, erfüllt die einen mit Stolz, die anderen mit Verlustängsten. Doch stehen hier lediglich zwei Varianten imperialer europäischer Politik zur Debatte. Nicht Amerika, Europa ist das Imperium der Zukunft.
80 Türkei | Jürgen Gottschlich Ein Sieg des Islams über Europa? Wohin die Türkei nach dem AKP-Triumph steuert, hängt auch von der EU ab Viele Türken haben die Erdogan-Partei gewählt, weil sie dem Land Wachstum und Wohlstand beschert hat. Auch die Öffnung zur EU hat die AKP betrieben, während die säkularen Parteien auf ihrem europafeindlichen Nationalismus beharrten. Doch wenn sich die Tür nach Europa schließen sollte, entfällt der Zwang zur Modernisierung. Was dann?
85 Nahost I | François Zabbal Das große Durcheinander Dringend gesucht: eine identitätsstiftende arabische Ideologie
Der Irak-Krieg, Syriens Rauswurf aus dem Libanon, der Wahlsieg der Hamas und der Sieg der Hisbollah über Israel haben das bisherige Machtgefüge des Nahen Ostens zum Einsturz gebracht. Die Eliten sind verunsichert, die Feindbilder stimmen nicht mehr – aber statt einer Debatte herrscht ratloses Schweigen. Neue Konzepte sind nicht in Sicht.
90 Nahost II | Daoud Kuttab Palästina und die Welt – eine Hassliebe Die Zeit für einen Neuanfang scheint günstig – wenn alle Beteiligten ihn wollen Seit 40 Jahren zerbricht sich die Welt den Kopf, wie dieser endlose Konflikt zu lösen ist. Generationen von Vermittlern haben sich daran die Zähne ausgebissen; beide Seiten beharren auf ihren Standpunkten, Fehlern und Ängsten. Im Moment ist die Zeit für einen entschlossenen Neuanfang günstig – aber er muss von allen Beteiligten gewollt sein. 98 Porträt | Manuel Fröhlich Manager an drei Fronten Die Zwischenbilanz des UN-General-sekretärs Ban Ki-moon ist durchwachsen Implementation statt Innovation bestimmte bislang die Agenda des UN-Generalsekretärs. Auch in naher Zukunft sind groß angelegte Reformvisionen von Ban Ki-moon nicht zu erwarten. Langfristig aber wird der Nachfolger Kofi Annans sich kaum in konzeptioneller Bescheidenheit üben können.
104 Iran | Karl-Heinz Kamp Wenn der Iran Nuklearmacht würde ... ... wäre die atomare Abschreckung auch gegen Teheran wirksam?
Die nuklearen Ambitionen des Iran bestimmen seit langem die internationale Sicherheitsdebatte. Mit immer neuen Kombinationen von Anreizen und Sanktionen wird versucht, Teheran von seinem gefährlichen Kurs abzubringen. Was wäre, wenn das letztlich doch nicht gelingt und der von Mullahs regierte Gottesstaat Iran zur Nuklearmacht wird?
116 EU-Erweiterung | Andreas Schockenhoff Ruf der Region Die Europäische Union braucht dringend eine Schwarzmeer-Kooperation Mit ihrer jüngsten Erweiterung wächst die Europäische Union an den Schwarzmeer-Raum heran, berührt uns dessen Entwicklung unmittelbar. Doch mit einer rein bilateralen Nachbarschaftspolitik ist es für Brüssel nicht mehr getan. Zeit für eine stärkere Zusammenarbeit, um die Chancen der Region zu nutzen und ihre Konflikte zu schlichten.
120 Afghanistan | T. Noetzel & S. Scheipers Flüchten oder Standhalten Wer den Abzug aus Afghanistan fordert, muss die Konsequenzen benennen Im Vorfeld der Bundestagsdebatte über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes werden Stimmen laut, die einen schnellen Abzug deutscher Truppen fordern. Braucht Deutschland eine Exit-Strategie für Afghanistan? Ist der Rückzug aus der Operation Enduring Freedom (OEF) sinnvoll? Was fehlt, ist eine klare Strategie des Einsatzes.
128 Nahostbilder | Götz Nordbruch Genozid oder zionistische Verschwörung? Die Darfur-Krise im Spiegel der arabischen Medien 132 Buchkritik | J. Croitoru, Th. Speckmann Die neue Furcht vor dem Islam Zwischen Angstmache und Analyse: Kapituliert der Westen vor den Islamisten?
Kolumnen 68 Werkstatt Deutschland | Manfred Güllner Don’t shoot the messenger Über die fatalen Folgen politischer Verdrängungsmechanismen 96 Ökonomie | Henrik Enderlein Brechstange gegen „Blümchen-rühr-mich-nicht-an“ Das deutsch-französische Sommertheater um die Europäische Zentralbank 114 Kultur | Lorenz Jäger Deutsch-polnische Wunschlandschaften Poesie statt Politik: Wege aus der bilateralen Sprachlosigkeit 126 Technologie | Tom Schimmeck Wind machen und Wellen schlagen Sonnenaufgang: warum den Uralt-Energien die Zukunft gehört
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