Auslandseinsätze
Christoph Bertram, der ehemalige Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, erzählte kürzlich: „Vor einiger Zeit rief mich ein deutscher Major aus Afghanistan an. ‚Wir sitzen hier mit tausend Mann in Mazar-e-Sharif‘, sagte er, ‚und wir wissen eigentlich nicht, warum wir hier sind. Können Sie nicht mal kommen und uns das erklären?‘“ Eine niederschmetternde Anekdote. Was tut die deutsche Bundeswehr am Hindukusch? Nach fünf Jahren ISAF-Einsatz scheint das den Soldaten vor Ort noch immer nicht klar zu sein – ebensowenig wie offenbar großen Teilen der deutschen Bevölkerung. Auf die IP-Umfrage, ob Auslandseinsätze dazu beitragen könnten, die Bundesrepublik sicherer vor Terroranschlägen zu machen, antworteten 84 Prozent der Befragten mit Nein. Zugegeben: Die neue Lage ist schwer zu verstehen. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die alte bipolare Weltordnung untergegangen, in der Kategorien wie Freund und Feind, innere und äußere Sicherheit, Ziviles und Militärisches, Krieg und Frieden noch scharf voneinander zu trennen waren. Die neuen „asymmetrischen“ Gefahren erfordern gänzlich andere, flexiblere, auch viel komplexere Sicherheitsstrukturen. „Im Prinzip hat die Debatte über eine neue sicherheitspolitische Architektur in Deutschland noch nicht wirklich begonnen“, urteilt der Politologe Herfried Münkler in dieser IP, „weil die meisten von denen, die diese Debatte führen müssen, Art und Ausmaß der neuen Herausforderungen und Bedrohungen noch nicht realisiert haben.“ Warum also schicken wir fast 8000 Soldaten in Auslandseinsätze weit weg von Deutschland? Steht eine erkennbare Gesamtstrategie dahinter? Und wenn das nicht der Fall ist, wie müsste eine solche aussehen? Nach welchen Kriterien entscheidet der Bundestag über den Einsatz unserer „Parlamentsarmee“? Ist die Bundeswehr für die neuen Aufgaben mental wie materiell gut gerüstet? Gilt die Unterscheidung zwischen „stabilitätssichernden“ und „Kampf“-Einsätzen noch? Welche Rolle spielen die Nachrichtendienste? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Autoren dieser Ausgabe: Wissenschaftler, Politiker, Praktiker.
SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
Auslandseinsätze 6 Herfried Münkler Elemente einer neuen Sicherheitsarchitektur Deutschland hat noch keine durchdachte Antwort auf die neuen asymmetrischen Bedrohungen Deutschlands sicherheitspolitische Debatte hinkt hinter den Realitäten her. Mit dem bloßen Nachjustieren von Stellschrauben wird den neuen Gefahren nicht begegnet werden können: Die heutigen asymmetrischen Bedrohungen erfordern mehr als nur den Umbau der Systeme – was sich am unsicheren Umgang mit den Auslandseinsätzen ablesen lässt.
18 Volker Perthes Wie? Wann? Wo? Wie oft? Strategische Fragen, die vor einem Auslandseinsatz zu klären sind Jede Entscheidung zur Entsendung deutscher Soldaten muss auf der Grundlage einer informierten strategischen Debatte gefällt werden. Erst wenn das Mandat, die Erfolgsaussichten und Risiken, die Dynamiken einer Krise sowie die deutschen Interessen geklärt sind, sollte entschieden werden, was sich Deutschland leisten kann und leisten will. 22 Hans-Ulrich Klose Geteilte Verantwortung Der Parlamentsvorbehalt ist sinnvoll – doch darf er das Regierungshandeln nicht behindern Seit dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 entscheidet das Parlament über Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes. Inzwischen hat es mehreren Out-of-area-Einsätzen zugestimmt – nach kontroverser Debatte. Die Frage ist, ob dieses Prozedere das Regierungshandeln stützt oder eher hemmt.
28 Hans-Otto Budde Einsatz verpflichtet Bewährung auf Leben und Tod: Unsere Soldaten brauchen den Rückhalt in der Bevölkerung Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Auftrag des Heeres erweitert – aus dem „Heer für den Einsatz“ ist ein „Heer im Einsatz“ geworden. Ein Wandel, der die Soldaten und ihre Familien vor größte Herausforderungen stellt. Und vor allem eins verlangt: Vertrauen in die Richtigkeit des übertragenen Mandats.
36 Marco Seliger Dixieklo statt Klappspaten Skurrile Bürokratie und schlechte Ausrüstung erschweren die Bundeswehr-Einsätze Im 52. Jahr ihres Bestehens, 14 Jahre nach Beginn ihrer ersten Friedensmission, ist die Bundeswehr noch immer nicht in der Realität des modernen militärischen Krisenmanagements angekommen. Für Einsätze fern der Heimat personell wie materiell nur unzureichend gewappnet, wird sie von ihrem politischen Auftraggeber, dem Bundestag, permanent überfordert.
43 Rudolf Adam Kenne dich – und kenne den Feind! Komplexer als im Spionageroman: Die Bedeutung der Nachrichtendienste nimmt zu Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Rolle, Funktion und Aufgaben der Nachrichtendienste fundamental verändert. Aber noch immer werden sie entweder verteufelt oder verklärt, umgibt sie der schillernde Nimbus alter Spionageromane. Ein nüchterner Blick tut deshalb not: Was können, was sollen die deutschen Dienste heute leisten – und was nicht?
52 Ernst Uhrlau „Terror ohne Ende?“ Internationale Kooperation tut not: Informationsnetzwerke helfen gegen Terrornetzwerke Der internationale islamistisch motivierte Terrorismus bleibt auf absehbare Zeit eine der größten Gefahren für unsere Sicherheit. Effektive Terrorbekämpfung ist möglich, wenn alle Sicherheitsakteure an einem Strang ziehen. Für einen langfristigen und nachhaltigen Erfolg im Kampf gegen den islamistischen Terror brauchen wir eine ganzheitliche Strategie.
58 Željko Branovi? & Sven Chojnacki Söldner mit neuer Mission Hat der Trend zur Privatisierung von Sicherheit auch Einfluss auf deutsche Einsätze? Das „Outsourcing“ von Sicherheitsdienstleistungen an Privatfirmen nimmt weltweit zu. Das gilt inzwischen sogar schon für die Nachsorge von Konflikten und den staatlichen Wiederaufbau. Welche Implikationen hat dieser Trend für militärische Auslandseinsätze, insbesondere für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik?
68 Sven Bernhard Gareis & Johannes Varwick Frieden erster und zweiter Klasse UN-geführte Missionen leiden unter Ressourcen- und Spezialistenmangel UN-Friedensmissionen haben wieder stark zugenommen. Deutschland und die EU betonen stets, die UN bei der globalen Friedenssicherung zu unterstützen. Ein genauerer Blick auf die Realitäten zeigt jedoch, dass sich längst ein Zwei-Klassen-System etabliert hat: Hier die hochmodernen, teuren Einsätze von NATO und EU, dort die schlecht ausgestatteten UN-Missionen. Das kann so nicht bleiben.
76 Peter Wittig Deutsche Blauhelme in Nahost Der Einsatz im Libanon: Guter Start für mehr deutsches Engagement in den UN Es war eine historische Entscheidung, deutsche Soldaten in den Libanon zu schicken. Und es ist ein Politikum, dass die Europäer die UNIFIL-Mission anführen. Damit hat Europa erheblich an Bedeutung gewonnen – im Nahen Osten und in den Vereinten Nationen. Was bedeutet dies für künftige Einsatzoptionen Deutschlands bei Friedensmissionen?
Internationale Politik 84 PRO & CONTRA Raketenabwehr: Schutz oder Gefahr? von Joachim Krause & Harald Müller Mehr Sicherheit oder neues Wettrüsten? Europa streitet über Amerikas Abwehrschirm Um sich vor einem Nuklearschlag des Iran zu wappnen, will Washington in Polen und Tschechien ein Raketenabwehrsystem errichten. Doch Amerikas Pläne werfen kontroverse sicherheitspolitische Fragen auf: Wie soll der Westen auf eine mögliche Bedrohung antworten? Wie reagiert Moskau auf die US-Initiative? Steht die Welt vor einem neuen Wettrüsten?
89 NUKLEARE AUFRÜSTUNG Pflicht zum Verzicht von Gerhard Mangott & Martin Senn Zuckerbrot und Peitsche: Wie man mit potenziellen Atommächten umgeht Was kann die internationale Staatengemeinschaft tun, um die nukleare Aufrüstung autoritärer oder totalitärer Regime zu verhindern? Die Beispiele Nordkorea und Iran zeigen deutlich: Sinnvoller als ein militärisches Eingreifen ist die Förderung eines längerfristigen, evolutionären Regimewechsels.
100 EU-ERWEITERUNG Strategischer Partner Türkei von Karl Kaiser Ankara ist wichtig für die Stabilisierung des Nahen Ostens und die Energiesicherheit Der gegenwärtig geführten Diskussion über einen EU-Beitritt der Türkei fehlt die geostrategische Dimension. Die USA und die EU haben ein gemeinsames Interesse an einer demokratischen Türkei als Partner bei der Stabilisierung des Nahen Ostens, der Sicherung ihrer Energiezufuhr sowie dem Dialog mit dem Islam.
110 FORSCHUNG UND BERATUNG Über die Produktion von Wissen von Gunther Hellmann & Peter Rudolf Zwölf Thesen zur Rolle der Wissenschaft in den internationalen Beziehungen Die Wissenschaft hat in der Wissensgesellschaft zwar ihre Sonderstellung verloren, nicht aber ihre Rolle als Produzent von Wissen. Was also bedeutet die Einebnung der Differenz zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Wissen für die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB)? Ein Orientierungsversuch.
124 POLENBILDER In der Vierten lebt sich’s besser von Basil Kerski Die polnische Regierung interpretiert die Geschichte – und erntet dafür Kritik 128 BUCHKRITIK Sicherheit schaffen – aber wie? von Constanze Stelzenmüller, Gunter Hofmann & Thomas Speckmann Wie Sicherheitspolitik auf die Globalisierung reagiert, was die Weltrisikogesellschaft ausmacht und warum die Hamas den Palästinensern schadet Kolumnen 82 WERKSTATT DEUTSCHLAND von Franz Walter Und was macht die „Generation Golf“? Das neue Sicherheitsbedürfnis der Yuppies zwingt die FDP zum Umdenken 98 ÖKONOMIE von Helmut Reisen Wer hat Angst vor China in Afrika? Die westliche Kritik an chinesischen Investitionen und Infrastrukturplänen ist verlogen 108 KULTUR von Jens Jessen Dokumenta ohne Dogma Vom Fortschrittsglauben befreit: In Kassel zeigt sich die Kunst des neuen Jahrtausends 122 TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Rechner für alle Welt Ein billiger Laptop für jedes Kind – kann so eine Initiative die Welt retten?
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