„Ich bin eigentlich unverändert optimistisch, dass die europäischen Bürger, wenn man es ihnen richtig erklärt, wissen, was sie an Europa haben. Wir wären ja verrückt, wenn wir gerade in diesem Umfeld der Globalisierung, der Suche nach einer neuen politischen und auch wirtschaftlichen Weltordnung, Europa nicht als eine starke Heimatbasis mit unseren eigenen Wertevorstellungen gestalten und ausbauen würden. Dieses Europa versetzt uns auch in die Lage, an einer neuen Weltordnung mitzudiskutieren und mitzugestalten. Wenn wir das alles aus der jetzigen Krise lernen, können wir gestärkt aus ihr hervorgehen. Wir müssen eine europapolitische Inventur machen, um die europäische Idee wiederzuentdecken.“ Diese Sätze stehen in der Rede, die Bundespräsident Horst Köhler am 3. Juni auf der Festveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen der DGAP in der Berliner Philharmonie hielt (der ganze Text ist unter www.dgap.org zu finden). Diese Ausgabe der IP versucht eine Inventur. Europas Krise hat inzwischen historische Dimensionen angenommen. Die „Denkpause“, die die ratlosen Regierungschefs nach dem Doppel-Nein zum Verfassungsvertrag und dem gescheiterten Finanzgipfel vorschlugen, muss nun vorrangig zum Nachdenken darüber genutzt werden, warum Europas Bürger für das große politische Projekt keinerlei Empathie mehr aufbringen, warum sie der „Idee Europa“ so massiv entfremdet sind. Und das gilt vor allem für Europas Jugend, die in Frankreich wie den Niederlanden mehrheitlich gegen den Verfassungsvertrag stimmte. Was will sie? Warum bedeutet ihr Europa nichts mehr? Wenn es die Angst vor Arbeitsplatzverlust und dem Konkurrenzdruck der Globalisierung war, wie Umfragen suggerieren, dann ist dies ein paradoxes Ergebnis, da die Europäische Union ja gerade „die Antwort der Europäer auf die Globalisierung“ ist, wie Karl Lamers in dieser IP schreibt. Ganz offensichtlich hat dies den jungen Europäern bisher niemand plausibel erklärt. Das ist das eklatanteste Versagen der europäischen politischen Elite. Wenn sie es jetzt nicht lernt, wird es bald nichts mehr zu erklären geben. Adieu „Europe puissance“! In aggressiver Kleinstaaterei hat dieser Kontinent ja jahrhundertelange Erfahrung.
Europa neu denken!
Ulrich Beck Das kosmopolitische Empire Weder Staat noch Nation: Die Vielfalt ist die Quelle, aus der Europa schöpfen kann Europa kann und wird weder Staat noch Nation werden. Darum kann es auch nicht mit nationalstaatlichen Begriffen gedacht werden. Der Weg zur Einigkeit Europas führt nicht über seine Einheitlichkeit, sondern über die Anerkennung seiner nationalen Partikularitäten. Gerade seine Vielfalt ist die Quelle, aus der Europa schöpfen kann. Und nur im europäischen Zusammenspiel liegt die Lösung nationaler Probleme.
Giuliano Amato Nach der Sintflut „Weiter so“ ist nach Frankreich und den Niederlanden nicht möglich. „Viel besser“ ein Muss Nach der Ablehnung der Europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden sind nur zwei Optionen sinnvoll: den Prozess in der Hoffnung auf bessere Zeiten einzufrieren oder eine scheinbare „Mission impossible“ zu wagen. Eine Liberalisierung voranzutreiben, den Sinn einer Erweiterung zu erklären, den Mangel an Wachstum und das Demokratiedefizit der EU mutig anzusprechen. Denn das ist keine unerfüllbare Aufgabe, sondern eine Notwendigkeit.
Robert Picht Die mutige Republik Ein dynamisches Polen kann die verkrustete EU zu einer Liberalisierung bewegen Westeuropa erscheint in polnischer Perspektive als zu schwerfällig, bürokratisch und unflexibel. Westeuropäische Schutzmaßnahmen werden als Diskriminierung empfunden. Ein wirklich offener, wettbewerbsfreudiger Markt hingegen wird zur Chance für das Land, das durch harte Sozialreformen westeuropäische Löhne und Steuern unterbietet.
Kiran Klaus Patel Wie Europa seine Bürger verlor Zu Tode gesiegt, in luftige Höhen entwichen: Wer das Abstimmungsverhalten in Frankreich und den Niederlanden verstehen will, muss in die fünfziger Jahre zurückgehen Wer verstehen will, was in Frankreich am 29. Mai und in den Niederlanden am 1. Juni 2005 geschah, muss in die fünfziger Jahre zurückgehen. Gäbe es bei den Bürgern nicht grundlegende Verständnis- und Akzeptanzprobleme gegenüber dem Integrationsprojekt, dann hätte das Ergebnis mehr mit der Frage zu tun gehabt, die es konkret zu entscheiden galt: der Wahl zwischen dem im Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Verfassungsvertrag und dem Vertrag von Nizza von 2000. Der Verfassungsvertrag sollte im Vergleich zum Status quo mehr demokratische Kontrolle, Transparenz und Handlungsfähigkeit bringen. Die Mehrheit der Bürger schien dies wenig zu interessieren – ihr Abstimmungsverhalten ist vielmehr ein Reflex auf 55 Jahre Integrationsgeschichte.
Karl Lamers Die Fundamente tragen noch Wie Europa seine Bürger wieder gewinnen kann und welche Rolle Deutschland dabei spielt Die Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden ist eine Chance für einen Neuanfang. Jetzt muss die Europäische Union auf den alten und festen Fundamenten wieder begründet und klar gestellt werden, welches Europa wir wollen. Das umfasst Reformen, die Fortsetzung der Erweiterung, den Aufbau einer politischen Union des Vertrauens und eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dann wird die EU die Zustimmung ihrer Bürger gewinnen können.
Alexandra Kemmerer Verfassungskitsch ist keine Lösung Die Hochglanz-EU ist am Ende. Nicht aber der Vertrag
Stefan Fröhlich Europas wirtschaftliche Schwäche Die Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie ist mager. Es liegt an den einzelnen Ländern, die Auseinanderentwicklung zwischen Amerika und Europa zu überwinden Die ehrgeizigen Ziele wurden nicht erreicht, deshalb soll eine Straffung des Projekts sich nun auf die Steigerung des Wachstumspotenzials konzentrieren. Reformen sind erforderlich, doch durch die Brüsseler Kommission nur schwer zu diktieren. So liegt es an den Ländern selbst, die Auseinanderentwicklung zwischen Amerika und Europa zu überwinden.
Ulrike Guérot Stell dir vor, es gibt Europa und keiner macht mit Eine persönliche Betrachtung über die ethnozentrische Ignoranz vieler Europäer
Richard Rosecrance Europa gehört die Zukunft Amerika ist altmodisch, Europa modern. Sie brauchen einander Die europäische Strategie der Zusammenschlüsse ist ein Erfolg – daran muss gerade jetzt erinnert werden. Besonders Amerika sollte das Modell Europas studieren, um zukunftsfähig zu bleiben. Denn in einer Welt von Wirtschaftsstaaten zählt militärische Macht zunehmend weniger.
Albrecht Graf von Kalnein „Mittelmacht“ mit Kirchturmpolitik Von wegen Globalisierung: Unter den deutschen Spitzenpolitikern findet Ausland kaum statt
Erich Weede Frieden durch Kapitalismus Unter demokratischen Staaten und bei Freihandel ist die Gefahr eines Krieges gering Wirtschaftliche Freiheit trägt zum Wohlstand bei, Wohlstand zur Demokratisierung. Unter demokratischen Staaten und bei Freihandel ist die Kriegsgefahr gering.
Susanne Gratius Gleiche Ziele, andere Wege Gestalten, bekämpfen oder Allianzen schmieden? Die Präsidenten Chiles, Venezuelas und Brasiliens repräsentieren drei Möglichkeiten, auf die Globalisierung zu reagieren Lateinamerikas „linke“ Präsidenten Ricardo Lagos, Hugo Chávez und Lula da Silva setzen sich für mehr soziale Gerechtigkeit ein, fordern eine andere Globalisierung und beurteilen die Alleingänge der USA kritisch. Dennoch bestehen große Unterschiede zwischen den überzeugten, international anerkannten Demokraten Lagos und Lula und dem Populisten Chávez.
Assaad E. Kattan Arabischer Frühling Arabien ist nicht gleich Islam. Für eine Demokratisierung sind die Christen unerlässlich Die Wahlen im Libanon erinnern daran: Die arabische Welt ist nicht identisch mit dem Islam. Christen spielen eine große Rolle in der arabischen Politik und Kultur. Auf dem Weg zu einem demokratischen Nahen Osten könnte es besonders auf die Christen ankommen. Denn sie stehen für eine moderne Zivilgesellschaft jenseits religiöser Zugehörigkeit.
Peter von Ondarza Türkei und christliches Abendland Was in der Debatte um einen Beitritt vergessen wird: die Geschichte des Christentums „Die europäische Identität besteht vor allem in der gemeinsamen christlich- abendländischen Vergangenheit, und deshalb ist eine Besinnung auf jene sowie ihre Wurzeln und Werte politisch geboten.“ So oder ähnlich wurde sinngemäß im Kontext der Debatte zum EU-Beitritt der Türkei oft argumentiert. In der Flut der Argumente wurde dieser Standpunkt meist kommentarlos hingenommen und kaum auf die Gefahr einer derartigen Rhetorik hingewiesen. Dies soll hier geschehen. Dabei beschränkt sich die Beurteilung auf den Imperativ und seine ausgrenzende Verwendung im Zusammenhang mit dem Türkei-Beitritt. Sie kritisiert hingegen nicht die Kommentare jener, die lediglich feststellend auf die gemeinsame kulturelle christlich-abendländische Vergangenheit des derzeitigen Europas im Allgemeinen oder in anderem Kontext verweisen.
Claus Leggewie Hässliche Feindbilder gesucht Antisemitismus, Antiamerikanismus und Antikapitalismus in der Globalisierungskritik Neu unter den Spielarten des Judenhasses ist nicht, dass sie in Krisenzeiten aus ihrer Latenz heraustreten. Bemerkenswert ist die Symbiose rechter und linker Feindbilder in transnationalen Bewegungen, die sich kritisch mit der Globalisierung auseinander setzen.
Tim B. Müller Das Jahrhundert der Marine Die NATO ist tot, es lebe PACOM: Wie man China bekämpft, um es zum Partner zu machen
BUCHKRITIK von Henning Hoff Eine Chance für Europa? Über den Vermittler Tony Blair und weitere Europa-Rezensionen Seit 1997 wollte Tony Blair die innenpolitische Debatte über „Europa“ für sich entscheiden und zugleich Großbritannien zur gestaltenden Macht in der EU machen – der vielleicht größte Fehlschlag seiner ins neunte Jahr gehenden Amtszeit. Die Krise der EU gibt dem britischen Premierminister die Chance, sich doch noch als europäischer Staatsmann zu bewähren. Wo steht Blair, der „Europäer“? Ein Blick in neue Biographien.
Kolumnen WERKSTATT DEUTSCHLAND von Karl-Rudolf Korte Die Botschaft aus Düsseldorf Von der Lösungskompetenz des politischen Betriebs sind nur Minderheiten überzeugt
ÖKONOMIE von Helmut Reisen Schwarzmalers Albtraum Afrikas Wirtschaft wächst. Aber es braucht den Freihandel mit den Industrieländern
KULTUR von Matthias Greffrath Luftgitarren für Europa Ach, gäbe es nur eine Öffentlichkeit, in der über das gestritten wird, was alle angeht!
TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Gen-Schlachten Stammzellforschung, Klonen – und wo bleibt die Ethik? Eine wahrhaft epische Frage