In der sonnendurchfluteten Berliner Wannsee-Villa der American Academy saßen kürzlich zwei amerikanische „Liberals“ mit einigen Europäern beim Lunch und stritten wie die Kesselflicker. Der eine, Pro-Bush, warf dem anderen völliges Desinteresse am Tod von Hunderttausenden von Menschen in der Welt vor, die durch amerikanischen Einsatz für „Freedom“ und „Democracy“ gerettet werden könnten; der andere, Anti-Bush, nannte seinen Kontrahenten einen nachgerade gemeingefährlichen, fundamentalistischen Ideologen und Kriegs-Apologeten.
Die Europäer am Tisch zeigten keine rechte Neigung, sich am hitzigen Disput zu beteiligen. Die Zeit der linken Ideologiegefechte liegt hierzulande mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. Und der außenpolitische Idealismus des George W. Bush, mit einer flammenden „Freedom“- Inaugurationsrede zu Beginn seiner zweiten Amtszeit verkündet, hat in europäischen Augen eine hässliche Kehrseite, die den Namen Guantánamo und Abu Ghraib trägt.
„Von ‚Freiheit‘ zu reden“, mutmaßt in dieser IP der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, „gilt in Europa als eine Narrenfreiheit, an der man – wie früher am Lachen – die Naiven und ideologisch Verblendeten erkennt.“ Ist das so? Haben sich der europäische und der amerikanische Freiheitsbegriff inzwischen so weit voneinander entfernt, dass sich hier ein weiterer „Haarriss in der westlichen Kultur“ auftut? Die IP hat zwei amerikanische Neokonservative gebeten, für dieses Heft einen Beitrag zu schreiben: Tod Lindberg, Herausgeber der Policy Review, zeigt, in welcher großen amerikanischen Tradition George W. Bush steht. Und Nile Gardiner von der Heritage Foundation porträtiert den hierzulande meistgeschmähten „Neocon“ der Bush-Regierung, Paul Wolfowitz. Am 1. Juni ist Wolfowitz Chef der Weltbank geworden.
Schließlich dokumentieren wir ein Gespräch über „Freiheit und Religion“, das der iranische Religionsphilosoph Abdolkarim Sorusch und der deutsche Verfassungsrichter a.D. Dieter Grimm auf Anregung der IP im Berliner Wissenschaftskolleg führten.
Egon Bahr Die großen Fragen des 21. Jahrhunderts Wird die Menschheit ihre Uraltinstinkte so weit beherrschen, dass sie den gigantischen Zuwachs an Wissen, den sie tagtäglich gewinnt, beherrschbar gestaltet? Werden die Politiker fähig sein, die Dimensionen ihrer Entscheidungen zu erkennen, damit die Selbstkontrolle über den Globus nicht verloren geht? Wie lebt die Welt mit einer Supermacht? Wird das grandiose Projekt EU scheitern? Nachdenkliche Betrachtungen am Beginn eines neuen Jahrhunderts unserer gemeinsamen Geschichte.
Tod Lindberg Woran wir alle glauben Amerikas Präsident entwirft die „Vorwärtsstrategie der Freiheit“ und will die ganze Welt von Tyrannen befreien. Ist das nicht eine sympathische, aber gänzlich unrealistische Vision? Und ist uns seine von Gottesbezügen durchdrungene Sprache nicht fremd? Doch ein genauer Blick zeigt, dass Bush in einer großen amerikanischen Tradition steht, der es auf Gott gar nicht ankommt. Wer an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte glaubt, teilt diese Werte. Es ist an der Zeit, auch zu handeln.
Hans Ulrich Gumbrecht Ein Haarriss in der westlichen Kultur Für Philosophen von Locke bis Hobbes war Freiheit die Fähigkeit, „entsprechend unserem freien Willen zu handeln oder nicht zu handeln“. Rousseau hingegen verstand sie als „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst vorgeschrieben hat“. Wie aber wird Freiheit heute in den westlichen Ländern gedacht und gelebt? Machen sich Unterschiede im europäischen und amerikanischen Freiheitsbegriff an der Differenz zwischen Rousseau und Locke fest?
Alan Posener In dubio pro libertate? Wie sähe eine deutsche Außenpolitik aus, die tatsächlich „im Zweifel für die Freiheit“ eintreten würde? Wie die derzeitige mit Sicherheit nicht
Amartya Sen Reif für die Freiheit Um Entwicklung und Wachstum zu fördern, beschränken sich Technokraten oft nur auf wirtschaftliche Initiativen. Politische Anreize dagegen werden häufig ignoriert, und der Wert der Freiheit wird unterschätzt. Doch nur sie ist Garant für dauerhaftes Wachstum und sollte deshalb im Zentrum einer vernünftigen Entwicklungspolitik stehen.
Nile Gardiner Fuchs im Wolfspelz Er gilt als führender Kopf einer neokonservativen Elite, die dem Rest der Welt amerikanische Werte aufzudrängen versucht. Als stellvertretender Verteidigungsminister war Paul Wolfowitz Chefarchitekt des unilateralen Irak-Krieges. Dass ausgerechnet er, einer der weltweit umstrittensten amerikanischen Politiker, jetzt Präsident der multilateralen Weltbank wurde, stieß auf heftige Kritik. Dabei ist Paul Wolfowitz ein brillanter Denker. Er lehnt die Idee eines Konflikts der Kulturen strikt ab und glaubt fest, dass ein demokratischer Naher Osten möglich ist.
GESPRÄCH mit Abdolkarim Sorusch und Dieter Grimm »Das ist die Trennungslinie« Im Berliner Wissenschaftskolleg trafen sich der iranische Religionsphilosoph und der deutsche Verfassungsrichter a.D. zu einem Disput über „Freiheit und Religion“
Koordinaten deutscher Außenpolitik 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist eine Grundsatzdebatte über die künftige deutsche Außenpolitik wieder einmal überfällig. Die IP bat fünf junge Politiker von SPD, Bündnis90/Grünen, CDU, CSU und FDP um ihren Beitrag.
Karl Feldmeyer Die neue Bundeswehr Vor 50 Jahren wurde die Bundeswehr gegründet. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit hat sie in den letzten beiden Jahrzehnten einen rasanten Wandel durchlebt. An die Stelle der verfassungsgemäßen Aufgabe der Landesverteidigung sind Friedenseinsätze im Auftrag der UN getreten. Doch der derzeitige Zustand trägt den Charakter des Vorläufigen.
Wolfgang Münchau Heuschreckenplage Sind die Deutschen wieder einmal dabei durchzuknallen? Wie das Ausland die neueste deutsche Variante der Kapitalismuskritik sieht
Rolf Hosfeld Warten auf politisches Tauwetter Der Völkermord an den christlichen Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs forderte mehr als eine Million Opfer. Trotz des internationalen Drucks bestreiten die türkischen Behörden bis heute eine systematische Verfolgung und Vernichtung. Nun verlangt auch der Deutsche Bundestag von Ankara eine Aufarbeitung der Geschichte und bekennt sich zur Mitverantwortung Deutschlands.
Berna Pekesen Missverstandener Druck von außen Die ideologischen und politischen Konstellationen während des Ersten Weltkriegs müssen zur Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern herangezogen werden: Er war nicht, wie Hosfeld suggeriert, das Ergebnis eines seit Jahrzehnten gehegten, vorsätzlichen Vernichtungswillens.
John Hulsman Staaten bauen mit Lawrence von Arabien Ob Kosovo, Bosnien oder Irak: Erfolge beim Aufbau gescheiterter Staaten sind nicht zu verzeichnen. Zu wenig nimmt der Westen Rücksicht auf lokale Gegebenheiten. Dabei existiert ein hervorragendes Regelbuch für den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens: Lawrence von Arabiens „Siebenundzwanzig Artikel“. Empfohlen werden profunde Kenntnisse der lokalen Kulturen und ein gerüttelt Maß Bescheidenheit.
Patrick Keller Nach den Niederlagen Die amerikanischen Demokraten haben schon bessere Zeiten gesehen. George W. Bush hat ihnen eine vernichtende Niederlage beigebracht. Seitdem ringen die Flügel der Partei um die neue Linie. Die Linken um Howard Dean wollen sich als Oppositionspartei im klaren Gegensatz zu den Republikanern profilieren. Die New Democrats dagegen suchen die Mitte und den Kampf gegen den Terrorismus, doch ihnen fehlt ein Bill Clinton.
Eckard Minx und Harald Preissler Zukunft denken und gestalten Zukunftsplanung und -gestaltung sollten als diskursiver Prozess organisiert werden. Dabei geht es nicht um altes oder neues Denken, sondern erstens um die Abkehr von Schlagwortgefechten und die gedankliche Vertiefung der Diskurse, zweitens die Akzeptanz von Alternativen sowie drittens den Mut zu sozialutopischen Ideen.
Tim B. Müller Die Theorie und Praxis der Freiheit Zwischen Skepsis und Leidenschaft: Die amerikanische Linke streitet über das liberale Projekt; Fouad Ajami und Bernard Lewis erklären, warum die Araber Demokraten sind
BUCHKRITIK von Jörg Lau und Heinrich Vogel Idealismus und Interesse Natan Sharansky und Fareed Zakaria haben die wesentlichen Bücher zum Thema Freiheit geschrieben; Heinrich Vogel rezensiert „Amerika, Gott und die Welt“ von Josef Braml
Kolumnen WERKSTATT DEUTSCHLAND von Franz Walter Die Stunde des Trüffelschweins Deutschland könnte ein wenig Charisma in der Politik als Antidepressivum gut gebrauchen
ÖKONOMIE von Norbert Walter Zurück zum Protektionismus? Der Griff in die Mottenkiste wird Europas wirtschaftliche Probleme garantiert nicht lösen
KULTUR von Lorenz Jäger Glasklare Rationalität Wer die Vorgeschichte der neuen Völkerrechtsformen studieren will, muss Carl Schmitt lesen
TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Nach den Sternen greifen Vom Klettverschluss bis zum Strichcode: Was die Welt der Weltraumforschung verdankt