Weltwirtschafts-Unordnung
Dies sind aufgewühlte Zeiten. Es sei schwer, urteilte der Economist nach dem Kollaps der Doha-Runde am 24. Juli, sich angesichts der Nahost-Krise, der hohen Ölpreise und der nahenden Klimakatastrophe auch noch Sorgen über gescheiterte Handelsgespräche zu machen. Dennoch signalisiere das Scheitern „eine Niederlage des Gemeinwohls gegenüber einer Politik der Spezialinteressen“; und wenn die Runde endgültig scheitere, „wird jedermann ärmer sein, vielleicht sogar dramatisch ärmer“. Georg Koopmann und Thomas Straubhaar vom Hamburgischen Weltwirtschafts-Archiv (HWWA) erläutern, warum die Stärkung des WTORegimes unverzichtbar ist, um die wachsende Ungleichheit zwischen den Handelspartnern zu verringern und die Globalisierung zu gestalten. Mit der Frage der „Gerechtigkeit“ in der Globalisierung befassen sich der Politökonom Birger P. Priddat und der DGB-Sozialwissenschaftler Jürgen Eckl. Thorsten Benner und Martin Witte beleuchten die Rolle transnationaler Konzerne in Entwicklungsländern. Der Vorstandsvorsitzende der Deutsche Post World Net, Klaus Zumwinkel, schildert, wie sein global tätiges Unternehmen die Maxime des „wert- und werteorientierten Handelns“ praktisch verwirklicht. Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, warnt vor der Degeneration der internationalen Strukturen zum Recht des wirtschaftlich bzw. militärisch Stärkeren. Und eine Umfrage des forsa-Instituts im Auftrag der IP zeigt, dass immerhin 28 Prozent der Deutschen sich von einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung mit faireren Handelsbedingungen einen besseren Lebensstandard auch in Deutschland versprechen. Aus aktuellem Anlass hat diese IP ein weiteres Schwerpunktthema: Der Libanon-Krieg hat die politische Landkarte des Nahen Ostens verändert. Deutschland wird sich an der UN-Friedensmission beteiligen, ein historischer, von Israel ausdrücklich erwünschter Schritt. Deshalb analysieren sieben Wissenschaftler/innen und Publizisten aus Deutschland, Israel, dem Libanon und den Vereinigten Staaten die neue Lage im Nahen Osten. Sie bewerten die bisherigen Politikansätze und machen Vorschläge, was jetzt zu tun ist, um den Konflikt zu lösen (ab Seite 62).
Sabine Rosenbladt, Chefredakteurin
Inhalt
Weltwirtschafts-Unordnung 9 Georg Koopmann und Thomas Straubhaar Globalisierung braucht starke Institutionen Die Liberalisierung des Welthandels gerät durch die Schwäche der WTO ins Stocken. Grund genug, das multilaterale Regelwerk gegen nationale Lobby-Interessen zu verteidigen
Seit Jahrzehnten ringt die Weltwirtschaft darum, Grenzen zu öffnen, Zölle abzubauen, Dumping zu stoppen. Doch nach einer Phase erfolgreicher Liberalisierung droht nun eine Erosion des multilateralen Regelwerks und die Renaissance bilateraler Abkommen. Dabei ist die Stärkung des WTORegimes unverzichtbar – um die wachsende Ungleichheit zwischen den Handelspartnern auszugleichen, den institutionellen Wettbewerb zwischen den Staaten zu zähmen und die Globalisierung zu gestalten.
16 INTERVIEW mit Peter Mandelson »Europa ist instinktiv multilateral« Der EU-Handelskommissar über die Doha-Runde und die Glaubwürdigkeit der WTO Am 24. Juli suspensierte Pascal Lamy, Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), nach einer weiteren ergebnislosen Sitzung der Handelsminister in Genf die Doha - Verhandlungen. Nachdem sie sich monatelang zäh dahingeschleppt hatte, ist damit die Runde, so sah es zum Beispiel Indiens Handelsminister Kamal Nath, in einem Stadium „zwischen Intensivstation und Krematorium“ angelangt. EU-Kommissar Peter Mandelson, der für die Europäer verhandelt hatte, beurteilt in dieser IP die Folgen dieser Entwicklung.
19 Claudia Schmucker Auf dem Vormarsch Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien gewinnen an Einfluss bei der Doha-Runde, im IWF und bei G-8-Gipfeln – im Gegenzug müssen sie auch Verantwortung übernehmen China, Indien und Brasilien sind zu wichtigen globalen Akteuren geworden und fordern mehr Teilhabe an den internationalen Entscheidungsprozessen: Ohne sie läuft nichts in der Doha-Runde, im IWF wollen sie mehr Einfluss und auch an den G-8-Gipfeln nehmen sie teil. Nun müssen sie aber auch mehr Verantwortung übernehmen.
24 Birger P. Priddat Weltordnung durch Gerechtigkeit? Soll globale Gerechtigkeit durch Umverteilung erzielt werden, haben die Geber auch ein Anrecht mitzubestimmen, wie das institutionelle Gefüge der Nehmerländer aussieht Um die riesige Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt zu mildern, wird oft globale Umverteilung gefordert. Doch wie die mangelnden Ergebnisse von fünf Jahrzehnten Entwicklungspolitik zeigen, lässt sich globale Gerechtigkeit schwer durchsetzen. Unter welchen Bedingungen wären die Erfolgschancen höher? Einige ketzerische Überlegungen münden hier in einer Theorieskizze, die mögliche neue Wege aufzeigt.
30 Jürgen Eckl Gewerkschaftspolitik in Zeiten der Globalisierung Der internationale Gewerkschaftsbund will seine Rolle auf der Weltbühne neu definieren – und weltweit bindende Konventionen für die globalisierte Wirtschaft durchsetzen Der herrschenden Weltwirtschafts-Unordung das Ungleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Zielen und sozialen Interessen auszutreiben: Das ist das erklärte Ziel des sich gerade wieder konstituierenden Internationalen Gewerkschaftsbundes. Nach Jahrzehnten ideologischer Grabenkämpfe während des Kalten Krieges wollen jetzt wieder Nord- und Süd-, Ost- und Westgewerkschaften gemeinsam um faire Arbeitsnormen kämpfen – weltweit, für alle gleichermaßen. Geht das überhaupt?
39 Thorsten Benner und Jan Martin Witte Keine Macht den Multis? Brennpunkt Entwicklungsländer: Multinationale Unternehmen müssen durch feste internatio¬nale Regeln dazu gebracht werden, nachhaltig zu wirtschaften Menschenrechtsverletzungen, Hungerlöhne, Umweltzerstörung: Je dichter das Netz der Global Player auch in Entwicklungsländern, umso schärfer die Kritik an deren Geschäftsgebaren. Doch führen weder pauschale Abrechnung noch unternehmerische Alibiverpflichtungen weiter – freiwillige Initiativen müssen auf ein Fundament fester internationaler Regeln gestellt werden, die Unternehmen darin bestärken, nachhaltig zu handeln.
46 Klaus Zumwinkel Verantwortlich handeln Von transnationalen Unternehmen wird heute erwartet, sozialverträglich und weltorientiert zu agieren. In der Entwicklungspolitik tun sie das mitunter effektiver als einzelne Staaten. Wert- und werteorientiert zugleich zu handeln muss heute Ziel eines global tätigen Unternehmens sein, so der Vorstandsvorsitzende von Deutsche Post World Net. Ein wichtiger Bereich bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch den Konzern sind Hilfseinsätze, die mit professioneller Logistik viel effektiver gestaltet werden können.
52 Frank Umbach Die neuen Herren der Welt Um nicht in politische Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferanten zu geraten, muss die EU ihren Energiebedarf diversifizieren. Nationale energiepolitische Alleingänge sind der falsche Weg Der steigende Öl- und Gaspreis hat geopolitische Auswirkungen: Er verändert die Position der Ressourcenstaaten gegenüber Abnehmerländern, was wiederum Folgen für die weltweite Ordnungspolitik hat. Dieser Entwicklung muss auch Deutschland dringend Rechnung tragen. Nationale Energiepolitik allein reicht zukünftig nicht mehr aus. Notwendig ist eine gemeinsame europäische Energie(außen)politik, in der die EU ihren Energiemix und ihre Importe stärker diversifiziert und vor allem koordiniert.
Internationale Politik 62 NAHOST I Gebt dem Nationalstaat eine Chance! von Volker Perthes Eine Gesamtlösung der Probleme des Nahen Ostens wird es nicht geben – gefordert sind subregionale Sicherheitsansätze, um die betroffenen Nationalstaaten einzubinden Sicherheit ist unteilbar: So lautete das Credo fast aller Parteien des Nahen Ostens. Liegt Israel mit den Palästinensern im Streit, müssen auch die Golf-Staaten an den Tisch. Doch der Krieg im Libanon, Aufstände im Irak und konfessionell-religiöse Spannungen in der Region zeigen: Nur eine subregionale, an nationalen Interessen ausgerichtete Konferenz bietet Aussicht auf Frieden – auch für den arabisch-israelischen Konflikt.
68 NAHOST II Aufgang des schiitischen Halbmonds von Asher Susser Gefahr droht Israel heute nicht mehr von allen arabischen Staaten – den wachsenden Einfluss der Schiiten vom Iran bis zum Libanon sehen manche Länder der Region mit Unbehagen Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ist nicht bloß die nächste Runde im klassischen arabisch-israelischen Konflikt. Vielmehr sind die sunnitischen arabischen Staaten, die ehemaligen Hauptfeinde Israels, zum größten Teil passive Beobachter. Mehr noch: Sie wünschen sich insgeheim, dass Israel gewinnt und den militanten schiitischen Islam zurückdrängt, der durch die Iran-Hisbollah-Allianz repräsentiert wird und seinen Einfluss auf die gesamte Region ausdehnen will.
75 NAHOST III Die wahren Zusammenhänge erkennen von Georges Corm Europa verteufelt Hisbollah und Hamas – und verdrängt seine eigene koloniale Schuld Der Westen misst aus der Perspektive dieses Autors mit zweierlei Maß: Israel darf alles, und alle arabischen Befreiungsbewegungen sind Terrororganisationen. Diese vereinfachte Sichtweise muss korrigiert werden, wollen wir eine dauerhafte Lösung des Nahost-Konflikts. Dabei muss Europa endlich Verantwortung übernehmen, denn seine Geschichte lastet bis heute schwer auf der Region.
84 NAHOST IV Demokratie? Vielleicht später von Richard Herzinger Die US-Außenpolitik unter Bush ist ehrenvoll gescheitert. Ihre Grundannahmen bleiben zwar richtig, haben aber im Licht der jüngsten Ereignisse keine Chance auf Umsetzung Die amerikanische Außenpolitik im Nahen Osten steht vor den Scherben ihrer hehren Ansprüche. Die unvermeidliche weitere Präsenz von USTruppen im Irak bindet Kräfte, die zur Lösung des Libanon-Konflikts und der Iran-Krise fehlen. Europäische Häme über das Scheitern der neokonservativen Strategie ist so lange fehl am Platz, wie keine besseren Konzepte zur Befriedung der Region vorliegen. Doch die sind nirgends in Sicht.
91 NAHOST V Die USA und der Nahe Osten von Robert J. Lieber Rückschläge bedeuten nicht, dass Washington den Kampf aufgeben sollte – die Nahost-Politik der USA ist trotz allem auf dem richtigen Weg Ist Washingtons Politik im Nahen Osten katastrophal gescheitert? Führen die Neocons und die „Israel-Lobby“ die Regierung von Präsident George W. Bush am Nasenring von einem Fehlschlag zum nächsten? Nein, sagt der bedeutende US-Politologe Robert Lieber: Bedrohungsanalyse, Logik und Strategie der Nahost-Politik unter Bush jr. sind nach wie vor prinzipiell richtig. Der Kampf gegen den Dschihadismus ist eine Langzeitaufgabe.
98 NAHOST VI Lernen, dem Frieden zu vertrauen von Ron Pundak Nicht Rache und Gewalt, sondern Dialog und Verhandlungen sind der einzige Weg zur Lösung des arabisch-israelischen Konflikts Der israelisch-arabische Konflikt hat die Welt erneut in zwei zutiefst verfeindete Lager gespalten: auf der einen Seite „wir“, der Westen, auf der anderen Seite „sie“, die Islamisten. Ohne die reale Bedrohung Israels in Frage zu stellen: Wir werden mit unseren Nachbarn erst dann zusammen leben können, wenn wir wieder bedingungslos miteinander reden – mit allen. Für Frieden mit Syrien muss Israel auf die Golan-Höhen verzichten.
102 NAHOST VII Wie weiter nach der Waffenruhe? von Muriel Asseburg Bedingungen einer langfristigen Stabilisierung des Libanon unter „UNIFIL plus“ Das Ziel ist klar, der Weg dahin nicht: die langfristige Stabilisierung des Libanon und der Nahost-Region. Ob der zerbrechliche Waffenstillstand von Dauer ist, hängt nicht nur von Mandat und Legitimität der künftigen Friedenstruppe ab. Ohne Einbindung in einen regionalen politischen Prozess wird ihr Einsatz scheitern – der Anfang wäre eine internationale Friedenskonferenz nach dem Muster von Madrid.
110 SÜDAMERIKA Eine Frage der Souveränität von Christian E. Rieck Verstaatlichung, Öldiplomatie und Uranhandel: Lateinamerika geht eigene Wege Lateinamerika entwickelt ein neues Selbstbewusstsein: Starke Akteure wie Brasilien und Venezuela drängen auf regionale Selbständigkeit und suchen die rhetorische Konfrontation mit den USA. In der praktischen Kooperation, vor allem im Energiebereich, bleibt man aufeinander angewiesen; es eröffnen sich jedoch auch neue Chancen für die EU.
118 KASPISCHES MEER Schwarzmeer-Kooperation von Norbert Baas Die Schwarzmeer-Anrainer bieten nicht nur Öl und Gas – auch politisch und kulturell kann die EU von einer engeren Zusammenarbeit profitieren Die Anrainer des Schwarzen Meeres sind nicht nur Europas Öl- und Gaslieferanten, und geopolitisch geht es dort um mehr als strategische Pipeline-Trassen: Die Europäische Union sollte ihre regionenbezogenen Aktionspläne stärker vernetzen, damit allmählich eine europäische „Schwarz meer-Dimension“ entsteht. Dann würde auch die EU von dieser Nachbarschaft politisch, kulturell und wirtschaftlich profitieren.
124 NAHOSTBILDER Abenteurer oder Widerstand? von Jochen Müller Arabische Medien sind sich in ihrer Bewertung der Hisbollah keinesfalls einig 128 BUCHKRITIK Zunehmende Krisenverflechtung von Maximilian Terhalle und Henning Hoff Ein Standardwerk zum Nahen Osten und erneutes Unbehagen über Bush und Blair
Kolumnen 60 ÖKONOMIE von Norbert Walter Sehnsucht nach Ordnung Die veränderte politische und ökonomische Realität verlangt nach entsprechender Anpassung der internationalen Institutionen 82 WERKSTATT DEUTSCHLAND von Karl-Rudolf Korte Spürsinn für Relevanzen Der Schlüssel der Parteien zu den Wählerstimmen heißt Vertrauen. Das ist nur bei einem Mindestmaß an Kontinuität, Engagement und Verlässlichkeit möglich 108 KULTUR von Mathias Greffrath Der Ring, der nie gelungen Christian Thielemann dirigierte Tankred Dorsts Bayreuther „Ring“-Inszenierung zu Tode 122 TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Futterwissen (Teil 1): Selbsterkennntis light Der moderne Mensch will sich gesund, schön und glücklich essen. Nahrungsmittel werden heute als Heilsversprechen gehandelt Service 136 Veranstaltungskalender 138 Nachwuchsforum 140 Dokumentation
4 Rückschau / IP-Frage 142 Impressum 144 Vorschau