„Stagger on, weary Titan“ hieß eine Kolumne von Timothy Garton Ash im August im Guardian. Der Brite verglich darin das Washington des Jahres 2005 – „imperiale Gravitas und massive Selbstüberschätzung, Hyperpower, Top Dog“ – mit dem London des Jahres 1905, der arroganten Kapitale eines untergehenden Imperiums. Und er zitierte den britischen Kolonialsekretär Joseph Chamberlain, der schon 1902 bemerkt hatte: „Der müde Titan wankt unter der zu gewaltigen Weltkugel seiner Bestimmung.“ Was für das britische Empire der Burenkrieg gewesen sei, argumentiert Ash, sei für Amerika der Irak-Krieg: ein falsch geplantes, blutiges und überaus teures Abenteuer, das „imperiale Überdehnung“ erzeuge und im Verein mit den sozioökonomischen Problemen zu Hause und der wachsenden Wirtschaftsmacht Chinas und Indiens der Hypermacht schwer zusetze. Das, meint Ash, sei allerdings für die Europäer „no time for schadenfreude“; Not tue kritische Solidarität mit jenen „wenigen weitsichtigen Leuten in Washington“, die jetzt darangingen, eine Langzeitstrategie für eine neue Weltordnung zu entwerfen, welche den liberalen Demokratien das Überleben garantiere. Natürlich erntete Ash Widerspruch. Der amerikanische Politologe John Ikenberry warnte vor „Historikern, die falsche Analogien in die Welt setzen“. Er belegte mit vielen Beispielen, dass die Vereinigten Staaten heute durchaus nicht wankten, sondern im Gegenteil „im Zenit ihrer Macht“ stünden. Das Problem der USA, so Ikenberry, sei keineswegs „imperial overstretch“, sondern „just awful leadership“. Guantánamo, Folter, CIA-Flüge, Verschleppungen, ruppiges Verhalten in internationalen Institutionen: Es gibt vieles, was die Europäer derzeit an der amerikanischen Politik zutiefst verstört, ja abstößt. Die Autoren dieser IP-Ausgabe setzen sich mit dem Zustand des transatlantischen Titanen auseinander. Sie analysieren seine Außenpolitik, sie streiten über die „Bush-Doktrin“, sie haben US-Soldaten im Irak beobachtet, sie untersuchen die „amerikanischen Verhältnisse“. Und einer lenkt dann den Blick zurück: Das eigentliche Imperium, so Alan Posener, sei heute Europa. Es wisse das nur nicht.
Amerika – der müde Titan? Peter Rudolf Die Rückkehr des liberalen Hegemon Viel wird debattiert über eine „imperiale Überdehnung“ der USA. Solche Warnungen sind unangebracht. Aber wird sich Amerika auf eine wohlwollende Hegemonie besinnen? Viel war in den letzten Jahren die Rede vom amerikanischen „Imperium“, amerikanischer Dominanz, einer imperialen Außenpolitik. Der Irak-Krieg habe die imperiale Überdehnung offenkundig gemacht, so heißt es jetzt, der „Titan“ sei müde geworden. Als Folge des „Irak-Syndroms“ könnten die USA sogar dem „isolationistischen Impuls“ nachgeben. Eingängige Metaphern und Analogien dieser Art spielen im Diskurs über die amerikanische Außenpolitik eine wichtige Rolle und prägen die Wahrnehmung. Aber sie verstellen den Blick auf deren tatsächliche Grundlinien und auf den Kern der gegenwärtigen Selbstverständnis-Debatte: Werden sich die USA wieder auf die Grundlagen und die Handlungslogik liberaler „wohlwollender“ Hegemonie besinnen?
Michael Kimmage Zum Sterben zu jung Wenn sich die Republikaner von ihnen abwenden, könnten die Neocons eine neue Heimat bei den Demokraten finden – die gleichzeitig ihre alte Heimat sind Der Präsident wird immer unpopulärer, der Krieg im Irak ist ein Desaster. Doch es ist zu früh, das Ende der neokonservativen Ideengeber und Befürworter des Krieges auszurufen. Einiges deutet darauf hin, dass die Neocons die Attacken von rechts überleben, sich von den Republikanern trennen und in den Schoß der Demokraten zurückkehren werden.
Paul Berman, Francis Fukuyama, Victor Davis Hanson, Robert J. Lieber Was taugt die Bush-Doktrin? Verkennt sie die Ursachen des Terrors, ist sie nur irreführend oder gar ein voller Erfolg? Eine Debatte über die sicherheitspolitische Strategie der USA Als Reaktion auf die Attentate vom 11. September 2001 entwickelte die US-Regierung unter George W. Bush ein völlig neues Konzept der nationalen Sicherheit. Die „Bush-Doktrin“ betont zum einen die Notwendigkeit präventiver Militärschläge. Zum anderen sollen Gesellschaften, die als Brutstätten des radikalen Islamismus gelten, durch die aktive Förderung von Freiheit und Demokratie transformiert werden. Ob diese umfassende Neudefinition der Außenpolitik realisierbar ist und ob der Irak-Krieg in diesem Zusammenhang gerechtfertigt war, löste heftige Kontroversen aus. Ebenso heftig wird darüber debattiert, welchen Feinden die USA und der Westen gegenüberstehen, mit welchen spezifischen Maßnahmen ihnen die Bush-Regierung begegnen kann; wie leistungsfähig und durchhaltewillig die USA sind; wie die Beziehungen zu den traditionellen Verbündeten gestaltet werden sollen und wie es um die langfristigen Ziele und die moralische Glaubwürdigkeit der US-Außenpolitik steht. Das amerikanische Magazin Commentary bat anlässlich seines 60-jährigen Bestehens prominente Autoren, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. IP stellt vier Beiträge vor.
Josef Joffe Der entfesselte Gulliver Jetzt könnten die USA als einzige Supermacht die Welt nach ihrem Vorbild formen: demokratisch. Aber will Mr. Big, wie er kann? Auch in einer unipolaren Welt trägt er Verantwortung Demokratisierung ist kein neues Konzept amerikanischer Außenpolitik. Seit ihrer Gründung lag es im nationalen Interesse der USA, die Welt lieber nach dem eigenen Vorbild zu einem Verbund demokratischer Staaten zu gestalten, als sich territorialen Besitz anzueignen. Doch nicht erst seit dem 11. September, sondern seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion steht den USA die Möglichkeit zur Verfügung, dieses Ziel rücksichtslos zu verfolgen. Rücksichtslos? Die Politik der zweiten Amtszeit George W. Bushs zeigt: Man beugt sich den Realitäten, Multilateralismus ist kein Schimpfwort mehr, Diplomatie ersetzt Gewalt. Dem Krieg gegen den Terror wird sich Mr. Big nicht entziehen können oder wollen. Aber der Verantwortung einer Supermacht für den Rest der Welt auch nicht.
Christoph Reuter Zwischen My Lai und Marshall-Plan Sie wollen nur die „bad boys“ kriegen - und produzieren dabei täglich mehr Feinde. Warum die US-Armee im Irak in einem unlösbaren Grundkonflikt steckt. Eine Reportage Gigantische Kosten, enormer Truppeneinsatz – und dennoch sieht die US-Armee täglich mehr wie der Verlierer des Irak-Kriegs aus. Was läuft falsch? Christoph Reuter hat als „embedded“ Reporter bei den amerikanischen wie den britischen Verbänden den Kriegsalltag erlebt. Er beschreibt, dass die Amerikaner sich täglich neue Feinde machen, die Briten dagegen nicht. Aber ein Erfolgsrezept haben sie auch nicht.
William Bader Wege in den Krieg Roosevelt und Johnson haben George W. Bush vorgemacht, wie man mit amtlichen Lügen den Kongress entmachtet und das Mandat zur Kriegsführung erhält. Die Väter der amerikanischen Verfassung haben die Entscheidung über Krieg und Frieden in die Hände des Kongresses gelegt. Doch die Exekutive hat diese Zuständigkeit immer weiter ausgehöhlt. Die Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson machten vor, wie man mit amtlichen Lügen das Mandat zur Kriegsführung erhält –und George W. Bush erwies sich als ihr gelehriger Schüler. Eine nationale Debatte über die schleichende Entmachtung der Legislative ist überfällig.
Olaf Gersemann Der verkannte Titan Die US-Wirtschaft hält man hierzulande für einen Cowboy-Kapitalismus von „McJobs“ und „Hire and Fire“: Über das Klischee von den „amerikanischen Verhältnissen“ „Amerikanische Verhältnisse“ gelten hierzulande als Synonym für eine Wirtschaftsform, die wir dezidiert nicht wollen: krasse Kluft zwischen Arm und Reich, Hire-and-Fire-Arbeitsmarkt, „McJobs“ für die „Working Poor“ – und auch noch massive Staatsschulden. Ein genauerer Blick auf diese Verhältnisse zeigt allerdings, dass eher Klischees als Fakten das negative Bild der Europäer von Amerikas Wirtschaft bestimmen.
Alan Posener Empire Europa Was ist schlecht an Imperien? Sie waren kulturelle Schmelztiegel und etablierten globale Rechtsnormen. Nur übernimmt nicht Amerika, sondern Europa die vakante Rolle Das Imperium Romanum war kultureller Schmelztiegel, das British Empire etablierte globale Rechtsnormen. Und der Nationalstaat erwies sich keineswegs als höhere Entwicklungsstufe. Was wäre so schlecht an einem neuen Imperium? Nicht viel. Ein Imperium Americanum aber wird es nicht geben. Ohne es recht zu bemerken, schlüpft Europa in die vakante Rolle.
Internationale Politik EUROPA Der Countdown läuft von Ulrike Guérot Wohin führt Europas Weg? Dringend gesucht ist eine Vision für das 21. Jahrhundert Spätestens wenn Deutschland im ersten Halbjahr 2007 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, muss klar sein, wohin der gemeinsame Weg die Europäer führt: ins Abseits weltpolitischer Bedeutungslosigkeit oder in eine Zukunft globaler Mit-Gestaltungsmacht im Interesse europäischer Werte. Die Weichen dafür müssen jetzt gestellt werden. Europas Aufgabe heißt mutige Projektion, nicht ewige Nabelschau.
POLEN Brüchige Fundamente, neue Chancen von Basil Kerski Der Ton täuscht. So schnell werden sich Deutschland und Polen nicht voneinander entfernen Die Wahlen in Polen und Deutschland sorgten beidseits der Oder-Neiße für Unruhe: In Warschau missfiel die weitere Regierungsbeteiligung der ungeliebten Schröder-SPD, Berlin ärgerte sich über deutschfeindliche Töne der neuen polnischen Staatsführung. Doch im politischen Alltag wird wenig so heiß gegessen, wie es im Wahlkampf gekocht wurde.
TRANSATLANTISCHE BEZIEHUNGEN I Der Rubikon ist überschritten von Stephen F. Szabo Good bye, deutsch-amerikanische Freundschaft. Willkommen, Interessenpolitik! Die Jahre unter Schröder stellten eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik dar: Die Ära eines besonderen deutsch-amerikanischen Verhältnisses ist endgültig vorbei. Anstatt zu versuchen, ein neues Bündnis zu schmieden, ist es nun an der Zeit, sich über gemeinsame Interessen zu verständigen. Doch auch bei der Regierung Merkel fällt es schwer, sich große neue Projekte vorzustellen, die Washington und Berlin wieder enger zusammenbringen könnten.
TRANSATLANTISCHE BEZIEHUNGEN II Atlantische Klimaverbesserung von Helga Haftendorn Doch der Spielraum bleibt begrenzt. Denn die USA brauchen Europa nicht mehr dringend
NATO Für eine neue Streitkultur von Michael Rühle Als Forum für den transatlantischen Dialog ist die NATO nicht zu unterschätzen. Ein Kommentar
RÜSTUNG Ziel: klar; Weg: holprig von Ralph Crosby Die europäisch-amerikanische Zusammenarbeit stockt, die Technologielücke wächst. Seit mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der gemeinsame Feind verloren ging, tun sich Amerikaner und Europäer schwer bei der einst so erfolgreichen Kooperation auf dem Feld der Rüstungsindustrie. Nach wie vor jedoch spricht vieles für enge Zusammenarbeit – trotz, oder gerade wegen der wachsenden Technologielücke zwischen den Partnern.
INFORMATIONSGESELLSCHAFT Digitaler Brückenbau von Olga Drossou und Ralf Fücks Der UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft war ein Erfolg Obwohl die tunesischen Behörden alles unterbanden, was nach Kritik am Regime aussah, ist der UN-Weltgipfel in Tunis insgesamt als Erfolg zu bewerten. Ein „digitaler Solidaritätsfonds“ zugunsten der Entwicklungsländer wurde eingerichtet, und in Bezug auf die strittige Kontrolle des Internets wurde ein Kompromiss erreicht. Als besonders produktiv erwies sich die Teilnahme zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure.
DEUTSCHE AUSSENPOLITIK Ganz und gar nicht ohne Interessen von August Pradetto Deutschland formuliert nicht nur klare Ziele. Es setzt sie auch durch In den zurückliegenden Jahrzehnten hat Deutschland seine nationalen Interessen evident formuliert und auch erfolgreich durchgesetzt. Doch trotzdem ist Kritik zu vernehmen – dabei lassen sich Wissenschaftler oftmals von subjektiven Wunschvorstellungen und parteipolitischen Präferenzen leiten, Militärs von frustrierenden Erfahrungen.
AMERIKABILDER von Tim B. Müller Verhältnismäßig unmenschlich Klare Worte: Charles Krauthammer fordert Vorschriften für das Foltern
BUCHKRITIK von Stefan Bierling und Henning Hoff Zwischen legitimer Weltführung und imperialer Versuchung Amerikas Strategie im Zeitalter des Terrorismus; wie seine Soft Power Europa eroberte Endlich wird eine Debatte nachgeholt, die schon vor einem Jahrzehnt fällig war. Amerikas außenpolitische Intelligenz denkt heute wieder souverän in weltpolitischen Kategorien. Wie soll Amerikas künftige Rolle in der Welt aussehen? Soll es Hegemon sein oder Partner? Oder vielleicht am besten beides, sanfter Hegemon also, der in Institutionen und Verträge eingebunden ist? Die grundsätzliche Frage nach der Grand Strategy stellen in ihren Büchern Richard Haass und Walter Russell Mead. Dem Dauerproblem Irak, wo sich die Chancen und Grenzen der großen Strategien im Zusammenprall mit der Realität zeigen, widmen sich Stanley Hoffmann und George Packer. Dort bleibt nur das Prinzip Hoffnung.
Kolumnen KULTUR von Alexandra Kemmerer Der harte Kern Hans Morgenthau und der neue transnationale Streit um die Legitimation von Folter
WERKSTATT DEUTSCHLAND von Franz Walter Im Würgegriff der Mitte: die Grünen Sie sind längst die bürgerlichste aller Parteien. Und ihr Machtverlust ist nur temporär
ÖKONOMIE von Helmut Reisen Globalisierung, Proletariat und Prekariat Das alte Verhältnis von Kapital und Arbeit kehrt wieder – aber erst in 30 Jahren
TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Heißzeit – Eiszeit Von Europas stotternder Zentralheizung, Hitzewallungen und Klima-Hooligans in Montreal