Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024)

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024)
Weiterer Titel 
Erinnerungskonflikte in Osteuropa

Erschienen

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer, Didaktik der Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Dass die „Geschichte als Waffe“ missbraucht werden kann, ist keine wirklich neue Einsicht. Hierfür lassen sich seit der Antike unzählige Beispiele anführen. Seit der Auslösung des Krieges von Russland gegen die Ukraine im Februar 2022 ist indes auf erschütternde Weise deutlich geworden, wie unmittelbar historische Deutungskämpfe sich auf das Kriegsgeschehen auswirken können. So ist in der gegenwärtigen Lage nicht nur zu beobachten, wie schnell die Geschichte zu einer geradezu tödlichen Waffe umgeformt wurde, sondern auch, dass im Zeichen einer imperialen Nostalgie vom Kreml das Existenzrecht einer von Russland unabhängigen ukrainischen Nation grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Das von Alexa von Winning und Klaus Gestwa vorbereitete Themenheft behandelt die aktuellen historischen Deutungskämpfe. In ihrem Einführungsbeitrag zeigen sie anschaulich auf, dass die Geschichtspolitik des Kreml nach innen das Ziel verfolgt, die eigene Gesellschaft für den Krieg zu mobilisieren, wohingegen sie nach außen den Anspruch der Ukraine auf staatliche Unabhängigkeit mit pseudohistorischen Argumenten in Frage stellt. Darüber hinaus verdeutlichen sie, dass die militärische Konfrontation auf der Gegenseite das Bestreben nährt, die ukrainische Nationalgeschichte von russischen Einflüssen weitgehend zu „säubern“. An ihre Stelle hat die Geschichtspolitik Kiews die Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen während des massenhaften Hungertodes (Holodomor) in den Jahren 1932 und 1933 sowie an die Gewaltexzesse in der Ukraine im Laufe des Zweiten Weltkriegs gerückt.
Mittlerweile ist der Holodomor, wie der nachfolgende Beitrag von Nadija Hončarenko zeigt, sogar zu einem der wichtigsten Referenzpunkte der ukrainischen Geschichtspolitik aufgerückt. International hat sich darüber die Einordnung des Holodomor als Genozid durchgesetzt, nachdem diese Deutung über Jahrzehnte heftig umstritten war. Wie stark das gegenwärtige Kampfgeschehen auch in einer ganz anderen Richtung durchschlägt, demonstriert Matthäus Wehowski in seinem Aufsatz über die schwierige Versöhnung zwischen der Ukraine und Polen. Sämtliche Versuche dieser Art werden bis heute von den Gewaltexzessen überschattet, die Nationalisten der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ während des Zweiten Weltkriegs an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien und Galizien verübt haben.
Die nachfolgenden Beiträge lenken den Blick auf anders gelagerte Sachverhalte. Zum einen geht es um die Darstellung der ukrainischen Geschichte in deutschen Schulbüchern. In dieser Hinsicht bemängeln Maria Kovalčuk und Yuri Šapoval nicht nur eine auffällige Tradierung überlieferter Stereotype, sondern sie nehmen außerdem Anstoß daran, dass eine imperiale Perspektive dominiere, welche die Ukraine meist auf eine „Zwischenzone“ ohne eigene Handlungsfähigkeit herabstufe. Zum anderen behandeln die Beiträge den Aufbau eines repressiven Erinnerungsregimes im Russland unter der Führung Putins sowie die Rolle, die ausgewählte Akteure dabei einnehmen. Auf eine geradezu bedrückende Art und Weise demonstriert Oleg Morozov, wie in Russland über das Justiz- und Strafverfolgungssystem inzwischen eine fast vollständige Kontrolle des Staates über die öffentliche Erinnerung etabliert worden ist. Zudem zeigt Daniel Weinmann, dass der Kreml dabei mit Vladimir Medinskij einen einflussreichen geschichtspolitischen Akteur an seiner Seite weiß. Über sein Histotainment verbreite Medinskij eine „märchenhafte Meistererzählung“, die der militärisch-patriotischen Indoktrination der Bevölkerung diene. Die bislang vorliegenden Berichte zur Haltung breiter Teile der russischen Öffentlichkeit im Ukrainekrieg zeigen, dass die Moskauer „Geschichtspolitikmaschine“ wirkungsvoll funktioniert.

Inhaltsverzeichnis

Abstracts (S.130)
Editorial (S. 132)

BEITRÄGE

Alexa von Winning/Klaus Gestwa
Umkämpfte Geschichte zwischen imperialen Obsessionen und nationalen
Traumata
Zur Einleitung (S. 133)

Nadija Hončarenko
Die Erinnerung an den Holodomor in der Ukraine
Vom sowjetischen Vergessen über individuelles Gedenken zur staatlichen Politik (S. 148)

Matthäus Wehowski
Empörung, Polarisierung und schwierige Versöhnung
Die umstrittene Erinnerung in Polen und der Ukraine an Stepan Bandera und die OUN (S. 164)

Marija Kovalčuk/Jurij Šapoval
Die Geschichte der Ukraine in deutschen
Schulbüchern (S. 180)

Oleg Morozov
Das Justiz- und Strafverfolgungssystem als Erinnerungsakteure
Die Entstehung eines repressiven Erinnerungsregimes in Putins Russland (S. 189)

Daniel Weinmann
History Maker und Kriegstreiber
Vladimir Medinskijs Histotainment (S. 204)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
„Achtung! Achtung!“
Hörenswerte Interessenressourcen zu
100 Jahre Hörfunk in Deutschland (S. 221)

LITERATURBERICHT

Alexander Gallus
Deutschland seit 1945
Teil II (S. 224)

NACHRICHTEN (S. 251)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 256)

Abstracts

Alexa von Winning/Klaus Gestwa
Umkämpfte Geschichte zwischen imperialen Obsessionen und nationalen Traumata
GWU 75, 2024, H. 3/4, S. 133–147
Historische Narrative werden in Osteuropa gezielt als politische Waffen in Anschlag gebracht. Die Geschichtspolitik des Kremls verfolgt das Ziel, die Gesellschaft mit dem patriotischen Sound von Größe, Krieg und Sieg auf Linie zu bringen. In der Außenpolitik ersetzen historische Mythen das Völkerrecht, indem sie imperiale Obsessionen vernebeln. Die Geschichtsdiskussion in der Ukraine dominieren nationale Traumata wie der Holodomor und die Weltkriegserfahrungen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Jahr 2014 drängt die ukrainische Politik mit den Begriffen „Dekommunisierung“ und „Dekolonisation“ auf die Eigenständigkeit der ukrainischen Geschichte, um die Selbständigkeit des ukrainischen Staats zu betonen, dessen Existenzrecht Putin mit pseudohistorischen Argumenten negiert.

Nadija Hončarenko
Die Erinnerung an den Holodomor in der Ukraine
Vom sowjetischen Vergessen über individuelles Gedenken zur staatlichen Politik
GWU 75, 2024, H. 3/4, S. 148–163
Ausgehend von persönlichen Erlebnissen der Autorin, die zentrale Wegmarken der ukrainischen Geschichte miterlebt hat, zeichnet der Beitrag das familiäre, gesellschaftliche und staatliche Gedenken des Holodomor in der Ukraine nach. Der massenhafte Hungertod, dem in den Jahren 1932 und 1933 mindestens 3,9 Millionen Ukrainer:innen zum Opfer fielen, ist heute das wichtigste Thema der ukrainischen Geschichtspolitik sowie zentrales Element der nationalen Identität und Gegenstand gesellschaftlicher Erinnerungspraktiken. Das war nicht immer so. In der Sowjetunion wurde der Holodomor tabuisiert oder als Folge von Missernten verharmlost. Diese Tradition des Leugnens wirkte auch in der unabhängigen Ukraine fort und fand erst durch zähes Beharren von Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihr Ende. Die russischen Aggressionen gegen die Ukraine haben die Betonung des Holodomor als Völkermord in der Ukraine und international in den letzten Jahren noch verstärkt.

Matthäus Wehowski
Empörung, Polarisierung und schwierige Versöhnung
Die umstrittene Erinnerung in Polen und der Ukraine an Stepan Bandera und die OUN
GWU 75, 2024, H. 3/4, S. 164–179
Kaum eine andere historische Persönlichkeit aus der Ukraine ist dermaßen umstritten wie Stepan Bandera. Sein Name sorgt für heftige Emotionen und Reaktionen. In Polen weckt er Erinnerungen an den Massenmord an der polnischen Bevölkerung in Galizien und Wolhynien. Nach 1947 entbrannte ein Deutungskonflikt über die Rolle Banderas und der ukrainischen Nationalisten, der die ukrainisch-polnischen Beziehung dauerhaft belastete und dies auch noch heute tut. Die kommunistische Regierung in Polen verteufelte die ukrainischen Nationalisten, um ihr Regime und die „Freundschaft“ zur Sowjetunion zu legitimieren. Doch auch unter den polnischen und ukrainischen Exilanten tobte der Deutungskampf, der sich nach der Wende von 1989 auf die neuen demokratischen Regierungen übertrug.

Maria Kovalčuk/Yuri Šapoval
Die Geschichte der Ukraine in deutschen Schulbüchern
GWU 75, 2024, H. 3/4, S. 180–188
Der Artikel untersucht zwischen 2000 und 2021 erschienene deutsche Schulbücher. Der Blick richtet sich auf die Darstellung der Ukraine im Ersten Weltkrieg, auf die Kollektivierung und den Holodomor, den Zweiten Weltkrieg und Russlands 2014 beginnenden Krieg gegen die Ukraine. Der Artikel zeigt, wie widersprüchlich das Bild der Ukraine in deutschen Schulbüchern ist und wie sehr es von überlieferten Stereotypen geprägt bleibt. Die Ukraine wird meist als eine Art Zwischenzone und nicht als eigenständiger historischpolitischer Akteur wahrgenommen. Die imperiale Perspektive dominiert. So hat sich die Darstellung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg nur wenig verändert. Fortschritte gibt es bei der Behandlung des Holodomor sowie der Krim-Annexion und des russischen Interventionskriegs in der Ostukraine. Der Artikel schlägt die verstärkte Einbeziehung von fachlich ausgewiesenen Osteuropa-Historiker:innen besonders aus der Ukraine vor, um in den Schulbüchern auffällige Ungenauigkeiten zu korrigieren und fehlende Informationen zur Geschichte der Ukraine nachzutragen.

Oleg Morozov
Das Justiz- und Strafverfolgungssystem als Erinnerungsakteure
Die Entstehung eines repressiven Erinnerungsregimes in Putins Russland
GWU 75, 2024, H. 3/4, S. 189–203
Während der Amtszeit Putins entstand ein repressives Erinnerungsregime, das der Öffentlichkeit eine historische Meistererzählung aufzwingt und Gegennarrative unterdrückt. Der erste Teil des Aufsatzes gehtauf populistische Vorwürfe und Kampfbegriffe ein, die für die Geschichtsdeutung des Kremls charakteristisch sind. Der zweite Teil behandelt die Formen rechtlicher Willkür, die das repressive Erinnerungsregime einsetzt, um seine Deutungsherrschaft durchzusetzen. Der dritte Teil befasst sich mit der Zerstörung der Menschenrechtsgesellschaft Memorial, die de facto zur fast vollständigen Kontrolle des Staates über die öffentliche Erinnerung in Russland führte.

Daniel Weinmann
History Maker und Kriegstreiber
Vladimir Medinskijs Histotainment
GWU 75, 2024, H. 3/4, S. 204–220
Als mächtiger geschichtspolitischer Akteur des Kremls legitimiert Vladimir Medinskij mit seinen historischen Narrativen Putins Kriegskurs, der sich im 21. Jahrhundert auf einer aus der imperialen Eroberungsgeschichte des 18. Jahrhunderts abgeleiteten historischen Mission sieht. Mit seinem Histotainment vermittelt Medinskij als Russlands oberster Geschichtsoligarch eine märchenhafte Meistererzählung, die der militärisch-patriotischen Indoktrination dient und dazu „Phantasmen einer eurasischen Weltzivilisation“ beschwört. Die Untersuchung seiner sowohl im Internet als auch in anderen Medien präsenten Videoreihe „Petrinische Zeiten“ zeigt, dass neben der russischen Rüstungsindustrie auch die Moskauer „Geschichtspolitikmaschine“ aktuell auf Hochtouren läuft.

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