Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), 10

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Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), 10
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Biographie

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Editorial von Joachim Rohlfes

Die „postmoderne“ Wiederbelebung der Kulturgeschichte hat auch der Biografik neue Impulse gegeben. Auch wenn die vor dreißig Jahren gelegentlich zu hörende Rede von der „Krise der Biografie“ bei manchen Geschichtstheoretikern und noch mehr -didaktikern Eindruck machte, nahm das Gros der Historikerschaft und vor allem das Lesepublikum solche Unkenrufe nicht sehr ernst, und die offenkundige Beliebtheit dieses Genres litt keinen Schaden. Gleichwohl vollzog sich mit der Entthronung der Historischen Sozialwissenschaft als einer Leitdisziplin unseres Faches und dem Vordringen all jener Strömungen – wie der Alltags-, Mentalitäts-, Erfahrungs-, Erinnerungs-, Geschlechtergeschichte sowie der Historischen Anthropologie –, die gern unter dem Label der „Neuen Kulturgeschichte“ zusammengefasst werden, ein allmählicher Paradigmawechsel, der nicht zuletzt auch viele überkommene Muster der biografischen Literatur veränderte. Indem man dem individuellen Menschen in seiner unverwechselbaren Eigenheit und Inkommensurabilität, die sich nicht bündig unter allgemeine gesellschaftliche und zeitaltertypische Erscheinungen subsumieren lässt, wieder eine zentrale Rolle im historischen Geschehen zuerkannte, veränderte sich eo ipso unser Blick auf die Geschichte. Sie stellt sich jetzt nicht mehr primär als ein Geflecht von Strukturen und Prozessen dar, die die menschliche Existenz mit un- und überpersönlicher Mächtigkeit dominieren.

Dennoch kann keine Rede davon sein, dass mit dieser Perspektivenverschiebung auch ein Abschied von den Standards einer sozialwissenschaftlich inspirierten Gesellschaftsgeschichte verbunden sein muss. Deren Prämisse von der Einbindung des Einzelnen in kollektive Verhältnisse und Abläufe ist nach wie vor plausibel und empirisch tausendfach bestätigt. Der biografische Zugriff muss selbstverständlich davon ausgehen, dass der individuelle Lebensverlauf weitgehend von den allgemeinen Zeitumständen determiniert wird.

Das hat jeder gute Biograf seit je gewusst und beherzigt. Insoweit besteht hier kein Diskussionsbedarf. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. Man kann es an einem Buchtitel Bourdieus festmachen: „Die biografische Illusion“. Gemeint ist das Dilemma, mit der sich jeder Verfasser einer historischen Biografie auseinandersetzen muss. Als Autor hat er das – sich aus der Eigenart der historischen Narration ergebende – Verlangen, der Lebensgeschichte seines „Helden“ eine irgendwie folgerichtige Entwicklungslinie einzuzeichnen, die diesem Leben eine Sinnhaftigkeit zuerkennt. Genau damit aber tappt er laut Bourdieu in eine Falle. Denn jedes Menschenleben – so Bourdieus „postmodernes“ Credo – besteht aus Zufällen, Brüchen, Fragmenten, die es verbieten, ihm so etwas wie Kohärenz und Konsistenz zuzuschreiben.

Es liegt auf der Hand, dass eine geschichtswissenschaftlich zu nennende Biografie unter solchen Voraussetzungen schwer vorstellbar ist. Allenfalls in einem biografischen Roman lassen sich derartige Erzählmuster umsetzen. Der Historiker, der dergleichen versucht, läuft stets Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das manifestiert sich auch in Karl-Heinrich Pohls Beitrag zu diesem Heft. Mit Bourdieu und Luhmann plädiert er für den Verzicht auf chronologische Linearität oder den hohen Stellenwert des Zufalls. Aber gleichzeitig und in gewissem Sinne „gegenläufig“ hält er an der Notwendigkeit der „Konstruktion“ fest, also an der ModelIierung der Lebensgeschichte gemäß dieses Leben prägenden Grundthemen. Noch stärker gilt dies für Radkaus monumentales Max Weber-Buch. Auch Radkau hält sich an die Prämisse, eine Biografie müsse das Leben, um das es geht, auf die es prägenden Elementarerfahrungen zurückführen, also ihm ein intersubjektiv nachvollziehbares Grundmuster zuschreiben. Einen konzisen Überblick über die Entwicklungen, die in den letzten Jahrzehnten auf dem Felde biografischen Schreibens stattgefunden haben, bietet schließlich der Beitrag von Simone Lässig.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt der Ausgabe 10/09:

ABSTRACTS (S. 538)

EDITORIAL (S. 539)

BEITRÄGE

Simone Lässig
Die historische Biographie auf neuen Wegen? (S. 540)

Karl Heinrich Pohl
Gustav Stresemann:
Zur Konstruktion einer neuen Biographie (S. 554)

Joachim Radkau
Wiederbelebung einer Ikone und: Zwischenbilanz im Streit um das Wechselspiel zwischen Eros und Logos bei Max Weber (S. 568)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub
Fundgruben historischer Lebensläufe
Biographische Nachschlagewerke zur Geschichte europäischer Länder (S. 588)

EINZELBESPRECHUNG

Joachim Rohlfes
Viele Fakten, wenig Interpretationen: Der neueste „Ploetz“ (S. 590)

LITERATURBERICHT

Wolfgang Schmale
Europäische Geschichte, Teil II (S. 594)

NACHRICHTEN (S. 604)

Abstracts der Ausgabe 10/09:

Simone Lässig
Die historische Biographie auf neuen Wegen?
GWU 60, 2009, H. 10, S. 540-553

Der Beitrag beschäftigt sich mit dem auch in Deutschland spürbar gewachsenen Interesse am Genre der historischen Biographie. Er benennt zentrale Ursachen für die neuartige Hinwendung zum Individuum, stellt relevante Neuerscheinungen der letzten Jahre vor und skizziert wichtige methodische Innovationen und konzeptionelle Ansätze, die im biographischen Feld erkennbar sind. Abschließend wird diskutiert, welchen „Mehrwert“ eine methodenbewusste und theoretisch reflektierte Biographik für die moderne Geschichtswissenschaft haben kann.

Karl Heinrich Pohl
Gustav Stresemann:
Zur Konstruktion einer neuen Biographie
GWU 60, 2009, H. 10, S. 554-567

Nachdem sich die Wissenschaft mehr als 50 Jahre mit Gustav Stresemann beschäftigt hat, scheint sein Leben weitgehend erforscht zu sein. Dieser Umstand wird dazu genutzt, um neue Fragen an sein Leben zu stellen, neue konzeptionell-methodische Ansätze auszuprobieren, kurzum: eine neue Konstruktion seines Lebens zu erproben. Dem bisher gewissermaßen zielgerichtet angesehenen Lebenslauf des Politikers wird ein Entwurf gegenüber gestellt, der eine solch geradlinige Entwicklung verneint und zugleich dem Menschen Stresemann näher zu kommen versucht. Ein solcher Ansatz könnte möglicherweise der gegenwärtigen Biografik einige Anstöße geben.

Joachim Radkau
Wiederbelebung einer Ikone und:
Zwischenbilanz im Streit um das Wechselspiel zwischen Eros und Logos bei Max Weber
GWU 60, 2009, H. 10, S. 568-586

Eine Biographie Max Webers zu schreiben, die auch von Leiden und Leidenschaft handelt, ist ganz im Geiste Webers. „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann“, verkündete er in „Wissen als Beruf“. Die Leidenschaft besitzt für ihn etwas Naturhaftes. Natur ist das so oft vergebens gesuchte missing link zwischen seinem Leben und Werk. Hader und Wiederversöhnung mit der eigenen Natur spiegeln sich in Webers tief ambivalentem Umgang mit dem Naturalismus in der Wissenschaft. Gerade Webers Wissenschaftslehre – dieses „seltsame Schauspiel eines leidenschaftlichen Angriffs auf den Naturalismus aus naturalistischen Positionen heraus“ (Friedrich Tenbruck) – ist ohne den Hintergrund seiner Leidensgeschichte nicht zu verstehen. Das Wechselspiel von Eros und Logos gipfelt in der Entdeckung des Charisma.

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