Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), 11–12

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), 11–12
Weiterer Titel 
Reichtumsgeschichte

Erschienen
Erscheint 
monatlich
ISBN
0016-9056

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen haben zuletzt die Aufmerksamkeit sowohl der historischen Forschung als auch die einer breiten Öffentlichkeit auf Fragen sozialer Ungleichheit gelenkt. Meist standen dabei die Probleme unterer sozialer Schichten im Mittelpunkt, wohingegen die Einkommensentwicklung und Vermögensbildung am anderen Ende der sozialen Skala sowie deren gesellschaftliche und politische Implikationen meist nicht näher ergründet worden sind. Dass eine solche Schieflage überhaupt hat entstehen können, geht zum einen auf die lange Vorherrschaft einer Kulturgeschichte zurück, die sich oft nur am Rande für die Geschichte von Vermögen interessiert hat. Zum anderen ist dies die Konsequenz der Strategien begüterter Schichten, Einblicke in ihr Eigentum zu erschweren, aber auch die Folge der unübersichtlichen Strukturen des Kapitalmarktes. Die neu aufgekommene Reichtumsgeschichte hat inzwischen eine Wende eingeleitet.

In ihrem einleitenden Beitrag führt Simone Derix in die Fragestellungen des noch jungen Forschungszweiges ein, der zum einen nach den wirtschafts- und sozialhistorischen Dimensionen von Vermögensbildung fragt, was den Blick auf Eigentumsordnungen, Steuerpolitiken, das Sparen und Erben, aber auch auf die Institutionen und Praktiken der Kapitalmärkte lenkt. Zum anderen beleuchtet die Reichtumsgeschichte die kulturellen Umstände von Eigentumsbildung und wirft in diesem Zusammenhang Fragen nach den Lebensformen von Reichen sowie danach auf, wie sie mit ihrem Vermögen handelten. Die nachfolgenden Beiträge bieten empirisch gesättigte Einblicke in ausgewählte Fragestellungen der Reichtumsgeschichte. So untersucht Margareth Lanzinger die Zusammenhänge zwischen Vermögen und Geschlecht in der Frühen Neuzeit und gelangt darüber zu der Erkenntnis, dass die Vermögen sowie die daraus resultierenden Eigentums- und Verfügungsrechte die frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisse maßgeblich geprägt haben. Wie sehr in einer viel späteren Phase der Faktor Wohneigentum die Vermögensbildung beeinflusste, thematisiert Kerstin Brückweh in ihrem Beitrag zur Geschichte des Wohnbesitzes in Großbritannien und Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Sie unterstreicht dabei die Potentiale der Erfahrungs- und Emotionsgeschichte von Immobilien für eine Kulturgeschichte des Vermögens. Im Anschluss daran beleuchtet Eva Gajek verschiedene Facetten der Geschichte von reichen Emigranten und Emigrantinnen, die in den 1930er und 1940er Jahren aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA flüchten mussten. Hierbei legt sie einen besonderen Akzent auf die feinen Unterschiede der Emigration, was dazu führte, dass sich im Aufnahmeland eine spezifisch europäische Reichtumskultur mit den damit verbundenen Werten verfestigen konnte. Methodisch stehen dabei Prozesse der Fremd- und Selbstwahrnehmung im Mittelpunkt.

Die beiden abschließenden Beiträge beschäftigen sich mit der Eigentums- und Finanzgeschichte in Deutschland. So unternimmt Jürgen Dinkel eine quellengesättigte Fallstudie zu Erbschaften und Erbpraktiken in Frankfurt am Main, mit der er einerseits die Erkenntnispotentiale einer historischen Analyse von Nachlasstransfers für die Vermögens- und Gesellschaftsgeschichte aufzeigt. Andererseits betont er die Funktion von Erbtransfers zur Entstehung, Perpetuierung oder zum Abbau von Vermögensungleichheiten. Abschließend beschäftigt sich Korinna Schönhärl mit dem Narrativ des ehrlichen Steuerzahlens in der Bundesrepublik vom Ende der 1970er bis zur Mitte der 1980er Jahre, worüber sie nachzeichnet, wie sich in diesem Zeitraum die Normen des Steuerzahlens grundlegend wandelten. In der Summe bieten die hier vorgelegten Beiträge aufschlussreiche Einblicke in ein neues Forschungsfeld, wobei erst die Zukunft zeigen wird, in welcher Weise die vorgelegten Erkenntnisse in eine erweiterte Gesellschaftsgeschichte eingehen werden.

Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Abstracts (S. 594)
Editorial (S. 596)

BEITRÄGE

Simone Derix
Clio unter Materialitätsschock?
Das neue Interesse am Vermögen in der Moderne (S.597)

Margareth Lanzinger
Geld und Güter, Transfers und Arrangements
Vermögen und Geschlecht in der Frühen Neuzeit (S.605)

Kerstin Brückweh
My Home Is My Castle
Immobilien und die Kulturgeschichte des Vermögens im 19. und 20. Jahrhundert (S.624)

Eva Maria Gajek
Die feinen Unterschiede der Zwangsmigration
Begegnung von Reichtumskulturen in den USA der 1930er und 1940er Jahren (S.642)

Jürgen Dinkel
Erbpraktiken und Vermögensungleichheit
Was kann die historische Analyse von Erbfällen und Erbpraktiken
zu einer Vermögens- und Gesellschaftsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert beitragen? (S.661)

Korinna Schönhärl
„Der Imperativ des Nassauerns, Durchmogelns und Absahnens“
Debatten um Steuermoral in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1980er Jahre (S.678)

Informationen Neue Medien

Gregor Horstkemper
Münzen, Scheine, BitcoinsOnline-Materialien zur Numismatikund Geldgeschichte (S.695)

Literaturbericht

Benedikt Stuchtey
Das Britische EmpireThemen, Tendenzen und Trends in der Forschung zur britischen Geschichte
(16.– 20. Jhd.), Teil II (S. 698)

Nachrichten (S. 719)

Autorinnen und Autoren (S. 724)

REGISTER DES JAHRGANGS 70, 2019 (S.725)

ABSTRACTS

Simone Derix
Clio unter Materialitätsschock Das neue Interesse am Vermögen in der Moderne
GWU 70, 2019, H. 11/12, S. 597 – 603
Der einleitende Beitrag beleuchtet das derzeitige Interesse an der Geschichte des Vermögens im Kontext einer grundlegenden Hinwendung der Geisteswissenschaften zur Erforschung des Materiellen. Er stellt zudem zwei zentrale Richtungen der Vermögensgeschichte vor: zum einen den Fokus auf Reichtum und Reiche, zum anderen die Analyse von Vermögenspraktiken und Eigentumsordnungen.

Margareth Lanzinger
Geld und Güter, Transfers und Arrangements Vermögen und Geschlecht in der Frühen Neuzeit
GWU 70, 2019, H. 11/12, S. 605 – 622
Ziel des Beitrags ist es, den vielfältigen Zusammenhängen zwischen Vermögen und Geschlecht nachzuspüren. Die Fragen richten sich darauf, wer Zugang zu unterschiedlichen Vermögenssorten hatte und welche rechtlichen Qualitäten diese zugeschrieben erhielten, nach welchen Logiken Vermögen transferiert wurde und inwiefern dabei Ungleichheiten zum Tragen kamen. Im Ergebnis wird deutlich, dass Vermögen und damit verbundene Eigentums-, Verfügungs- und Nutzungsrechte frühneuzeitliche Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen maßgeblich geprägt haben und damit zugleich die unterschiedlichen sozialen Milieus und letztlich ganze Gesellschaften

Kerstin Brückweh
My Home Is My Castle
Immobilien und die Kulturgeschichte des Vermögens im 19. und 20. Jahrhundert
GWU 70, 2019, H. 11/12, S. 624 – 641
Von einer explorativen Studie zur britischen und deutschen Geschichte ausgehend werden in diesem Aufsatz Möglichkeiten der Erforschung einer Kulturgeschichte des Vermögens vorgestellt. Als Untersuchungsgegenstand dienen Immobilien bzw. konkret das Wohneigentum. Während die Geschichte des Vermögens und der Immobilienmärkte klassischerweise der Wirtschaftsgeschichte überlassen wurde und zur Geschichte des Wohnens vor allem sozial-, kultur- sowie stadt- und architekturhistorische Arbeiten entstanden sind, wird in diesem Aufsatz dafür plädiert, neben erfahrungs- und emotionsgeschichtlichen Ansätzen sowie sozial- und migrationsgeschichtlichen Zugängen auch die Landregistrierung in eine Kulturgeschichte des Vermögens zu integrieren. So können individuelle Erfahrungen mit Analysen gesellschaftlicher Ungleichheit verbunden werden.

Eva Maria Gajek
Die feinen Unterschiede der Emigration
Begegnungen von Reichtumskulturen in den USA der 1930er und 1940er Jahren
GWU 70, 2019, H. 11/12, S. 642 – 660
Einigen wenigen Vermögenden gelang es bei der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, ihren Reichtum mitzunehmen oder dort wieder aufzubauen. Trotz ihrer geringen Zahl erhielten die Gruppe und insbesondere ihr Umgang mit Vermögen große öffentliche Aufmerksamkeit. Der Text geht der Begegnung von amerikanischen und deutschen Reichtumskulturen nach. Wie zeigen sich die Wahrnehmung und Darstellung von feinen Unterschieden der Emigration in den 1930er und 1940er Jahren in der Selbstund Fremdwahrnehmung?

Jürgen Dinkel
Erbpraktiken und Vermögensungleichheit
Was kann die historische Analyse von Erbfällen und Erbpraktiken zu einer Vermögens- und Gesellschaftsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert beitragen?
GWU 70, 2019, H. 11/12, S. 661 – 677
Erbfälle stellen Sonden dar, durch die sich gesellschaftliche Vermögensverteilungen, -praktiken und -transfers im privaten Bereich untersuchen lassen. Ihre Analyse kann daher zum besseren Verständnis von Vermögenshandeln im Spannungsfeld von staatlichen Vorgaben, familialen Bindungen und individuellen Interessen sowie der Persistenz von Vermögensungleichheiten beitragen. Wie eine solche historische Analyse aussehen und auf welche Quellen sie sich stützen kann, wird im Beitrag anhand einer Fallstudie zu Erbschaften und Erbpraktiken in Frankfurt am Main veranschaulicht.

Korinna Schönhärl
„Der Imperativ des Nassauerns, Durchmogelns und Absahnens“
Debatten um Steuermoral in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1980er Jahre
GWU 70, 2019, H. 11/12, S. 678 – 694
Skandale wie jüngst der Cum-Ex-Skandal, die Panama oder die Paradise papers wecken in der Öffentlichkeit immer wieder Empörung über das ungenügende Steuerzahlverhalten insbesondere der Vermögenden. Obgleich diese Klage über mangelnde Steuermoral so alt ist wie die Steuern selbst, wurde das Thema von Historiker*innen bisher nicht aufgegriffen. Der vorliegende Beitrag reflektiert zunächst Grundlagen einer historiographischen Steuermoralforschung und schlägt einen diskursanalytischen Zugriff vor. Dann untersucht er beispielhaft Narrative des ehrlichen Steuerzahlens in der Bundesrepublik vom Ende der 1970er bis zur Mitte der 1980er Jahre. Die Normen des Steuerzahlens wandelten sich in diesem Zeitraum deutlich.

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