Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), 7-8

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), 7-8
Weiterer Titel 
Kriegsverbrechen und Erinnerung

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Schinkel, Etienne

Editorial von Christoph Cornelißen

Seit dem Mittelalter haben kriegerische Konflikte wiederholt eine Entgrenzung der Gewalt bewirkt. Erst aber im Zuge der Modernisierung und Technologisierung des Kriegsgeschehens wurde die prekäre Grenze zwischen Kombattanten und Zivilisten eingeebnet; der „totale Krieg“ des 20. Jahrhunderts löste diese Trennung endgültig auf. Obwohl bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegende Regeln zur Einhegung des Krieges international vereinbart worden waren, vermochten sie in den Kolonial- und Balkankriegen die kriegführenden Mächte nicht davon abzuhalten, massive Verstöße gegen das Kriegsrecht zu begehen. Die massenhaften Kriegsverbrechen der beiden Weltkriege hinterließen eine noch weit blutigere Spur, und auch in den asymmetrischen Konflikten der Jahrzehnte seit 1945 blieben Kriegsverbrechen an der Tagesordnung. Teilweise wurden sie sogar zu einem bestimmenden Merkmal des Kriegsgeschehens.

Angesichts dieser Entwicklungen verwundert es kaum, dass die Debatten um das Völkerrecht in den letzten Jahren eine erhebliche Vertiefung erfahren haben. Überdies hat sich inzwischen sehr deutlich gezeigt, dass zahlreiche Kriegsverbrechen nur mit einer großen Verzögerung in das Bewusstsein der beteiligten Nationen gerückt sind. Oftmals dauerten die rechtlichen und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen über Kriegsverbrechen bis weit in die Nachkriegszeit an. Orte wie Katyn, Nanking oder auch My Lai haben sich auch deswegen tief in das kollektive Gedächtnis der betroffenen Nationen eingeprägt.

Dass keineswegs allein die Zahlen das Gewicht von Kriegsverbrechen markieren, verdeutlicht Alan Kamer in seinem Beitrag über die deutschen Kriegsgräuel in Belgien während des Ersten Weltkriegs. Schon vor Kriegsbeginn hatten die militärischen Lehrhandbücher die Offiziere und Soldaten dazu aufgefordert, selbst Andeutungen eines „Volkskriegs“ mit sämtlichen Machtmitteln zu unterbinden. Mehr als 6.400 belgische und französische Zivilisten sind diesen Anordnungen zum Opfer gefallen, was danach einen beiderseitig intensiv geführten Propagandakampf um die deutschen „Kriegsgräuel“ heraufbeschwor. Hier wie dort verdankte sich die Brutalisierung des Kriegsgeschehens jedoch nicht allein Anordnungen von oben. Bernd Greiner macht darauf in seiner Abhandlung über die Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg aufmerksam. So deutet er die gewalttätigen Exzesse amerikanischer Soldaten primär als das Produkt eines asymmetrischen Guerillakrieges, der eine Selbstradikalisierung der Soldaten in Gang gesetzt habe.

Wie lange Konflikte über Kriegsverbrechen andauern können, zeigen die Abhandlungen von Torsten Weber über das Nanking-Massaker von 1937 und von Werner Beneke über die geschichtspolitische Instrumentalisierung der Toten von Katyn. In beiden Fällen sorgte die einseitige Indienstnahme der Opfer für heftige diplomatische Spannungen zwischen den ehemals kriegsführenden Staaten. Beide Fallbeispiele illustrieren zudem, wie sehr die Konfrontationen unter dem Schirm des Kalten Krieges eine nüchterne Analyse der Vorgänge langfristig verhinderten. Obwohl inzwischen zumindest auf japanischer und chinesischer Seite Initiativen aufgekommen sind, die sich für eine historische Aussöhnung einsetzen, stehen die Kriegsverbrechen weiterhin im Mittelpunkt ernsthafter diplomatischer und geschichtspolitischer Auseinandersetzungen. Vor diesem Hintergrund hat die neuere Völkerrechtswissenschaft der letzten beiden Jahrzehnte zahlreiche Anläufe unternommen, um international eine rechtlich klare Grundlage für die Aburteilung von Kriegsverbrechern zu erreichen. Wie Hanna Franzki zu zeigen vermag, hat dies nicht nur zu einer Verrechtlichung des Aufarbeitungsimperativs geführt, sondern der historischen Betrachtungsweise insgesamt einen höheren Stellenwert in Gerichtsverfahren eingeräumt. Das Amt des Historikers und das des Richters sind darüber einander näher gerückt.

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 7-8/2012

ABSTRACTS (S. 386)

EDITORIAL (S. 388)

BEITRÄGE

Alan Kramer
Deutsche Kriegsgräuel im Ersten Weltkrieg? (S. 389)

Torsten Weber
Die Gegenwart der Vergangenheit in Ostasien. Das Nanking-Massaker als chinesischjapanisches „Geschichtsproblem“ (S. 402)

Werner Benecke
Katyn – Zur Geschichte eines Verbrechens im europäischen Kontext (S. 420)

Bernd Greiner
„There was more of it in Vietnam“. Zur Eskalation von Gewalt und Verbrechen während des Vietnamkrieges (S. 434)

Hannah Franzki
Mit Recht Erinnern. Völkerrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen zwischen Aufarbeitungsimperativ und selektiver Geschichtsschreibung (S. 448)

Rudolf Jaworski
Zur internationalisierung politischer Bilderwelten im Ersten Weltkrieg – am Beispiel russischer Plakate und Propagandapostkarten (S. 465)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Plünderung, Vergewaltigung, Massaker. Online-Materialien zu Kriegsverbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 478)

LITERATURBERICHT

Raimund Schulz/Uwe Walter
Altertum, Teil I (S. 481)

NACHRICHTEN (S. 508)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 512)

ABSTRACTS DER GWU 7-8/2012

Alan Kramer
Deutsche Kriegsgräuel im Ersten Weltkrieg?
GWU 63, 2012, H. 7/8, S. 389-401

Waren die „deutschen Kriegsgräuel“ 1914 eine Erfindung alliierter Propaganda? 2001 veröffentlichte der Vf. mit J. Horne eine Studie, die anhand deutscher Dokumente nachweisen konnte, dass 6.400 belgische und französische Zivilisten hingerichtet worden waren. Im „Krieg der Kulturen“ rechtfertigte die deutsche Regierung die Tötungen mit dem Hinweis auf den „Franktireurkrieg“. Mit einem kultur- und militärgeschichtlichen Ansatz werden die Motivationen der deutschen Armee erklärt; ferner werden Gedanken zur vergleichenden Geschichte der Kriegsverbrechen sowie zur Kontinuitätsfrage entwickelt.

Torsten Weber
Die Gegenwart der Vergangenheit in Ostasien. Das Nanking-Massaker als chinesischjapanisches „Geschichtsproblem“
GWU 63, 2012, H. 7/8, S. 402-419

Während des Zweiten Sino-Japanischen Krieges (1937–45) verübten japanische Soldaten in Nanking Gräueltaten, die heute als Nanking-Massaker bekannt sind. Bis heute herrscht unter Wissenschaftlern, Politikern und Publizisten ein Dissens über das Ausmaß, die Bewertung und die Relevanz dieses Kriegsverbrechens. Seine geschichtspolitische Instrumentalisierung sorgt auch vierzig Jahre nach der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und der Volksrepublik China für heftigen öffentlichen Streit und diplomatische Spannungen. Gleichzeitig sind jüngst vermehrt Initiativen entstanden, die sich für eine historische Aussöhnung und ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein einsetzen. Das Nanking-Massaker gilt hierbei als Schlüsselkonflikt, dessen Entschärfung entscheidend zur Verbesserung der sino-japanischen Beziehungen auf staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene beitragen könnte.

Werner Benecke
Katyn – zur Geschichte eines Verbrechens im europäischen Kontext
GWU 63, 2012, H. 7/8, S. 420-433

Der Absturz des Flugzeuges des polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski im April 2010 hat das seit Jahrzehnten intensiv diskutierte Thema der Morde von Katyn erneut besonders aktualisiert: Kaczynskis Reise galt der Ehrung der im Frühjahr 1940 vom sowjetischen NKWD ermordeten mehreren Tausend polnischer Offiziere, deren Schicksal ein drastisches und traumatisches Lehrstück der Geschichte Polens im 20. Jahrhundert darstellt. Der vorliegende Aufsatz will das mittlerweile weitgehend aufgeklärte Verbrechen, für welches der Name Katyn pars pro toto steht, in den politischen Beziehungsrahmen der europäischen Geschichte in der Epoche zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt und der unmittelbaren Gegenwart einordnen.

Bernd Greiner
„There was more of it in Vietnam“. Zur Eskalation von Gewalt und Verbrechen während des Vietnamkrieges
GWU 63, 2012, H. 7/8, S. 434-447

Der Vietnam-Krieg zählt zu den brutalsten Konflikten des 20. Jahrhunderts – ablesbar an der Zahl der zivilen und militärischen Opfer und nicht zuletzt an den ungezählten Kriegsverbrechen. Warum dem so war, ist mit dem Hinweis auf die Brutalität von Kriegen nicht hinreichend zu beantworten. Die Ursachen sind vielmehr in der Konstellation eines asymmetrischen Krieges zu suchen, der auf ganz spezifische Weise zur Selbstradikalisierung von Soldaten beiträgt. Dergleichen strukturelle Voraussetzungen sollten aber stets im Zusammenwirken mit situativen Dynamiken gesehen werden – erst dann erschließt sich die Besonderheit der in Vietnam überschießenden Gewalt.

Hannah Franzki
Mit Recht Erinnern. Völkerrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen zwischen Aufarbeitungsimperativ und selektiver Geschichtsschreibung
GWU 63, 2012, H. 7/8, S. 448-464

Kriegsverbrecherprozesse untersuchen nicht nur die individuelle Schuld der Angeklagten, sondern produzieren immer auch Wissen über den politischen Kontext, in dem die jeweilige Tat begangen wurde. Dabei folgen sie jedoch nicht etwa einem geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissinteresse, sondern der rechtlichen Verfahrenslogik. Der vorliegende Text untersucht die Spannung zwischen rechtlicher und historischer Wahrheit, die sich daraus ergibt, und fragt nach der Rolle von Gerichtsverfahren in der gesellschaftlichen Erinnerungsprozessen.

Rudolf Jaworski
Zur Internationalisierung politischer Bilderwelten im Ersten Weltkrieg – am Beispiel russischer Plakate und Propagandapostkarten
GWU 63, 2012, H. 7/8, S. 465-477

Bildpropaganda spielte während des Ersten Weltkrieges eine hervorragende Rolle, ist aber bislang vornehmlich in ihren nationalen bzw. staatlichen Bezügen dargestellt worden. Transnationale Wechselwirkungen und übergreifende Universalierungstendenzen mussten damit zwangsläufig unbeachtet bleiben. In diesem Beitrag wird nun der Versuch unternommen, an Hand ausgewählter Plakate und Propagandapostkarten Übereinstimmungen russischer Kriegsbilder mit ihren Pendants im westlichen Ausland aufzuzeigen und zu bewerten.

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