Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 74 (2023) 11/12

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 74 (2023) 11/12
Weiterer Titel 
Stadt im Nationalsozialismus

Erschienen
Anzahl Seiten
678 S.

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer, Didaktik der Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

In der öffentlichen Wahrnehmung herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg lange die Ansicht vor, dass die nationalsozialistische Politik der „Gleichschaltung“ einen zentralistischen Einheitsstaat geschaffen habe, ohne den Kommunen eigenständige Handlungsspielräume zu belassen. Neuere Studien zur Geschichte der Stadt im Nationalsozialismus konnten dieses Bild inzwischen gründlich korrigieren. Sie demonstrieren eindrücklich das Ausmaß, in dem sowohl die kommunale Politik als auch die Stadtverwaltungen sich seit 1933 bereitwillig in den NS-Herrschaftsapparat einpassten und darüber zu Schlüsselstellen der Verteilung von Partizipationsmöglichkeiten und Lebenschancen aufstiegen. Über die ideologische Selbstverpflichtung der kommunalen Amtsträger und ihre Zuarbeit für das NS-Regime hinaus zeigen sie außerdem, wie sehr die nationalsozialistische Symbolpolitik auf der Ebene der Städte und Gemeinden eine erhebliche Wirkung entfalten konnte.
Die hier abgedruckten Beiträge beleuchten die Einpassung von kommunalen Verwaltungen und Versorgungsbetrieben anhand ausgewählter Großstädte im „Dritten Reich“. So zeigt der Aufsatz von Jan Neubauer am Beispiel der Münchener Stadtverwaltung, dass sie bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit eigenständigen Maßnahmen das NS-Regime stabilisierte, um dann mit Verve die Verfolgung ideologischer Gegner aufzunehmen. Das Ineinandergreifen von eingespielten Verwaltungsstrukturen mit den von der NSDAP neu eingerichteten Ämtern mündete in ein insgesamt effektives Zusammenspiel, auch weil es pragmatische Lösungen nicht ausschloss. Der sich daran anschließende Beitrag von Annemone Christians-Bernsee widmet sich ebenfalls am Beispiel München der Gesundheitspolitik und damit einem Forschungsfeld, das erst spät in den Fokus stadthistorischer Untersuchungen gerückt ist. Sie vermag darüber offenzulegen, wie engmaschig die kommunale Gesundheitsverwaltung in das Räderwerk der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ eingebunden war. Deren ganze Härte äußerte sich in der Praxis der Zwangssterilisationen. Zugleich entwickelte sie fördernde Programme für die „erbgesunde Volksgemeinschaft“, an die viele Städte nach 1945 nahtlos anknüpften.
Dass Unternehmen der städtischen Daseinsvorsorge eine sowohl politisch als auch gesellschaftlich herausragende Bedeutung zukommt, wurde zuletzt vielen Menschen in das Bewusstsein gehoben. In seinem Aufsatz nimmt Christoph Strupp vier große städtische Versorgungsbetriebe Hamburgs in den Blick und beleuchtet deren Einbindung in die Ideologie und Herrschaftsstrukturen des NS-Regimes. Er macht darüber deutlich, dass die von den Betrieben geleistete Daseinsvorsorge nicht nur den städtischen Alltag für viele Menschen überhaupt erst beherrschbar machte, sondern er weist auch deren symbolpolitische und propagandistische Wirkung nach. Im abschließenden Beitrag richtet Paul-Moritz Rabe den Blick auf die Finanzpolitik der Stadt München zwischen 1933 und 1945, als viele Ressorts ihre Ausgaben für NS-spezifische Aufgaben erhöhten. Um die dafür notwendigen Finanzmittel einzutreiben, griffen die Haushälter auf Kredite und Steuererhöhungen zurück, zugleich trieben sie die Ausplünderung von Jüdinnen und Juden voran. Im Zweiten Weltkrieg trug München dann über den kommunalen Kriegsbeitrag oder die Bereitstellung von Rücklagen und die Zeichnung von Reichsanleihen zur Finanzierung des Kriegs bei.
Die hier vorgelegten Aufsätze zeigen zum einen eindrucksvoll den Tatbestand auf, dass städtische Behörden und Versorgungsbetriebe eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung und langfristigen Durchsetzung der NS- Herrschaft spielten. Zum anderen machen sie deutlich, wie sehr sich gerade auf kommunaler Ebene Vorstellungen von einer „Volksgemeinschaft“ verbreiten konnten.

Inhaltsverzeichnis

Abstracts (S.594)
Editorial (S.596)
Beiträge

BEITRÄGE

Jan Neubauer
Nationalsozialistische Herrschaft vor Ort
Die Rolle der Münchner Stadtverwaltung
im „Dritten Reich“ (S. 597)

Annemone Christians-Bernsee
Primat der Erbgesundheit
Das öffentliche Gesundheitswesen
im nationalsozialistischen München (S. 615)

Christoph Strupp
Daseinsvorsorge für die Volksgemeinschaft
Die Hamburger Verkehrs- und
Versorungsbetriebe im „Dritten Reich“ (S. 631)

Paul-Moritz Rabe
Braune Städte – schwarze Zahlen
Kommunale Finanzpolitik im
Nationalsozialismus (S. 649)

Jan Eckel
Rapallo und die Suche nach einer
internationalen Nachkriegsordnung (S. 666)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Stadtgeschichtliche Materialien
zur NS-Zeit (S. 679)

LITERATURBERICHT

Dietmar Süß
Nationalsozialismus (S. 682)

NACHRICHTEN (S. 704)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 708)

REGISTER DES JAHRGANGS 74, 2023 (S. 709)

Abstracts

Jan Neubauer
Nationalsozialistische Herrschaft vor Ort
Die Rolle der Münchner Stadtverwaltung
im „Dritten Reich“
GWU 74, 2023, H. 11/12, S. 597–614
Der Beitrag zeigt am Beispiel der Münchner Stadtverwaltung, wie deutsche Kommunen als bevölkerungsnahe Staatsebene ab 1933 Teil der NS-Diktatur werden konnten, wie kommunale Akteure
das Regime von Beginn an stabilisierten
und die Radikalisierung in der Verfolgung der ideologischen Gegner vorantrieben. Dabei profitierten die Nationalsozialisten bis in die letzten Kriegstage hinein von eingespielten Verwaltungsstrukturen, die sie mit eigenen Organisationen ergänzten, dem bereitwilligen Entgegenkommen konservativer Verwaltungseliten und einem Zusammenspiel von „oben“
und „unten“ bei pragmatischer Problemlösung vor Ort.

Annemone Christians-Bernsee
Primat der Erbgesundheit
Das öffentliche Gesundheitswesen im
nationalsozialistischen München
GWU 74, 2023, H. 11/12, S. 615–630
Bei der nationalsozialistischen Umgestaltung der deutschen Gesellschaft kam der Gesundheitspolitik eine Schlüsselrolle zu.
Diese formulierte vor allem Maßnahmen zur „Erb- und Rassenpflege“ – ausgerichtet auf den biologistisch und rassistisch definierten „Volkskörper“ – und setzte sie mit Hilfe einer ab 1933 stark erweiterten, staatlichen und kommunalen Gesundheitsverwaltung um. Am Münchner
Beispiel untersucht der Beitrag die zentralen Motive, Strukturen, Akteure und Adressaten des öffentlichen Gesundheitssystems im NS-Staat, das grundlegend dichotomisch angelegt war: Die Förderung
„erwünschter Volksgenossen“ und „Volksgenossinnen“ stand der Ausgrenzung und Sanktionierung derjenigen gegenüber,
die die NS-Ordnungskriterien nicht erfüllten.

Christoph Strupp
Daseinsvorsorge für die
Volksgemeinschaft
Die Hamburger Verkehrs- und Versorgungsbetriebe im „Dritten Reich“
GWU 74, 2023, H. 11/12, S. 631–648
Der Aufsatz fragt nach der Entwicklung der städtischen Daseinsvorsorge unter den Herrschaftsbedingungen des „Dritten Reichs“ und nimmt vier große städtische Unternehmen Hamburgs in den Blick. Beleuchtet werden Personal- und Symbolpolitik, wirtschaftliche Entwicklungen und
die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs.
Dabei zeigt sich einerseits in vieler Hinsicht eine enge Einbindung der Unternehmen in Ideologie und Herrschaftsstrukturen des NS-Regimes, für das sie eine systemstabilisierende Funktion hatten.
Andererseits setzten die Serviceansprüche
der Bevölkerung und das fortdauernde Gebot wirtschaftlicher Betriebsführung der Ideologisierung auch Grenzen bzw. führten zu nicht aufgelösten Zielkonflikten.

Paul-Moritz Rabe
Braune Städte – schwarze Zahlen
Kommunale Finanzpolitik im
Nationalsozialismus
GWU 74, 2023, H. 11/12, S. 649–665
Öffentliche Haushalte bündeln gesellschaftliche Veränderungen, stimulieren wirtschaftliche Entwicklungen, stabilisieren oder destabilisieren politische Systeme. Trotzdem sind sie selten Gegenstand
historischer Forschungen. Der Beitrag zeigt am Beispiel München die Potentiale einer finanzsoziologisch erweiterten Kommunalgeschichte des Nationalsozialismus. Diese möchte keine menschenentleerte Zahlen-Analyse sein, sondern die Geschichten hinter den Finanzströmen offen
legen. Wie veränderte sich der Stadthaushalt unterm Hakenkreuz? Welche braunen Netzwerke wurden mit öffentlichen Geldern bedient? Auf welchen Wegen trugen die Gemeinden zur Finanzierung des Zweiten Weltkriegs bei? Und nicht zuletzt: Wie beteiligten sich die Verantwortlichen der städtischen Finanzverwaltung an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden?

Jan Eckel
Rapallo und die Suche nach der internationalen Nachkriegsordnung
GWU 74, 2023, H. 11/12, S. 666–678
Auch wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine brachte der 100. Jahrestag des Rapallo-Vertrags von 1922 ein intensives Gedenken hervor. Bei der historischen Einordnung des Geschehens trat
allerdings der vielschichtige internationale Kontext des deutsch-russischen Zusammenschlusses, im Einklang mit der
deutschen Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte, stark in den Hintergrund. Situiert man Rapallo dagegen in der internationalen Politik der 1920er und 1930er Jahre, so zeigen sich die deutsch-russischen Verhandlungen als Teil einer vielseitigen, in raschem Fluss begriffenen
internationalen Suche nach einer tragfähigen Nachkriegsordnung. Aus diesem Blickwinkel stellt sich Rapallo nicht als
historische Zäsur dar, wohl aber als ein Geschehen mit vielfältigen, wenn auch begrenzten, internationalen Folgewirkungen.

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