Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 74 (2023) 7/8

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 74 (2023) 7/8
Weiterer Titel 
Geschichte im Museum

Erschienen

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer, Didaktik der Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Weltweit dürfte kaum ein anderes Land über derart viele historische Museen verfügen wie Deutschland. Seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts bildete sich hier ein dichtes Angebot an Lokal- und Regionalmuseen beziehungsweise stärker thematisch ausgerichteten Institutionen aus, die über historische Ausstellungen unterschiedliche Lebensbereiche der Vergangenheit präsentierten. Meist spielten dabei politische Interessen eine herausragende Rolle, zuweilen verdankten die Museen ihre Existenz einem stärker bürgerschaftlichen Engagement. Gleichwohl begriffen die Verantwortlichen sich lange fast ausnahmslos als Teil einer affirmativen Geschichtskultur.

Seit den späten 1960er Jahren änderte sich die Lage grundlegend. Die damals aufkommende Forderung nach „Lernausstellungen“ wurde erstmals am Historischen Museum Frankfurt in die Praxis umgesetzt, dann aber schon bald von neuen Strategien der „Inszenierung“ von Geschichte abgelöst. Dieser Leitlinie folgen im Grunde die meisten historischen Museen bis zur Gegenwart, gleichzeitig halten viele von ihnen an der Idee ständiger Ausstellungen fest. Im Zeichen der sich wandelnden gesellschaftlichen Erwartungshaltungen wirken jedoch gerade die Dauerausstellungen mittlerweile oft überaltert und werden deswegen einer grundsätzlichen Revision unterzogen.

An diesem Punkt setzt das vorliegende Themenheft an. So analysiert Josef Memminger am Beispiel der seit 2017 im Historischen Museum Frankfurt gezeigten neuen Dauerausstellung sowie des 2019 in Regensburg eröffneten Museums der Bayerischen Geschichte, wie die beiden Institutionen Geschichte erzählen. Der Gegensatz könnte kaum größer ausfallen: Während die Ausstellung in Regensburg Bayern als identitätsstiftendes Erfolgsmodell präsentiert, erheben die Verantwortlichen in Frankfurt Offenheit im Geschichtsbild zum Programm. In übergeordneter Perspektive streben sie danach, eine Wende vom Fachmuseum für Geschichte zum Stadtmuseum für das 21. Jahrhundert zu vollziehen.

Die Stadt Frankfurt bot im Jahr 2020 ebenfalls die Bühne für die stark beachtete Wiedereröffnung des Jüdischen Museums. Tobias Freimüller stellt die neue Ausstellung unter dem Titel „Jüdisches Frankfurt von der Aufklärung bis zur Gegenwart“ vor, die in konsequenter Gegenwartsorientierung jüdisches Leben in seiner Vielfältigkeit sichtbar und erfahrbar macht. In den Vordergrund rücken darüber die Erfahrungen und Perspektiven von Jüdinnen und Juden, die als selbstbewusste Akteure und eben nicht nur als Angehörige einer Minderheit präsentiert werden.

Der nachfolgende Beitrag von René Küpper zum 2019 in München neu eröffneten Sudetendeutschen Museum richtet den Blick auf eine völlig andere Tradition. Zwar steht das hier diskutierte Fallbeispiel für eine international stärker auf Versöhnung abhebende Perspektive, die sich moderner Präsentationsweisen bedient. Gleichwohl gelangt Küpper zu einem kritischen Gesamturteil, da die Dauerausstellung in München eine Leistungsschau der Sudetendeutschen abgebe.

Das Themenheft wird ergänzt durch zwei Selbstdarstellungen zu historischen Ausstellungen sehr unterschiedlichen Typs. Zum einen zeichnet Joachim Mähnert die Wandlungen des Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg nach, das in einer 2018 neu eröffneten Ausstellung primär kulturgeschichtliche Fragen aufgreift und darüber ausdrücklich den Bezug zu aktuellen Themen wie Migration und Integration sucht. Zum an- deren stellt ein Autorenkollektiv das „ZeitZentrum Zivilcourage“ in Hannover vor, in dem alltägliche Lebensgeschichten der Stadt aus der NS-Zeit präsentiert werden. Im Mittelpunkt steht ein didaktisches Konzept, über das vor allem Jüngere für „eine inklusive Gesellschaft mit Zivilcourage“ sensibilisiert werden sollen.

Inhaltsverzeichnis

Abstracts (S.234)
Editorial (S.236)
Beiträge

Josef Memminger
Wie erzählen Historische Museen Geschichte(n)?
Eine Annäherung am Beispiel des Museums der Bayerischen Geschichte in Regensburg und des Historischen Museums Frankfurt
(S. 357)

Tobias Freimüller
Jüdische Geschichte heute?
Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt
(S. 376)

René Küpper
Das Sudetendeutsche Museum in München
Eine kritische Würdigung
(S. 385)

Michael Sauer
Kriegsbegeisterung im Schulbuch
Eine Fotografie und ihr Kontext
(S. 401)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Joachim Mähnert
Das Ostpreußische Landesmuseum im neuen Gewand
(S. 413)

Friedrich Huneke/Wiebke Hiemesch/Marian Spode-Lebenheim/Karljosef Kreter
Das ZeitZentrum Zivilcourage in Hannover
(S. 425)

Johannes Wegener
Mit künstlicher Intelligenz umgehen
Probleme und Potenziale des Einsatzes von ChatGPT für die geschichtsdidaktische (Hochschul-)Lehre
(S. 438)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
Deutsche Geschichtsmuseen 2.0
(S. 447)

LITERATURBERICHT

Ulrich Mücke
Lateinamerika
(S. 450)

NACHRICHTEN
(S. 466)

AUTORINNEN UND AUTOREN
(S. 472)

ABSTRACTS

Josef Memminger
Wie erzählen Historische Museen Geschichte(n)?
Eine Annäherung am Beispiel des Museums der Bayerischen Geschichte in Regensburg und des Historischen Museums Frankfurt
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 357–375
Der Beitrag setzt sich mit Akzentsetzungen beim Erzählen von Geschichte(n) in Historischen Museen auseinander. Zunächst wird das Thema in den Kontext „Geschichtskultur“ eingeordet. Darauf werden (geschichtsdidaktische) Ansprüche vorgestellt, die für eine gelungene Ausstellung in Historischen Museen gelten können. Im dritten Schritt werden grundlegende Erzählweisen in Museen in Auseinandersetzung mit Jörn Rüsens Sinnbildungstypen dargelegt und an jeweils einem Beispiel exemplifiziert. Schließlich werden zwei der Beispiele genauer in den Blick genommen: das Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg und das Historischen Museum Frankfurt.

Tobias Freimüller
Jüdische Geschichte heute?
Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 376–384
Das Jüdische Museum in Frankfurt am Main wurde 1988 als erstes kommunales jüdische Museum in der Bundesrepublik eröffnet. Nach einer Sanierung und Erweiterung des historischen Rothschild-Palais ist dort seit 2020 nun eine neue Dauerausstellung zu sehen. Präsentiert wird die Frankfurter jüdische Geschichte von der Zeit der Emanzipation um 1800 bis in die Gegenwart. Auch durch einen konsequenten Gegenwartsbezug soll die Ausstellung die Diversität jüdischen Lebens verdeutlichen, Empathie ermöglichen und Interesse wecken, sich mit Geschichte, Religion und Kultur des „jüdischen Frankfurt“ zu beschäftigen.

René Küpper
Das Sudetendeutsche Museum in München
Eine kritische Würdigung
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 385–400
Das Sudetendeutsche Museum ist in medientechnischer Hinsicht, in seiner Gestaltung sowie unter dem Aspekt der Barrierefreiheit durchaus als modern einzustufen. Inhaltlich ist es erkennbar ein Museum, das die Sudetendeutsche Landmannschaft sich selbst bzw. der sogenannten Sudeten- deutschen Volksgruppe errichtet hat. Imaginierte Territorien („Sudetengebiete“) wie Personengruppen (Sudetendeutsche) werden in die Vergangenheit rückprojiziert. Vor allem hinsichtlich der Geschichte des 20. Jahrhunderts folgt das Museum der offiziösen sudetendeutschen Meistererzählung, indem es eine sudetendeutsche Opfererzählung mit einer Leistungsschau verbindet.

Michael Sauer
Kriegsbegeisterung im Schulbuch
Eine Fotografie und ihr Kontext
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 401–412
Dass die deutsche Bevölkerung den Beginn des Ersten Weltkriegs mit einhelliger Begeisterung begrüßt habe, ist ein noch immer weit verbreiteter Mythos. Er wird häufig durch vermeintlich einschlägige Fotografien transportiert und gestützt. Der Beitrag analysiert nach einem kurzen Blick auf den Forschungsstand die Nutzung und Kontextualisierung eines der bekanntesten Fotos – marschierende junge Männer „Unter den Linden“ in Berlin – in deutschen Schulbüchern. Der Text mündet in Vorschläge für eine adäquate Darstellung des Themas „Kriegsbegeisterung“ im Geschichtsschulbuch.

Joachim Mähnert
Das Ostpreußische Landesmuseum im neuen Gewand
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 413–424
Das Ostpreußische Landesmuseum mit Deutschbaltischer Abteilung in Lüneburg erhielt 2018 im Rahmen einer grundlegen- den Erneuerung und Neuausrichtung auch eine neue Dauerausstellung. Bei Themen- und Exponatauswahl öffnet sich das Muse- um für allgemein Kultur- und Europainteressierte; auch Migration und Integration sind wesentliche Schwerpunkte. Als einziges Museum für die gesamte Region des früheren Ostpreußens ist die Präsentation interdisziplinär strukturiert; zeitlich reicht sie vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

Friedrich Huneke/Wiebke Hiemesch/Marian Spode-Lebenheim/Karljosef Kreter/
Das ZeitZentrum Zivilcourage in Hannover
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 425–437
Das ZeitZentrum Zivilcourage ist ein innovativer Lernort zur Geschichte der NS-Zeit in der Stadt Hannover. Die Konzeption geht angesichts alter und neuer rechtsradikaler Diskurse vom Leitbild einer inklusiven Gesellschaft mit Zivilcourage aus. Im Fokus stehen Alltagsbiografien in der vertrauten Topografie der Heimatstadt. Sie sind darauf strukturiert, menschliche Grunderfahrungen wie Ausgrenzung und Solidarität, soziale Lebensformen wie Täter:in, Mitläufer:in, Verfolgte:r und Widerstand Leistende:r in der sogenannten „Volksgemeinschaft“ zu erkunden und Entscheidungssituationen zu durchdenken: Mitmachen oder Widerstehen? Bleiben oder Gehen? Es sind die Widersprüche konkreter Lebensläufe, die jenseits plakativer Rollenklischees forschend-entdeckendes Lernen, Sach- und Werturteile herausfordern.

Johannes Wegener
Mit künstlicher Intelligenz umgehen
Probleme und Potenziale des Einsatzes von ChatGPT für die geschichtsdidaktische (Hochschul-)Lehre
GWU 74, 2023, H. 7/8, S. 438–446
Dieser Beitrag diskutiert Probleme und Potenziale des Einsatzes des Chatbot-Prototypen ChatGPT für die geschichtsdidaktische (Hochschul-)Lehre. Anhand zweier üblicher Aufgabenstellungen des geschichtsdidaktischen Grundstudiums werden die Beantwortung von ChatGPT kritisch analysiert und die Probleme des KI-Modells aufgezeigt. Anschließend werden die Potenziale eines möglichen Einsatzes durch Lehrende vorgestellt. Dabei wird die Position vertreten, dass die Thematisierung der begrenzten Expertise von ChatGPT in geschichtsdidaktischen Lehrkontexten zu einem kritisch-reflexiven Umgang mit Medien beitragen kann.

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