Religion und Gesellschaft in Ost und West 52 (2024) 3-4

Titel der Ausgabe 
Religion und Gesellschaft in Ost und West 52 (2024) 3-4
Weiterer Titel 
Was auf dem Spiel steht. Ukraine zehn Jahre nach dem Majdan

Erschienen
Zürich 2024: Selbstverlag
Preis
Jahresabonnement (print&digital) CHF 110,00; Abo für Studierende CHF 65,00; Einzelheft CHF 15,00

 

Kontakt

Institution
Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW)
Abteilung
Institut G2W
Land
Switzerland
PLZ
8002
Ort
Zürich
Straße
Bederstr. 76
Von
Regula Zwahlen, Forum RGOW, Religion & Gesellschaft in Ost und West (RGOW)

Mit der Majdan-Revolution und der andauernden russischen Aggression gegen die Ukraine seit 2014 ist vor zehn Jahren eine ukrainische Staatsbürgernation entstanden, die ihre Wahl getroffen hat und aktuell unter großen Opfern verteidigt: innenpolitisch für eine Demokratisierung und außenpolitisch für eine Orientierung Richtung Westen.

Alle Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe führen die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer im Krieg auf die Praktiken der Selbstorganisation, gegenseitiger Solidarität und Freiwilligenarbeit während des Euromajdan zurück. Sie blenden aber auch kritische Punkte nicht aus: die Kriegsmüdigkeit, die Gefahren einer schleppenden Korruptionsbekämpfung oder die zunehmenden Konflikte um die ukrainische Orthodoxie. Fest steht, dass die Ukraine in ihrem Widerstand gesamteuropäischer Solidarität bedarf.

Inhaltsverzeichnis

Viktor Stepanenko: Historischer Wendepunkt. Die Revolution der Würde in der Ukraine
Die Revolution der Würde, die von den Protesten auf dem Majdan 2013/14 ausging, bedeutete einen Bruch mit dem sowjetischen Erbe der Ukraine und mit Russland. Sie gab den Anstoß zu Reformen und einer verstärkten Annäherung an Europa und transformierte die ukrainische Gesellschaft grundlegend. Beim Großangriff Russlands 2022 ermöglichten diese neue Rolle der Zivilgesellschaft und der Rückgriff auf die sozialen Praktiken des Majdan eine schnelle Mobilisierung der Menschen zur Verteidigung des Landes.

Volodymyr Fesenko: Massenprotest und innere Konsolidierung. Vom Majdan zum Krieg
Im Widerstand gegen die russische Aggression hat die ukrainische Gesellschaft seit 2014 eine innere Konsolidierung durchlaufen, prorussische Haltungen werden nicht mehr akzeptiert. Im vollumfänglichen Krieg seit 2022 steht die Bevölkerung deutlich hinter dem Präsidenten, wenn auch heute in geringerem Maß als zu Kriegsbeginn. Enttäuschte Erwartungen und unsichere Perspektiven rücken die Innenpolitik allmählich wieder in den Vordergrund.

Nicolas Hayoz: Steiniger Weg. Autokratisierung und Demokratisierung in der Ukraine
Regionale informelle Machtnetzwerke haben seit den 1990er Jahren einerseits eine autokratische Entwicklung des politischen Systems in der Ukraine, andererseits aber auch eine umfassende Demokratisierung der „patronalen Demokratie“ verhindert. Der Widerstand gegen Russlands Angriffskrieg und die EU-Perspektive könnten die für eine liberale Demokratie notwendigen tiefgreifenden Veränderungen des politischen Systems bewirken.

Olexiy Haran: Go west. Die Ukrainer haben ihre geopolitische Wahl getroffen
Unter dem Eindruck des russischen Angriffs seit 2014 und insbesondere der Großinvasion seit 2022 hat sich die Einstellung der ukrainischen Gesellschaft zu Russland und zum Westen verändert. Die außenpolitische Orientierung nach Westen, inklusive Beitritt zur EU und NATO, ist Mehrheitsmeinung in der Ukraine, eine gemeinsame Zukunft mit Russland ist ausgeschlossen. Ambivalente und zögerliche Positionen im Westen und globalen Süden stoßen in der Ukraine auf Unverständnis.

Yulia Tyshchenko: Das Erbe der Revolution der Würde: Gesellschaftlicher Widerstand und Mobilisierung
Die Revolution der Würde 2013/14 hat tiefgreifende Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft ausgelöst, die auch zu Fortschritten bei der europäischen Integration der Ukraine und einigen erfolgreichen Reformen führten. Die russische Großinvasion traf somit auf eine in ihrer staatsbürgerlichen Identität gestärkte Gesellschaft, die auf reiche Erfahrungen in der Mobilisierung und Selbsthilfe zurückgreifen konnte. Damit sprang die Gesellschaft zumindest teilweise in die Lücke, wo der Staat überfordert war.

Ievgeniia Gubkina: Wir tanzen auf den Ruinen unserer Leben
Als Architektin reflektiert die Autorin über die Zerstörung des ukrainischen Architekturerbes durch den russischen Krieg gegen ihr Land. Vor dem Krieg stieß ihre Verteidigung des sowjetischen Architekturerbes auf Widerstand. Der Krieg führt zu einem veränderten Blick auf das gesamte kulturelle Erbe der Ukraine, sogar auf das sowjetische, das ebenfalls von den gezielten Angriffen auf die zivile Infrastruktur betroffen ist. Doch jenseits der Ruinen wächst eine neue und unzerstörbare Verbindung zum Kulturerbe der ukrainischen Gesellschaft.

Denis Trubetskoy: Auf Sendung. Ukrainische Medien vor und nach der russischen Großinvasion
Die größten Fernsehsender in der Ukraine gehörten vor der russischen Großinvasionen verschiedenen Oligarchen. Deren unterschiedliche politische Interessen garantierten jedoch auch eine Pluralität der Meinungen. Nach dem 24. Februar 2022 wurde eine einheitliche Nachrichtensendung auf fast allen Sendern eingeführt, deren Akzeptanz aber mit Dauer des Kriegs abnimmt. Seriöse Online-Medien decken trotz der Einschränkungen des Kriegsrechts weiterhin Korruptionsskandale auf.

Olga Tokariuk: „Ich lachte, um nicht zu weinen.“ Mit Humor gegen die russische Aggression
Ukrainischer Humor ist ein Instrument gegen russische Propaganda und Desinformation, das sowohl zur Stärkung der ukrainischen Resilienz als auch zur Gewinnung internationaler Solidarität mit der Ukraine eingesetzt wird. Dabei kommen Witze spontan „von unten“ und werden über soziale Netzwerke verbreitet, aber auch die Regierung setzt Humor in ihrer offiziellen Kommunikation ein.

Konstantin Sigov: Der Geist des europäischen Widerstands und seine Gefährdung
Der Widerstand gegen die russische Aggression ist nicht nur ein blutiger Verteidigungskampf der Ukraine gegen Russland, sondern auch ein Kampf ganz Europas für eine freie Gesellschaft. Anknüpfend an das Erbe europäischer Widerstandskämpfer sollten Europäerinnen und Europäer sich bewusst der Gefahr entgegenstellen, die ihnen durch die imperiale Revanche von Putins kriminellem Regime droht.

Myroslav Marynovytsch: Revolution des Geistes. Religiöse Aspekte der Revolution der Würde
Die Revolution der Würde verlieh nicht nur zivilen Bewegungen Schwung, sondern auch den ukrainischen Religionsgemeinschaften. Dank ihrer Präsenz auf dem Majdan und ihrer Unterstützung für die Protestierenden gewannen sie neues Ansehen in der ukrainischen Gesellschaft. Zugleich erreichte die interkonfessionelle und ökumenische Zusammenarbeit auf dem Majdan eine neue Qualität.

Sergii Bortnyk: Am Scheideweg. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche zehn Jahre nach dem Majdan
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die sich im Mai 2022 vom Moskauer Patriarchat losgesagt hat, befindet sich in einer schwierigen Lage. Von einem Großteil der ukrainischen Gesellschaft und Politik wird sie weiterhin als verlängerter Arm Moskaus wahrgenommen. Außerdem hat der kirchliche Konflikt mit der Orthodoxen Kirche der Ukraine an Schärfe zugenommen. Der Autor plädiert dafür, die innerkirchlichen Streitfragen von den Problemen des gegenwärtigen Kriegs und Fragen der nationalen Sicherheit zu trennen und einen Dialog über die öffentliche Rolle der Kirche zu führen.

Andriy Dudchenko: Von Konflikten überschattet. Die orthodoxe Kirche in der Ukraine in Kriegszeiten
Seit dem Überfall Russland auf die Ukraine ist auch die orthodoxe Kirchenlandschaft in der Ukraine in Bewegung. Fast 1 000 Gemeinden sind von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) zur Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) gewechselt. Viele Priester der UOK zögern jedoch, zur OKU überzutreten. Der Autor macht dafür jahrzehntelang eingeübte negative Narrative verantwortlich. Angesichts des russischen Angriffskriegs gelte es die Kräfte in der Ukraine zu bündeln – auch die kirchlichen.

Lidiya Lozova: Ukrainische Orthodoxie zehn Jahre nach dem Majdan: Richtungen, Fragen, Visionen
In den zehn Jahren seit der Majdan-Revolution hat sich die ukrainische Kirchenlandschaft dramatisch verändert. Die früher staatsnahe und mächtige Ukrainische Orthodoxe Kirche ist aufgrund ihrer ambivalenten Haltung stark unter Druck geraten. Die beiden früheren unkanonischen Kirchen hingegen sind in Form der Orthodoxen Kirche der Ukraine offiziell anerkannt und autokephal geworden. Nun stellt sich die Frage, wie mit dieser Situation umgegangen werden soll, und ob es über die konkreten Jurisdiktionsfragen hinaus eine Vision für eine vereinte ukrainische orthodoxe Kirche gibt.

Buchbesprechungen:

Myroslaw Marynowytsch: Das Universum hinter dem Stacheldraht. Memoiren eines ukrainischen Dissidenten. Stuttgart 2023

Anatolii Babynskyi: The Ukrainian Greek Catholic Church. A Short History. Lviv 2022

Ievgeniia Gubkina: Being a Ukrainian Architect During Wartime. Berlin 2023

Gionathan Lo Mascolo (ed.): The Christian Right in Europe. Movements, Networks, and Denominations. Bielefeld 2023

Weitere Hefte ⇓