Religion und Gesellschaft in Ost und West 51 (2023) 10

Titel der Ausgabe 
Religion und Gesellschaft in Ost und West 51 (2023) 10
Weiterer Titel 
Dauerbaustelle. Orthodoxie, Nation und Demokratie

Erschienen
Zürich 2023: Selbstverlag
Preis
Jahresabonnement CHF 95,00 / € 81,00; Abo für Studierende CHF 50,00 / € 42,00; Einzelheft CHF 15,00 / € 13,00

 

Kontakt

Institution
Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW)
Abteilung
Institut G2W
Land
Switzerland
PLZ
8002
Ort
Zürich
Straße
Bederstr. 76
Von
Regula Zwahlen, RGOW, Religion & Gesellschaft in Ost und West (RGOW)

Wie positionieren sich die orthodoxen Kirchen gegenüber den postkommunistischen demokratischen Systemen? Schätzen und fördern sie die soziopolitischen Bedingungen pluralistischer Zivilgesellschaften, oder streben sie eher eine privilegierte Stellung im Nationalstaat an, indem sie von einer engen Verknüpfung von religiöser und nationaler Identität ausgehen?
Während das 2020 vom Ökumenischen Patriarchat veröffentlichte Sozialethos der Orthodoxen Kirche vor einer „Verschmelzung von nationaler, ethnischer und religiöser Identität“ warnt (§10), unterstützt die Russische Orthodoxe Kirche den gegenwärtigen Krieg des russischen Regimes gegen die moderne „westliche Zivilisation“ und beschwört eine scheinbar harmonische „Symphonie“ zwischen (autoritärem) Staat und Kirche. Doch nicht nur im Extremfall Russlands ist Skepsis gegenüber liberalen Demokratien zu spüren, auch in anderen mehrheitlich orthodoxen Ländern stehen ihnen manche Gläubige aus historischen und theologischen Gründen zumindest ambivalent gegenüber. In vier Länderstudien und drei Beiträgen zu konstruktiven Auseinandersetzungen der orthodoxen Tradition mit Demokratie und Pluralismus gehen wir dem Verhältnis von Orthodoxie, Nation und Demokratie nach.

Inhaltsverzeichnis

Nathaniel Wood: Orthodoxe Theologie und demokratischer Pluralismus
Die orthodoxen Kirchen in den postkommunistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas streben häufig eine privilegierte Stellung im Nationalstaat an und stehen demokratischem Pluralismus skeptisch gegenüber. Im frühen 20. Jahrhundert haben russisch-orthodoxe Philosophen wie Simon Frank Wege gewiesen, wie die orthodoxe Theologie auch Begründungen für ein pluralistisches und demokratisches Gesellschaftsmodell bieten kann.

Regula Zwahlen: Orthodoxie und Demokratie? Exilrussische politische Theologie in der Zwischenkriegszeit
Über die Vereinbarkeit von Religion und Demokratie haben russische religiöse Intellektuelle, die sowohl der zaristischen „Theokratie“ als auch den atheistischen Sozialrevolutionären gegenüber kritisch eingestellt waren, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgedacht. Nach 1917 führten sie ihre Debatten über politische Bedingungen geistiger Freiheit und Nationalismus vor dem Hintergrund einer gesamteuropäischen „Krise der Demokratie“ im westeuropäischen Exil weiter.

Chris Durante: Die Desakralisierung der Nation in der orthodoxen Welt
Die historisch entstandene Struktur orthodoxer Nationalkirchen steht in einem Spannungs­verhältnis zur Verurteilung des sog. Phyletismus durch die Synode von 1872. Doch muss ein Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen ethnokulturellen Gemeinschaft von einem ethno-nationalistischen Hegemonie- und Uniformitätsstreben unterschieden werden. Ein multikultureller Ansatz könnte der Weltorthodoxie helfen, konstruktiv mit ihrer kulturellen Pluralität umzugehen.

Mihai-D. Grigore: Jenseits des Politischen? Die orthodoxe Kirche im postsozialistischen Rumänien
Die Rumänische Orthodoxe Kirche ist nach dem Systemumbruch wiederaufgelebt. Die Kirche hat eine Reihe sozialer Initiativen gestartet, und Religionsunterricht wurde wieder an den staatlichen Schulen eingeführt. Der rumänische Staat unterstützt die orthodoxe Kirche, so dass sich zwischen den beiden Institutionen eine enge Partnerschaft entwickelt hat. Innerhalb der Bevölkerung genießt die Kirche bis heute eine große Popularität.

Vukašin Milićević: Vermisste prophetische Stimme. Hybride Demokratie und orthodoxe Kirche in Serbien
Seit dem Zerfall Jugoslawiens haben sich in Serbien Kirche und Staat einander immer stärker angenähert. Die orthodoxe Kirche ist zu einer Unterstützerin einer Staatsmacht geworden, die die demokratischen Institutionen aushöhlt und immer autoritärer agiert. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage sowie des erstarkten prorussischen Flügels im serbischen Episkopat erscheinen die Perspektiven auf eine kirchliche Neuausrichtung ziemlich düster.

Daniela Kalkandjieva: Die Bulgarische Orthodoxe Kirche und die Versuchung des (Ethno-)Phyletsimus
Auf die Entstehung des Bulgarischen Exarchats reagierte die Synode von Konstantinopel 1872 mit der Verurteilung des sog. Ethnophyletismus. Mit diesem wird eine Unterordnung des orthodoxen Glaubens unter ethnische Identitäten und nationale Interessen bezeichnet. Nach dem Ende des Kommunismus kehrte die Bulgarische Orthodoxe Kirche zu der Vorstellung zurück, dass Nation und Religion eng miteinander verschränkt sein müssen. Dies hat zu einer ambivalenten Einstellung gegenüber demokratischen Freiheiten beigetragen.

Alexandros Sakellariou: Ambivalente Erfahrungen. Demokratie und Orthodoxie in Griechenland
Im 20. Jahrhundert kollaborierte die Orthodoxe Kirche von Griechenland mit zwei Diktaturen, von denen sie sich auch später nicht klar distanzierte. Heute bekennt sich die Kirche zur Demokratie als politischem System, lehnt aber in vielen Fragen inklusive und pluralistische Haltungen ab. Einige kirchliche Vertreter pflegen zudem enge Beziehungen zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien.

BUCHANZEIGEN

Hans-Peter Grosshans, Pantelis Kalaitzidis (eds.): Politics, Society and Culture in Orthodox Theology in a Global Age. Paderborn 2023

Michaela Maier u.a. (Hg.): Die Krisen der Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren. Wien 2023

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