Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW) 51 (2023), 4

Titel der Ausgabe 
Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW) 51 (2023), 4
Weiterer Titel 
Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 51 (2023), 4

Erschienen
Zürich 2023: Selbstverlag
Preis
Jahresabonnement CHF 95,00 / EUR 81,00; Abo für Studierende CHF 50,00 / EUR 42,00; Einzelheft CHF 15,00 / EUR 13,00

 

Kontakt

Institution
Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW)
Land
Switzerland
c/o
Institut G2W Bederstr. 76 CH-8002 Zürich
Von
Regula Zwahlen, RGOW, Religion & Gesellschaft in Ost und West (RGOW)

In dieser Ausgabe machen wir uns auf Spurensuche zu Russlands Weg in den Krieg. Es gibt verschiedene, jedoch einander ergänzende Erklärungsansätze, die sich mit dem russischen Regierungssystem als Elitenkartell oder Mafia-Staat, der revisionistischen Außenpolitik und dem Großmachtstreben auseinandersetzen.
Der Glanz der goldenen Kuppeln der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau vermag nicht über die Kriegsrhetorik von Patriarch Kirill hinwegzutäuschen: Der Rolle der Russischen Orthodoxen Kirche in der Zeit vor und im gegenwärtigen Krieg sind drei Beiträge gewidmet: zur Kollaboration der Kirchenleitung mit der Staatsmacht, zur kirchlichen Geschichtspolitik und über die Optionen von andersdenkenden, den Krieg verurteilenden Gläubigen und Geistlichen.
Dass die russische Gesellschaft immer wieder auch freiheitsliebende und widerständische Kräfte hervorgebracht hat, zeigen zwei Beiträge zur Ideengeschichte und zum aktuellen feministischen Widerstand in Russland.

Inhaltsverzeichnis

Hans-Henning Schröder: Repression und Revisionismus. Politische Leitlinien des russischen Regimes
Russlands Politik wird von einem Elitenkartell um Vladimir Putin bestimmt, deren Ziele Machterhalt und Kontrolle über die Ressourcenverteilung sind. Auf die Proteste gegen das Regime 2011/12 hat die Machtelite mit zunehmenden Repressionen gegen kritische Journalisten und die Zivilgesellschaft reagiert. Gleichzeitig verschärfte sie den antiwestlichen Diskurs. Die Furcht vor der eigenen Bevölkerung und ein verzerrtes Geschichtsnarrativ haben zu einer revisionistischen Außenpolitik geführt, die die europäische Sicherheitsordnung bedroht.

Sergei Erofeev: Machterhalt um jeden Preis. Putins Mafia-Staat und sein endloser Krieg
Unter Putin hat sich in Russland ein Mafia-Staat etabliert, der auf Loyalitätskauf und Terrormethoden beruht. Oberstes Ziel der Machtelite ist die Regimestabilität. Die Instrumentalisierung des imperialistischen Diskurses und der Krieg gegen die Ukraine dienen dem Machterhalt. Sollte Putin in der Ukraine geschlagen werden, wird er einen „Krieg gegen den Terror“ gegen die eigene Bevölkerung entfachen. Die Vorbereitungen dazu sind bereits jetzt erkennbar.

Alexander Graef: Russland, der Westen und die europäische Sicherheitsordnung
Mit dem Krieg gegen die Ukraine versucht Russland die nach dem Kalten Krieg entstandene europäische Sicherheitsordnung nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Russland sieht sich als Großmacht, hat sich aber nie zu einem attraktiven geopolitischen Anziehungspunkt entwickelt. Nach der Orangenen Revolution wandte sich die Ukraine der Integration ins europäische Wirtschafts- und Sicherheitssystem zu und bekräftigte dies in der Majdan-Revolution. Mit der Annexion der Krim und der Entfesselung des Krieges im Donbass 2014 versuchte der Kreml die Westorientierung der Ukraine zu verhindern.

Kristina Stoeckl: Vertane Chance: Der Weg der Russischen Orthodoxen Kirche zur Nationalkirche
Repression, Kollaboration, Dissidenz und Emigration waren prägende Erfahrungen der Russischen Orthodoxen Kirche während der Sowjetzeit. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR zeichnete sich die kirchliche Landschaft durch eine neue Vielstimmigkeit aus. Die jetzige Kirchenleitung verfolgt jedoch wieder sowjetische Strategien: Kollaboration mit Staatsmacht, was zu innerkirchlicher Spaltung und neuer Emigration führt.

Oleg Morozov: Komplizenschaft: Die „Kriegstheologie“ des Moskauer Patriarchats
Das Moskauer Patriarchat ist einer der wichtigsten geschichtspolitischen Akteure in der russischen Öffentlichkeit. In Zusammenarbeit mit dem Kreml hat die Kirchenleitung eine Staatsideologie entworfen, deren Schlüsselelemente Nationalismus, Militarismus und Demut vor den Autoritäten sind. Diese Ideologie bereitete den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vor und macht die Kirche mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen.

Regula Zwahlen, Natalija Zenger: Auf Tauchstation: Dissens in der Russischen Orthodoxen Kirche
Während das Moskauer Patriarchat den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eindeutig unterstützt, hüllen sich viele Geistliche der Russischen Orthodoxen Kirche, aber auch anderer Religionsgemeinschaften in Schweigen. Das Verhältnis von Befürwortung und Ablehnung des Kriegs unter Gläubigen entspricht demjenigen der gesamten russischen Gesellschaft. Für andersdenkende Geistliche und Laien bleibt vor allem in der orthodoxen Kirche wenig Raum für Anti-Kriegs-Äußerungen.

Leonid Luks: Zwischen Freiheit und Paternalismus. Anmerkungen zu einem russischen Dilemma
Eine angeblich historisch tief verankerte Autoritätshörigkeit der russischen Bevölkerung hilft zur Erklärung der gegenwärtigen russischen Gesellschaft nicht weiter. In allen Epochen der russischen und sowjetischen Geschichte stößt man auf alternative Stimmen. Der Rückblick auf die Dekabristen, die revolutionäre Intelligenzija oder sowjetische Bürgerrechtler zeigt, dass die Gesellschaft Russlands immer wieder widerständische Kräfte hervorgebracht hat.

Vanya Mark Solovey: Feminismus und aggressiver Imperialismus: Russische feministische Politiken in Kriegszeiten
Die feministische Bewegung in Russland hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Sie führt ähnliche Debatten, wie sie weltweit in feministischen Kreisen stattfinden. In der Reaktion auf den russischen Großangriff auf die Ukraine zeigen sich verschiedene Strömungen im russischen Feminismus: Von Solidarität mit der Ukraine über die Selbstdarstellung als Opfer bis hin zur offenen Unterstützung für die russische Regierungspolitik wird ein breites Spektrum an Haltungen sichtbar.

BUCHANZEIGEN

Tamina Kutscher, Friederike Meltendorf (Hg.) / dekoder: „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“. Kritische Stimmen zum Krieg aus Russland und Belarus. Berlin 2023

Kristina Stoeckl, Dmitry Uzlaner: The Moralist International. Russia in the Global Culture Wars (= Orthodox Christianity and Contemporary Thought). New York 2022

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