Historische Sozialkunde 45 (2015), 2

Titel der Ausgabe 
Historische Sozialkunde 45 (2015), 2
Weiterer Titel 
Vielfalt und Verteilung. Regionale, nationale und konfessionelle Verteilungsfragen in Europa

Erschienen
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
48 S.
Preis
6 €

 

Kontakt

Institution
Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung
Land
Austria
c/o
Die Zeitschrift wurde Ende des Jahres 2018 eingestellt. Der "Verein für Geschichte und Sozialkunde" ist seit Juni 2019 aufgelöst. Ein Kontakt zu den ehemaligen Herausgebern ist nicht mehr möglich.
Von
Fuchs, Eduard

Jana Osterkamp (Hrsg.)
Zur Geschichte von "Vielfalt und Verteilung"

Was erzählt eine Geschichte von Vielfalt und Verteilung? Die Vielfalt in Gesellschaften und Staaten ist ein Phänomen, das jeden von uns im Alltag begleitet. Wirft man einen Blick auf das heutige Frankreich, auf Deutschland, auf die Tschechische Republik oder auf Österreich, dann wird man nicht umhinkommen, auch für das, was wir gemeinhin „Nationalstaat“ nennen, gesellschaftliche Vielfalt zu konstatieren. Selbst wenn jeder dieser Staaten über eine Titularnation verfügt, dann haben wir es doch in deren Alltag mit nationalen Minderheiten, mit einer großen Sprachenvielfalt auf den Straßen, mit verschiedenen Religionen und mit Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft zu tun. Diese Vielfalt wird umso größer, wenn wir den Blick auf politisch gestufte Ordnungen lenken. So lässt sich etwa eine solche „Vervielfältigung von Vielfalt“ beobachten, wenn der Staat eine multinationale Föderation ist, wie zum Beispiel die Schweiz, Indien, Russland, Kanada oder Bosnien und Herzegowina. Geht man weiter zurück in die Geschichte, dann sind es die großen Reiche und Imperien, deren Signum die Bewältigung von Vielfalt ist - das Britische Empire, das Niederländische Reich, das Spanische Reich, aber auch die Habsburgermonarchie. Die Vielfalt in diesen Gesellschaften und Staaten ist dabei nicht nur eine nationale, sondern auch eine mit konfessionellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und regionalen Implikationen.

Im vorliegenden Themenheft soll es jedoch nicht um die geografische Verteilung von Vielfalt im modernen Staat oder auch in vormodernen Staaten gehen. Stattdessen steht das Spannungsfeld von „Vielfalt und Verteilung“ im Vordergrund. Es sind eher die Verteilungskämpfe, die an dieser Stelle interessieren. Nach welchen Kriterien und Maßstäben werden öffentliche Güter, wirtschaftlicher und politischer Einfluss, finanzielle Zuwendungen und Institutionen verteilt? Wie wird dabei auf die Vielfalt in einer Gesellschaft Rücksicht genommen? Bei dieser Fragestellung wird vorausgesetzt, dass die Verteilungskämpfe und deren Ergebnis, erstens, etwas über die Wichtigkeit und die Macht der einzelnen, miteinander konkurrierenden Gruppen aussagen, und zweitens, dass der erreichte Verteilungsschlüssel oder Verteilungsmodus Rückwirkungen auf die Vielfalt der Gesellschaft und den Staat hat. Die Beiträge dieses Themenheftes setzen einen Schwerpunkt auf Fragen der national ethnischen, konfessionellen, wirtschaftlichen und regionalen Vielfalt und der Verteilung von politischem, wirtschaftlichem und fiskalischem Einfluss.

Die ersten beiden Beiträge widmen sich dem Zusammenhang von ethno-konfessioneller Vielfalt und Verteilungsfragen. Ein Beispiel für die Institutionalisierung einer multiethnischen, multinationalen und multikonfessionellen Gesellschaft ist das heutige Bosnien und Herzegowina, das zu den weltweit kleinsten Staaten mit einer föderalen Struktur zählt. Vor nunmehr 20 Jahren hat das sogenannte Dayton-Abkommen für dieses föderale Mehrebenensystem einen strengen ethnisch-religiösen Proporz festgelegt, um durch diesen politischen Versuch einer verteilenden Gerechtigkeit den Bürgerkrieg zu beenden und dauerhaften Frieden zu schaffen. Das Abkommen und seine Umsetzung bringen allerdings bis heute politische und wirtschaftliche Verwerfungen mit sich. Der Beitrag des Geografen Horst Förster widmet sich diesen Folgewirkungen für Bosnien und Herzegowina.

Diese Perspektive wird durch den Beitrag von Sevan Pearson mit einer historischen Sichtweise ergänzt. Nicht nur unter den heutigen multinationalen Föderationen ist Bosnien und Herzegowina ein Sonderfall, auch im jugoslawischen Staatssozialismus hatte es eine Ausnahme-stellung. In den sechziger Jahren mussten die jugoslawischen Kommunisten eine Grundsatzfrage lösen: Wie ließ sich die Vielfalt von Bosnien und Herzegowina, dessen Bevölkerung konfessionell in Katholiken, Orthodoxe und Muslime sowie sprachlich in Serben und Kroaten und weitere Dialektgruppen geschieden war, eigentlich bezeichnen? Handelte es sich bei den bosnischen Muslimen um eine ethnische, eine nationale oder eine konfessionelle Gruppe? Da es bei dieser Frage nicht einfach nur um eine Bezeichnung ging, sondern handfeste Fragen nach politischer Macht im Raum standen, ging mit der Anerkennung der bosnischen Muslime als jugoslawische Nation auch die Durchsetzung eines nationalen Proporzes in Staat und Partei, Behörden und Wirtschaft einher.

Die folgenden zwei Beiträge zeigen das Zusammenspiel von regionaler bzw. föderaler Vielfalt und den damit verbundenen Verteilungsmechanismen in größeren Mehrebenensystemen. Stephanie Weiss entfaltet am Beispiel der Tschechischen Republik die Bedeutung der Regionen in Europa. Wie schon in der Geschichte so auch in der Gegenwart, knüpfen sich an die Dezentralisierung politischer Macht auf die Regionen je ganz unterschiedliche Erwartungen in Politik, Parteien und Zivilgesellschaft. Während die einen Demokratisierung und mehr Bürgernähe durch Regionalisierung erhoffen, stehen für andere wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten und bürokratische Effektivität an erster Stelle. Wie Weiss zeigt, ist durch Regionalisierung das Spannungsverhältnis zwischen dem Zentrum und Regionen keineswegs gelöst, allerdings gewinnen die Regionen mehr Macht und Einfluss, desto mehr sie ihre Handlungsspielräume nutzen.

Eine ganz ähnliche Dynamik lässt sich auch am Verhältnis von Kronländern und Reich in der Habsburgermonarchie zeigen, wie Jana Osterkamp deutlich macht. Zum Ende des 19. Jahrhunderts gewannen die Länder der österreichischen Reichshälfte an politischer Autonomie, die sie zum Teil extensiv nutzten. Indem die Länder wichtige Agenden der Modernisierung übernahmen und umsetzten, gewannen sie auch auf Reichsebene politische Macht hinzu. Bei der Neuverteilung der Finanzströme nach 1900 konnten sie dieses gestiegene politische Gewicht als Verhandlungsmasse gegenüber der Regierung einbringen. In einer bis dahin beispiellosen Aktion, einem Zusammengehen der Kronländer in einer politischen Frage, setzten die Länder einen für sie günstigeren Länderfinanzausgleich durch.

Der Beitrag von Björn Lemke nimmt die Wirtschaftsordnung der Habsburgermonarchie, insbesondere den Wirtschaftsausgleich zwischen Österreich und Ungarn in den Blick. Die Zeit-genossen waren sich über Chancen und Risiken der wirtschaftlichen Integration innerhalb der Habsburgermonarchie uneins. Während die einen auf Liberalität und Entwicklungschancen in einem durch Freihandel geprägten System setzten, wollten die anderen die wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Asymmetrien des liberalen Systems durch eine stärkere staatliche Förderung und Protektion überwinden. Dieser Konflikt zeigt sich nicht zuletzt an der sogenannten Quotenfrage, an der sich die binnenwirtschaftlichen Verteilungs- und Richtungskämpfe entzündeten.

Beim Beitrag von Ewald Hiebl „Einheit und Vielfalt. Blicke auf Europa“ handelt es sich um das Transkript einer 2006 für das „Salzburger Nachtstudio“ gestalteten Radiosendung, die sich Fragen der europäischen Solidarität bzw. der Vielfalt sozialer und ökonomischer Standards in Europa – seinerzeit gewissermaßen noch in der Atmosphäre der EU-Erweiterungseuphorie – angenommen hatte und die durch Ereignisse der jüngeren Vergangenheit – die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise, militärische Auseinandersetzungen an den Ostgrenzen Europas und der Umgang mit den durch Bürgerkriege in Nahost und afrikanischen Staaten verursachten Flüchtlingsströme - beträchtliche Relevanz gewannen und gewinnen.
Das Thema „Vielfalt und Verteilung“ wird in den Beiträgen in einer wirtschaftsgeografischen, politikwissenschaftlichen und vor allem historischen Perspektive durchgespielt. Der Rückblick auf einige der ‘Verteilungskämpfe‘ des Jahres 2015, erwähnt sei hier nur die Griechenlandkrise oder der Streit um das TTIP-Abkommen sowie die Debatten um den Länderfinanzausgleich der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich, geben einen Hinweis auf die Relevanz dieser Fragen für die Gegenwart. Verteilungskonflikte sind dabei immer wieder auch mit der Frage verbunden, welche Vielfalt als bewahrenswert und welche Vielfalt als weniger wichtig gilt – sei es im urbanen, regionalen, nationalen oder europäischen Zusammenhang.

Die Beiträge im Fachdidaktikteil knüpfen in einem aktuellen Kontext an die Themenstellungen der Kernbeiträge an: Der erste Beitrag stellt die Frage nach der Notwendigkeit von Landtagen als Entscheidungsinstrumenten in föderalen Strukturen und bereitet diese für einen Unterrichtsbaustein auf. Zwei weitere Unterrichtsmodule widmen sich einerseits der Verankerung und Akzeptanz der Europa-Idee auf dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, andererseits der Sprachenpolitik in der EU.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Jana Osterkamp
Zur Geschichte von "Vielfalt und Verteilung". Einleitung
S. 2–3

Horst Förster
Bosnien-Herzegowina: Von einer gespaltenen Gesellschaft zu einem gespaltenen Staat?
S. 4–10

Sevan Pearson
Vielfalt in Bosnien und Herzegowina und der "nationale Schlüssel"
S. 11–15

Stephanie Weiss
Regionalisierung zwischen Machtteilung und Politisierung
S. 16–21

Jana Osterkamp
Föderale Vielfalt und fiskalische Verteilung
S. 22–25

Björn Lemke
Wirtschaftliche Integration, sozioökonomische Ungleichheit und dualistische Verfassung
S. 26–30

Ewald Hiebl
Einheit und Vielfalt. Blicke auf Europa
S. 31–40

Fachdidaktik

Christoph Kühberger/Elfriede Windischbauer
Brauchen wir einen Landtag?
Ein Unterrichtsbaustein für die Sekundarstufe I
S. 41–42

Eduard Fuchs
Zwei Unterrichtsbausteine zum Thema Europa-Idee für die Sekundarstufe II
S. 43–47

Weitere Hefte ⇓