Historische Sozialkunde 44 (2014), 3

Titel der Ausgabe 
Historische Sozialkunde 44 (2014), 3
Weiterer Titel 
Da Fürchten lernen. Kinderrechte zwischen Anspruch und Realität

Erschienen
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
48 S.
Preis
Einzelheft: € 5,00; Jahresabo (4 Hefte): € 16,00 (zuzügl. Versand); € 12,00 (für Studierende, zuzügl. Versand)

 

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Institution
Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung
Land
Austria
c/o
Die Zeitschrift wurde Ende des Jahres 2018 eingestellt. Der "Verein für Geschichte und Sozialkunde" ist seit Juni 2019 aufgelöst. Ein Kontakt zu den ehemaligen Herausgebern ist nicht mehr möglich.
Von
Fuchs, Eduard

Editorial

Die Geschichte, der letztlich auch dieses Heft der „Historischen Sozialkunde“ zu verdanken ist, reicht bis ins Jahr 2010 zurück, als das ehemalige Heimkind Jenö Molnar in einer Veranstaltung schwere Vorwürfe erhob und damit eine Diskussion über die Verhältnisse in österreichischen Kinder- und Jugendheimen der Zweiten Republik auslöste. Erste Ansätze, eine breitere Öffentlichkeit mit dem Thema zu konfrontieren, gehen noch weiter zurück, waren aber nicht sehr erfolgreich. In Wien wurde schließlich 2010 die Opferschutzeinrichtung „Weißer Ring“ beauftragt, „Hilfe für Opfer von Gewalt in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt“ zu organisieren, einerseits unter dem Eindruck der kirchlichen Missbrauchsskandale, andererseits unter den sich verdichtenden Vorwürfen der Gewaltanwendung und des Missbrauchs in städtischen Heimen. Die Aufarbeitung der Vorwürfe gegenüber Vertretern des Klerus durch die sog. Klasnic-Kommission, aber auch die historische Befassung mit der Geschichte einschlägiger Heime in Tirol und Oberösterreich ermutigten immer mehr Betroffene, sich mit ihrer Vergangenheit intensiv auseinanderzusetzen.

Das Leid und die subjektive Befindlichkeit der ehemaligen Heimkinder in Wien standen im Mittelpunkt einer Historikerkommission, die im Frühjahr 2011 unter dem Vorsitz des Sozial- und Wirtschaftshistorikers Reinhard Sieder eingerichtet worden war. Auf Grundlage ausführlicher Tiefeninterviews mit Betroffenen kommt der Bericht dieser Kommission zur Schlussfolgerung „einer „historischen Katastrophe von unglaublichen Ausmaßen“. Aufgrund der Forschungsarbeiten erfolgte eine weitere Sensibilisierung der Öffentlichkeit und mündete schließlich in von mehreren Tageszeitungen lancierte, besonders gravierende Vorwürfe in Bezug auf das ehemalige Wiener Kinderheim Schloss Wilhelminenberg. Die Öffentlichkeit reagierte schockiert, was in Folge zur Einrichtung einer speziellen Untersuchungskommission mit dem Ziel der möglichst genauen Rekonstruktion der Ereignisse, aber auch der Klärung der Frage nach den Ursachen und Verantwortlichkeiten führte.

Im Zuge der Aufklärungsarbeit der letzten Jahre haben sich viele ehemalige Heimkinder stark eingebracht und stellten in der Folge auch die Frage nach dem längerfristigen Nutzen von solchen Einrichtungen. Diesem Thema geht Michael John im Rahmen eines Gesprächs mit Barbara Helige, der Vorsitzenden der Kommission Wilhelminenberg, nach. Das ehemalige Heimkind Sylvia Jauch berichtet im Interview über ihre Sicht der Dinge: „Kommission Wilhelminenberg. Ein Jahr danach – Zeit für eine Bilanz“. Ein Blick ins Internet, in die Heimkinder-Foren zeigt, dass die Frage der Effektivität solcher Kommissionen von den Betroffenen durchaus kontroversiell bewertet wird. Aber auch die Juristin Helige spannt den Bogen im Gespräch weiter, als der enge Kommissionsrahmen es vermuten lässt: Obwohl sich im Bereich der Kinderrechte und der Sicherung grundsätzlicher, menschenrechtlicher Standards in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in Österreich und international unzweifelhaft viel getan hat, scheint überbordender Optimismus nicht angebracht zu sein.

Gerhard Melinz hakt hier in seinem national und international ausgerichteten Überblick „Geschichte und Gegenwart von Kinderrechten im Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit“ ein. Er verweist darauf, dass die Frage der Kinderrechte weltweit bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert erörtert wurde und bereits vor 1945 eine bedeutsame Rolle spielte. Er skizziert die Rolle diverser Forschungsdisziplinen ebenso wie unterschiedliche Anwendungspraktiken im Kontext der Kinderrechte und verweist auf die immer wieder zu konstatierende Diskrepanz zwischen rechtlichen Verbesserungen und realpolitisch-fiskalischen Umsetzungshindernissen.

Auf der Ebene der konkret-historischen Untersuchung bewegt sich Reinhard Sieder mit dem Beitrag „Fürsorgeerziehung in Wien: Theorien und Praktiken“ und spannt den Bogen von der Gründungsphase der ‚modernen‘ Fürsorgeerziehung über die Zwischenkriegsjahre bis 1933/34, die Erziehungsfürsorge im austrofaschistischen und im nationalsozialistischen Staat bis hin zu neueren Entwicklungen mit ihren Kontinuitäten und Brüchen. So setzte um 1971 in Wien zwar ein Reformprozess ein, dem es mittlerweile etwa zweitausend Wiener Kinder und Jugendliche zu danken haben, nicht mehr in traditionellen Heimen, sondern in betreuten Wohngemeinschaften zu leben. Der damalige ‚Preis‘ scheint hingegen die ‚Entsorgung der Vergangenheit‘ gewesen zu sein, wie u.a. die verschwundenen Akten vom Kinderheim Schloss Wilheminenberg nahe legen.

Marion Wisinger wendet sich in ihrem Beitrag „Das Fürchten lernen. Über existenzielle Ängste in der Erinnerung an die Kindheit im Heim“ in erster Linie der direkten, persönlichen Erfahrung betroffener Heimkinder zu: Das Klima des willkürlich Ausgeliefertseins sowie die als bedrohlich empfundenen Schmerz- und Gewalterfahrungen lösten starke Ängste aus; in Erinnerung blieb die lebensfeindliche Atmosphäre einer gewaltbereiten Welt. Wisinger blickt in ihrem Beitrag auch über die Grenzen Österreichs hinaus nach Irland und verweist schließlich darauf („Nachrichten aus der Gegenwart“), dass es sich beim Thema problembehafteter Heim- und Fremdunterbringung keineswegs um ein rein historisches handelt.

Aus der Sicht der Fachdidaktik bringt Thomas Hellmuth den Beitrag „Kinderrechtsbildung im Geschichts- und Politikunterricht“ ein. Unter dem Gesichtspunkt der Anwendung im Unterricht thematisiert Hellmuth die Frage der Kinderrechte von der vormodernen Gesellschaft bis zur Gegenwart, von der Kinderarbeit bis hin zu neueren Kompetenz- und Autonomiebestrebungen und schlägt Brücken für die Umsetzung der Themenbeiträge dieses Hefts im schulischen Kontext.

Das Gefühl der eigenen „Wertlosigkeit“ dominiert die Erinnerung vieler ehemaliger Heimkinder nach wie vor, durchaus im Kontrast zur parallel verlaufenden Entwicklung der „Kinderrechte“ – dies zieht sich wie ein roter Faden durch das vorliegende Heft. Über Jahrzehnte waren Themen wie das vorliegende höchstens von fachwissenschaftlicher Bedeutung, während die ‚g’sunde Watsch’n‘ als Erziehungsmittel die öffentliche Diskussion bestimmte. Erst die internationale Entwicklung und das Medieninteresse der letzten Jahre sorgten für eine erhöhte öffentliche und mediale Aufmerksamkeit sowie wissenschaftliche Aufarbeitung. Die ‚g’sunde Watsch’n‘ deshalb als historisches Relikt an zusehen, scheint im Bereich des Wunschdenkens angesiedelt zu sein: In einer Erhebung der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit aus dem Jahr 2013 gaben 55% der (heute) 16- bis 20-jährigen Befragten an, selbst körperliche Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erlebt zu haben; 50 % der befragten Eltern bekennen sich nach wie vor zur Ohrfeige, 16 % zu schwereren Körperstrafen und nur 30 % wissen vom gesetzlichen Gewaltverbot. Angesichts dieser Befunde scheint eine breit angelegte Befassung mit der Thematik auch in Zukunft notwendig zu sein. Dazu gehört auch die konsequente Aufarbeitung der Vergangenheit ohne festgelegtes Zeitfenster mit Ablaufdatum, bis zu dem Untersuchungen „gestattet“ werden. Anzeichen für derartige Befürchtungen gibt es, wurde doch erst unlängst seitens eines großen österreichischen Förderungsfonds die Untersuchung eines bekannten Wiener Kinderheims und der damit verbundenen Verantwortlichkeiten mit dem Hinweis auf „knappe Mittel“ abgelehnt.

Ohne genauere Recherche lassen sich aber die zeithistorischen Ereignisse nicht dokumentieren. Die Geschehnisse laufen Gefahr, als temporäre Fehlentwicklung gesehen, anstatt als ein zu allen Zeiten gültiges Lehrstück über die Folgen diskriminierenden Umgangs mit Randgruppen und sozial Schwächeren begriffen zu werden. Räumt man dem Thema geringe Priorität ein, bleibt die Vergangenheit tatsächlich im Dunklen. Sylvia Jauch lebte sechs Jahre lang im Heim Wilhelminenberg und fragt: „Was ist mit den anderen Heimen. Es wäre wichtig, dass man auch die anderen Heime sukzessive untersucht ... Das ist auch wichtig für die Anerkennung der Betroffenen.“ Dies betrifft aber vor allem auch rechtliche Konsequenzen. Das Heim Wilhelminenberg wurde 1977 geschlossen, die Heimakten sind verschwunden; bei anderen Heimen ist die Aktenlage besser und sie wurden erst später geschlossen. Dies könnte durchaus Auswirkungen auf die Problematik der Verjährung von Vorkommnissen haben. Die Akten über der Frage der Heimunterbringung und damit auch das Zeitfenster wieder zu schließen, erscheint daher als eine sowohl gegenüber den Betroffenen unangemessene, als auch für nachfolgende Generationen wenig sinnvolle Vorgangsweise.

Michael John

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial, S. 2–3

Michael John/Barbara Helige/Sylvia Jauch
Kommission Wilhelminenberg. Ein Jahr danach – Zeit für eine Bilanz, S. 4–12

Gerhard Melinz
Geschichte und Gegenwart von Kinderrechten im Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit, S. 13–22

Reinhard Sieder
Fürsorgeerziehung in Wien: Theorien und Praktiken, S. 23–32

Marion Wisinger
Das Fürchten lernen. Über existenzielle Ängste in der Erinnerung an die Kindheit im Heim, S. 33–38

Fachdidaktik

Thomas Hellmuth
Kinderrechtsbildung im Geschichts- und Politikunterricht, S 39–48

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