sozialer sinn 5 (2004), 3

Titel der Ausgabe 
sozialer sinn 5 (2004), 3
Weiterer Titel 
Rekonstruktive Bildungsforschung

Erschienen
Leverkusen 2004: Leske + Budrich Verlag
Erscheint 
3 Hefte jährlich
Preis
Jahresabonnement: 126,– DM/112,50 SFr/920 ÖS

 

Kontakt

Institution
sozialer sinn: Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung
Land
Deutschland
c/o
Redaktion: redaktion@sozialer-sinn.de
Von
Loer, Thomas

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

mit bitte um freundliche Kenntnisnahme möchte ich Sie auf das Erscheinen des letzten Hefts des Jahrgangs 2004 von "sozialer sinn" hinweisen. Es ist zugleich das letzte Heft im VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mit dem Jahrgang 2005 wird die Zeitschrift im Verlag Lucius & Lucius erscheinen; die Erscheinungsweise wird auf zwei Hefte pro Jahrgang verändert werden.

Mit freundlichen Grüßen
Thomas Loer

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Rekonstruktive Bildungsforschung

Hans Oswald
Demütigungen und Statuskämpfe auf einer Klassenreise

Hansjörg Sutter
Entwicklungsorientiertes Fallverstehen. Eine hermeneutisch-rekonstruktive Fallstudie zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit

Detlef Garz
Studium als biographische Entwicklungschance

Ulrich Oevermann
Die elementare Problematik der Datenlage in der quantifizierenden Bildungs- und Sozialforschung

Ulrich Kolbe
Schulentwicklungsforschung als Prozessforschung. Ein Beitrag zur rekonstruktiven empirischen Bildungsforschung am Beispiel der Einführung ganztägiger Schulangebote

Zeitzeichen

Eike Emrich & Jens Flatau
Kaffeetrinken in Organisationen. Zur sozialen Bedeutung von Alltagsroutinen in formalisierten Arbeitsverhältnissen

Rezensionen
Kurt Lüscher, Ludwig Liegle: Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Konstanz 2003 (rezensiert von Stefan Kutzner)

Arlie Russell Hochschild: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Opladen 2002 (rezensiert von Ute Luise Fischer)

Christa Neuberger: Fallarbeit im Kontext flexibler Hilfen zur Erziehung. Sozialpädagogische Analysen und Perspektiven. Wiesbaden 2004 (rezensiert von Stefan Köngeter)

Abstracts

Hans Oswald
Demütigungen und Statuskämpfe auf einer Klassenreise

Dieser Aufsatz handelt davon wie sich Kinder einer fünften Grundschulklasse demütigen, wie sie sich gegen diese Bedrohungen des Selbst wehren und wie diese erlittenen Herabsetzungen mit sozialem Status zusammenhängen. Die Daten stammen aus einer qualitativen Studie, in der zwei Forscher zwei Wochen lang 32 Kinder in einem Schullandheim beobachteten. Die Interpretation der Szenen zeigt, dass Demütigungen und Degradierungen Verletzungen des Selbst bedeuten, die von den meisten Kindern situations- und personenabhängig mit oft heftiger Gegenwehr beantwortet werden. Betroffen sind vor allem statusniedrige Jungen, die versuchen, sich über andere zu erheben, und deren aggressive Akte oft als verständliche Reaktionen auf Ehrverletzungen gedeutet werden können. Statushohe Kinder beteiligen sich an diesen Prozessen, um die bestehende Statusstruktur zu sichern. Bei Bedrohung ihrer gehobenen Stellung bilden sie Koalitionen selbst über die Geschlechtsgrenze hinweg zur Abwehr von Emporkömmlingen.

Schlagworte: Kinder, Peers, Demütigung, Degradierung, sozialer Status, teilnehmende Beobachtung

Hansjörg Sutter
Entwicklungsorientiertes Fallverstehen. Eine hermeneutisch-rekonstruktive Fallstudie zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit

Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung unterstellt, von affektiven Faktoren der Urteilsbildung abstrahieren und kognitive Strukturen sozialen Verstehens und moralischen Urteilens diagnostisch im Sinne eigenständiger Entwicklungsdimensionen unterscheiden zu können. Aktuelle Forschungsbefunde legen eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Stufentheorie Kohlbergs nahe oder stellen stufentheoretische Konzeptualisierungen in der Kohlberg-Tradition prinzipiell in Frage. Dies zeitigt weitreichende Folgen für das Verständnis soziomoralischer Lern- und Entwicklungsprozesse und derer methodisch kontrollierten hermeneutischen Rekonstruktion. Am Beispiel zweier Interviews aus einem Modellversuch zur Förderung demokratischer Partizipation im Jugendstrafvollzug werden jene Analysedimensionen ausgewiesen, die eine hermeneutische Rekonstruktion biografisch vermittelter Lern- und Entwicklungsprozesse anleiten können. Primäre Analyseeinheit ist nicht das moralische Argument, sondern die soziale Situation. Methodologisch setzt dies die Berücksichtigung sequenzanalytischer Verfahrensprinzipien voraus. Anders als es das standardisierte Auswertungsverfahren der Kohlbergschule vermag, wird in der sequenzanalytischen Rekonstruktion das Zusammenspiel der handlungspraktisch und situativ relevanten Faktoren empirisch rekonstruiert. Neben der Kohlberg primär interessierenden kognitiven Strukturierung moralischer Urteile kommt damit die Aktualgenese moralischen Urteilens und Handelns ebenso in den Blick wie die soziale Situation, in der eine Person agiert.

Schlagworte: Soziale Kognition, moralisches Urteil, moralische Entwicklung, Demokratie und Moralerziehung; Fallverstehen; hermeneutische Rekonstruktion

Detlef Garz
Studium als biographische Entwicklungschance

Dieser Artikel untersucht die biographische Entwicklung von Studienanfängern in den Fächern Jura, Pädagogik, Physik und Anglistik. Die Studierenden wurden zu Beginn ihres Studiums sowie ein Jahr später befragt. Als Ergebnis werden sowohl Einzelfallstudien als auch Typen und deren Veränderungen präsentiert.
Schlagworte: Biographische Forschung, Studierende, narratives Interview, narrationsstrukturelle Auswertung, Fritz Schütze, Einzelfallstudie, Typenbildung

Ulrich Oevermann
Die elementare Problematik der Datenlage in der quantifizierenden Bildungs- und Sozialforschung

Dieser Artikel entfaltet eine grundlegende, erkenntnistheoretisch begründete Kritik der quantitativen Sozialforschung und komplementär dazu eine Begründung des rekonstruktionslogischen Standpunkts der objektiven Hermeneutik. Ausgehend von der Analyse des elementaren epistemischen Akts der Prädikation wird die Frage der Geltungsbasis empirischer Forschung aufgeworfen. Deren Gegenstand sind Protokolle der Wirklichkeit, und nicht die protokollierte Wirklichkeit selbst. Das gilt für die „stochastische Welt“ (Naturwissenschaft) ebenso wie für die sinnstrukturierte Welt (Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaft). Von hier aus zeigen sich für die quantifizierende Forschung und die Logik ihrer Datenerhebung und -auswertung gravierende Probleme, die im einzelnen durchgegangen werden. In Rücksicht auf die mathematischen Verfahren der Datenauswertung wird – im Gegensatz zu „natürlichen“ Protokollen auf der Grundlage gerätevermittelter Aufzeichnungen – eine „arme“, unauthentische und letztlich unzuverlässige Protokollierung der sinnstrukturierten Welt in Kauf genommen. Diese methodische Insuffizienz bezüglich des Gegenstands kann auch durch die scheinbar formal gesicherten Operationen der Datenauswertung nicht beseitigt werden. In einem abschließenden Kapitel werden die technokratischen Implikationen der methodischen Position der „empirischen Bildungsforschung“ herausgearbeitet.

Schlagworte: objektive Hermeneutik, Datenerhebung, Prädikation, soziologische Erkenntnisitheorie

Fritz-Ulrich Kolbe
Schulentwicklungsforschung als Prozessforschung. Ein Beitrag zur rekonstruktiven empirischen Bildungsforschung am Beispiel der Einführung ganztägiger Schulangebote

Dargestellt wird eine Studie zur lokal entwickelten Einführung ganztägiger Schulangebote, die Schulentwicklungsforschung als Prozessforschung durchführt. Der erste Teil behandelt das methodische Vorgehen. Daran anschließend werden das Forschungsvorhaben und seine Ergebnisse knapp skizziert. Für die Prozesse lokaler Schulentwicklung durch Lehrer lässt sich ein Strukturmodell abstrahieren. Argumentationsmuster, Orientierungsmuster der Schulkultur, Kooperationsstrukturen und die Strukturierung des entwickelten Angebotes sind für den Prozessverlauf entscheidend. Kooperationsstrukturen, die Partizipation ermöglichen, und gemeinsame pädagogische Erarbeitung der Angebotsdurchführung werden als Bedingungen dafür deutlich, über die Fortschreibung unterrichtlicher Handlungs- und Interpretationsmuster hinaus Neues entstehen zu lassen. Als zentral für das Gelingen der Entwicklung ganztägiger Schulangebote lässt sich deshalb eine Steigerung der Professionalität und ein reflektierter Umgang mit Organisation herausstellen.

Schlagworte: Schulentwicklungsforschung, pädagogische Professionalität, Prozessforschung, struktural-hermeneutische Rekonstruktion, demokratische Partizipation, Schulentwicklung, ganztägige Schulangebote

Eike Emrich & Jens Flatau
Kaffeetrinken in Organisationen. Zur sozialen Bedeutung von Alltagsroutinen in formalisierten Arbeitsverhältnissen

Wenngleich aus soziologischer Sicht wenig beachtet, so stellt doch das Trinken von Kaffee eine für formale Organisationen unseres Kulturkreises typische Form temporärer Vergemeinschaftung dar und erfüllt als solche eine Reihe wichtiger sozialer Funktionen. Es schafft einen kleinsten gemeinsamen Nenner und ist in den verschiedensten Situationen eine mehr oder weniger verbindliche und die Kommunikationsaufnahme erleichternde Rahmenbedingung. Das (Nicht-) Anbieten einer Tasse Kaffee sowie die Art und Weise, auf welche es geschieht, transportiert als soziales Drehbuch institutionalisierte soziale Deutungsmuster. Formale Statusdifferenzen können betont oder aber infolge der entstandenen Informalität verringert werden. Ambivalenz findet sich auch in den individuellen Motiven des Konsums von Kaffee in formalen Organisationen, ist er doch legales, leistungssteigerndes Aufputschmittel und Möglichkeit zum Rückzug vom Organisationsstress zugleich. Darüber hinaus erfüllt das Kaffeetrinken, räumlich in Form einer Kaffeeküche oder Cafeteria zentriert, neben der Entlastung von der Arbeit die Funktion eines informellen Kommunikationskanals.

Schlagworte: Kaffeetrinken, Vergemeinschaftung, formale Organisation, informelle Kommunikation, natürliche Systeme

Hans Oswald
Humiliation and fights for social status in a holiday camp

This paper focuses (1) on humiliation among children of grade five, (2) on counterattacks by the injured children, and (3) on the interdependence between humiliation and social status. Data come from a qualitative study, in which two researchers observed 32 children during a two-week stay in a „Schullandheim“ (resembling a holiday camp). The interpretation of interaction scenes reveals that humiliations and derogations are attacks against the self, which are mostly answered by strong counterattacks depending on situational circumstances and personal resources. Targets are mostly boys of low status after trying to gain a higher position. Their aggressive acts following the humiliation may appear justified as reactions to the injuries suffered. Children of high reputation are involved in such derogation processes in order to confirm the status system of the group. They form coalitions even between girls and boys to secure their high position.

Keywords: children, peers, humiliation, degradation, social status, participant observation

Hansjörg Sutter
Development oriented approach to case studies. A hermeneutic – reconstructive case study on the development of moral reasoning

Kohlberg’s psychology of moral development assumes, that we are able to abstract from affective factors in the forming of judgment and to distinguish cognitive structures of social understanding and moral judgment diagnostically in the sense of independent development dimensions. Current research findings suggest a reconstruction of Kohlberg’s stage theory in a frame of reference of action theory or question the stage theoretical conceptualism in the Kohlberg theory. This produces far reaching effects for the understanding of socio-moral learning and development processes and their methodically controlled hermeneutic reconstruction. Considering two interviews from a pilot project for the promotion of democratic participation in a youth detention center, the analytical dimensions are pointed out, which can guide a hermeneutic reconstruction of biographically mediated learning and development processes. The primary analysis unit is not the moral argument, but rather the social situation. Methodologically this presumes to refer to sequenceanalytical procedure principles. Different from what the Standard Issue Scoring Manual of the Kohlberg school is able to do, in the sequence-analytical reconstruction, the interaction of factors relevant to action and situation is empirically reconstructed. In addition to the primarily interested cognitive structuring of moral judgments by Kohlberg, the actual genesis of moral judgments and actions is also part of analysis as well as the social situation of action.

Keywords: Social cognition, moral judgment, moral development, democracy and moral education, case study, hermeneutic reconstruction

Detlef Garz
University studies as a chance for biographical development

This article looks into the biographical development of freshmen studying law, education, physics, and English language and literature, respectively. Students were interviewed at the very beginning of their course of studies and again one year later. As a result, both single case studies and typologies and their alterations are presented.
Keywords: biographical research, university students, narrative interview, narrative analysis, Fritz Schütze, case study, formation of types

Ulrich Oevermann
Elementary difficulties of data quality in quantitative empirical research in the educational and social sciences

This article develops an elementary epistemological ciriticism of quantitative empirical research and carves out the methodological standpoint of „objective hermeneutics“. The crucial epistemological point lies in the problem of data at the hiatus between the immediate experientially given observation and the protocol of observation. It is argued, that data of empirical research can only be understood as „record“ („Protokoll“) of reality, not as reality as such. But the data records of standardized and quantitative research are far away from reality. They must be seen as „poor“ and artificial records of the reality they refer to. In contrast the necessity of „natural records“ as data of social research and the importance of hermeneutic reconstruction of these records is pointed out. As implications of this methodological problem the special technocratical consequences for „educational research“ (Bildungsforschung) are outlined.

Keywords: empirical research, data, record, objective hermeneutics, predication, sociological epistemology

Fritz-Ulrich Kolbe
Case orientated research on processes of school development. A contribution to reconstructive educational research on the offering of alltime schools

This study performs research on school development as an analysis of developmental processes. First the methodical approach of micrological process research is described closer. Then the contribution scetches design and main results. For local development of fulltime school offers by teachers a structural model is described. Patterns of argumentation, patterns of interpretation as part of the local school culture, cooperation and the structures of the full-time offers are shown as the constitutive elements of the developmental process. In order to create new offers beyond already shared scripts of pedagogical action and patterns of pedagogical interpretation the study points out structures of cooperation opening space for participation and a joint elaboration of the offers_ performance as important aspects. Therefore the improvement of professionality and a more reflective use of organization can be focussed as central conditions for sucessful development.

Keywords: research on school development, professionality of pedagogical action, case orientated research on developmental processes, hermeneutic-reconstructive analysis, democratical participation within organisational development, school development, fulltime offers of schooling

Eike Emrich & Jens Flatau
Drinking coffee in organisations. On social meaning of every day life’s routines in formalised working contexts

Even though from a sociological point of view not much attention has been paid to the drinking of coffee in formal organizations, it is a typical form of temporary communal social relationships and serves as such some important social functions. It creates a common denominator and is in various situations a more or less obligatory setting that facilitates the entering of communication. The (not-) offering of a cup of coffee and the way it takes place can emphasize or, as a result of informality, reduce formal status differences. Ambivalence can also be found in the individual motives for drinking coffee in formal organizations, as it is a legal, performance-increasing drug and a possibility to redraw from the stress in the organization at same time. Moreover, with its spatial centre in a kitchen or cafeteria, coffee-drinking serves the function of an informal communication channel.

Keywords: coffee-drinking, communal social relationships, formal organization, informal communication, natural systems

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