Das Multigedenkjahr 2019 lässt keine erinnerungskulturelle Pause zu: vor 100 Jahren trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft und fanden die ersten demokratischen Wahlen für alle in Deutschland statt; am 1. September vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg; vor 75 Jahren scheiterte das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli; vor 70 Jahren wurde das Grundgesetz verabschiedet; vor 30 Jahren fand in der DDR die friedliche Revolution statt und öffnete sich die Berliner Mauer. Evangelische Christen und Christinnen waren in alle diese Ereignisse aktiv involviert und auch die Kirchen wurden von ihnen wesentlich tangiert, man denke nur an die Religionsartikel der beiden deutschen Verfassungen von 1919 und 1949.
Historische Forschung darf sich durchaus von solchen Gedenkjahren inspirieren lassen. Doch ist es auch ihre Aufgabe, Erinnerungskultur zu historisieren. Dies leistet der Kirchenhistoriker Tim Lorentzen in seinem Beitrag am Beispiel der Erinnerung an das Attentat vom 20. Juli 1944. Zugleich reflektiert er über die kirchengeschichtliche Gedächtnisforschung als theologische Aufgabe.
Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit historischen Ereignissen und deren Folgen, die sich im vergangenen Jahr zum hundertsten bzw. fünfzigsten Mal jährten. In dem Beitrag des Prager Historikers Petr Hlaváček geht es um die identitären Auseinandersetzungen nach der tschechischen Staatsgründung von 1918. Im nichtkatholischen Milieu Tschechiens flammte damals ein Kampf darum auf, wer zum legitimen religiösen Repräsentanten der erneuerten nationalen Souveränität und der „Nation der Hussiten“ werden sollte. Auch ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit der tschechischen Kirchen- und Religionsgeschichte. Auf der Grundlage zahlreicher Interviews analysiert der Prager Kirchenhistoriker Michael Pfann die Erinnerung der Pfarrer der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder an den Prager Frühling 1968. Retrospektiv sehen die Pfarrer diese Zeit vor allem als eine Phase der intensiven Begegnung und des offenen Gesprächs. Die zeitgenössische Wahrnehmung der politischen und kirchlichen Entwicklung durch Christinnen und Christen steht im Mittelpunkt des Beitrages der Theologin Deborah Dittmer. Sie wertete den Briefwechsel zweier Theologiestudierender aus den Jahren 1933 bis 1938 auf deren Einstellung zum Nationalsozialismus und zur sogenannten Judenfrage hin aus. Dabei markiert sie deren Abweichungen von der Position der Bekennenden Kirche.
Frei von Gedenkanlässen beschäftigen sich zwei Beiträge mit dem Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland. Claudia Lepp nimmt die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft unter ihrem Leiter Georg Picht in den Blick und kennzeichnet deren Arbeit während der sechziger Jahre als die eines protestantischen Think Tanks. Die Historikerin zeigt, wie die FEST nicht zuletzt durch die Hilfe eines überwiegend informellen Netzwerks einer protestantischen Bildungselite Themen identifizierte sowie Analysen und Lösungsansätze in Kirche, Politik und Gesellschaft einspeiste. Janning Hoenen untersucht das Verhalten des bayerischen Landesbischofs Johannes Hanselmann in den Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf auf der Grundlage von dessen Verständnis vom Verhältnis von Kirche und Politik. Hanselmanns Position der „unbequemen Mitte“ führte in diesem Fall, so der Theologe Hoenen, mehr zur Ohnmacht als zu Gestaltungsfreiheit.
Ein weites Spektrum zeitgeschichtlicher Forschung auf dem Feld der Religions- und Kirchengeschichte bilden die Berichte über laufende Dissertationsprojekt ab. Vier junge Theologinnen und Theologen stellen hier ihre Themen und Fragestellungen vor. Uta Elisabeth Hohmann beschäftigt sich mit der parlamentarischen Arbeit von Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz und fragt nach den Wechselwirkungen mit deren theologischer Profession. Katharina Troppenz untersucht, mit welchen Motiven Aktion Sühnezeichen ihre Arbeit aufnahm und mit welchen Widerständen sie in ihrer Gründungsphase (1958–1968) zu kämpfen hatte.
Forschungsgegenstand sind das Wirken der Aktion Sühnezeichen in Polen und Israel sowie ihre Rückwirkung auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Nikolas Keitel will in seiner Dissertation die „Sekundärdebatten“ um den status confessionis daraufhin untersuchen, welche Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Rolle und Aufgabe des Protestantismus darin zum Austrag kommen und was darin als wesensmäßig für die protestantische Identität beschrieben wurde. Katharina Herrmann analysiert, wie sich das Neue Geistliche Lied in seinem Entstehungszusammenhang ab 1960 mit neuen Gottesdienstformen und dem Kirchentag als Multiplikationsforum den Themen der Zeit zuwendet und ethische Überzeugungen protestantischer Praktiker popularisiert.
INHALT
Editorial 7
AUFSÄTZE
Ein Höhepunkt der böhmischen Reformation? Die Christen und die Erneuerung der tschechischen Staatlichkeit im Jahre 1918 Petr Hlaváček 11
„Zeugnis gegen uns“? Die Bekennende Kirche und die Juden im Briefwechsel zweier Theologiestudierender (1933–1938) Deborah Dittmer 25
Was ist kirchengeschichtliche Gedächtnisforschung? Reflexionen zum 20. Juli Tim Lorentzen 47
Der Prager Frühling in der Erinnerung der Pfarrer der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder Michael Pfann 77
Ein protestantischer Think Tank in den langen sechziger Jahren der Bundesrepublik: Georg Picht und die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Claudia Lepp 109
Hanselmann in Wackersdorf. Zum Verhältnis von Kirche und Politik beim bayerischen Landesbischof Johannes Hanselmann am Beispiel der Auseinandersetzung um die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf Janning Hoenen 133
FORSCHUNGS- UND TAGUNGSBERICHTE
Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier Uta Elisabeth Hohmann 159
Aktion Sühnezeichen in den Jahren 1958–1968 als christlicher Beitrag zur Versöhnung mit Polen und Israel nach 1945 Katharina Troppenz 165
Nihil est adiaphoron. Der protestantische Streit um den status confessionis im 20. Jahrhundert Nikolas Keitel 173
Kommunikation durch Popularisierung. Kulturelle Repräsentationen protestantischer Ethik im neuen Kirchenlied Katharina Herrmann 181
Deutsche evangelische Auslandsgemeinden im 20. Jahrhundert. Zwischen Nationalprotestantismus und Ökumene Gisa Bauer 187
Christliche Willkommenskultur? Die Integration von Migranten als Handlungsfeld christlicher Akteure in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Luise Poschmann 195
Kirchen in Mitteleuropa über das Epochenjahr 1918 Siegfried Hermle 201
NACHRICHTEN
Nachrichten aus der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 207
Neuerscheinungen 207
Tagungen 210
Veröffentlichungen und Vorträge 212
Nachrichten aus Kirchengeschichtlichen Vereinigungen 223
Autorinnen und Autoren der Beiträge 235