Kritische Ausgabe 13 (2010), 1

Titel der Ausgabe 
Kritische Ausgabe 13 (2010), 1
Weiterer Titel 
Familie

Erschienen
Bonn 2010: Selbstverlag
Erscheint 
halbjährlich (Frühjahr/Herbst)
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 5,00

 

Kontakt

Institution
Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur
Land
Deutschland
c/o
Kritische Ausgabe Germanistisches Seminar der Universität Bonn Am Hof 1d D-53113 Bonn Tel./Fax: (0228) 61 96 757
Von
Viertelhaus, Benedikt

Familie ist ein immer aktuelles Thema. Kein Wunder, dass es auch in der Literatur eine große Rolle spielt. Schnell denkt man an Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“, der bereits mit dem Untertitel „Verfall einer Familie“ deutlich macht, dass Familie auch ein fragiles Gebilde sein kann. Jeder hat eine Familie, und schon wenn einer der Elternteile im Leben eines Menschen keine Rolle mehr spielt – oder nie gespielt hat –, geht etwas unersetzbar verloren. Familie ist etwas irgendwie ‚Normales’ und zeigt sich doch in all ihren möglichen Konstellationen als etwas Besonderes. Gleichwohl, wer heute von einer normalen Familie spricht, hat meist noch immer zuerst das seit Jahrhunderten überlieferte Ideal vom Zusammenleben zweier Eltern mit Kindern vor Augen. Das Themenspektrum der Artikel dieses Heftes hingegen ist so vielfältig wie die Zahl denkbarer Familienkonstruktionen. Angefangen bei den Märchen der Gebrüder Grimm bis hin zu den Filmen Michael Hanekes decken die Beiträge auch eine breite Zeitspanne ab.

In den Märchen der Gebrüder Grimm spielt Familie bei über 50 % der Handlungen mit menschlichen Protagonisten eine tragende Rolle. Mareike Bohnen zeigt in ihrem Aufsatz auch, dass es nur wenige Ausnahmen gibt, in denen eine Drei-Generationen-Familie vorkommt. Eigentlich kein Wunder bei Texten aus einer Zeit, in der die Lebenserwartung um einiges niedriger war als heute, etwa bei der hohen Muttersterblichkeit damals, die sich auch in dem uns aus Märchen so präsenten Bild der Stiefmutter widerspiegelt. Heute sind die Gründe für das Zerbrechen von Familien freilich meist andere. Andreas Jüngling hat Julia Flint-Ayadi, eine Anwältin für Familienrecht, daher gefragt: Ist Familienrecht heute Scheidungsrecht?

Auch wenn die stetigen Veränderungen der Familienverbände immer auch einen Verlust von Orientierungspunkten im Leben bedeuten, bleibt Familie in politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten Rückzugsort. Beispiele hierfür liefert der erfolgreiche amerikanische Familienroman des vergangenen Jahrzehnts. Mit ihm hat sich Zuzanna Jakubowski beschäftigt. Angefangen mit Jonathan Franzens „Korrekturen“ sind besonders seit dem 11. September 2001 auffällig viele Familienromane erschienen. Jakubowski zeigt auf, auf welche Weise sich hier neorealistische und selbstreflexive Elemente paaren. Familie stellt sich auch hier als „essentielle und essentialistisch gesellschaftliche Grundlage“ dar, und so ist es wenig verwunderlich, dass auch die Staatenbildung oftmals mit dem Bild der Familie verglichen wird.

In unserem Literaturteil, den dankenswerterweise der Deutsche Literaturfonds gefördert hat, beschäftigen sich neun Autorinnen und Autoren mit dem Thema Familie. Auch hier zeigt sich, dass Familie oft mit Konflikten einhergeht, in deren Kern die Frage nach der Identität des Einzelnen steht – so zum Beispiel in dem Auszug aus Marko Milovanovics noch unveröffentlichtem Roman „Fernlicht“, der mit den bezeichnenden Sätzen endet: „Mein Vater hat nicht existiert. Ich existiere nicht.“

Gewohnt vielseitig präsentieren sich unsere weiteren Rubriken, so etwa zur germanistischen Forschung. Fabian Beer geht ausführlich dem Verhältnis zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt nach und zeigt, bei aller Unterschiedlichkeit dieser beiden Künstler, auch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen auf – hier gebündelt im Motiv des Schachspiels. Im neuesten Teil der Reihe „In der Tat: Linguistik“ stellt Bernhard Fisseni die Computerlinguistik vor. Und Florian Radvan erinnert sich in einem Portrait an seinen Doktorvater, den Schriftsteller und Hochschullehrer W.G. Sebald.

In letzter Zeit zeigt auch die deutsche Literaturwissenschaft verstärkt Interesse am Comic, der mit der Graphic Novel eine Untergattung, die eher dem Roman als der lustigen Kurzgeschichte ähnelt, gefunden hat. Ute Friederich bespricht in unseren Rezensionen mit Rutu Modans „Blutspuren“ eine Bildergeschichte, die zeigt, wie heute ernste Themen in diesem Genre aufgegriffen und verhandelt werden.

Um Ihnen einen Einblick zu geben, präsentieren wir Ihnen auch dieses Mal wieder Auszüge aus allen Artikeln auf unserer Website. Dort finden Sie auch eine Auswahl vollständiger Texte, die Sie sicherlich auf die gesamte Ausgabe neugierig machen werden.

(Benedikt Viertelhaus, Chefredakteur)

Inhaltsverzeichnis

THEMA

Mareike Bohnen: „Mein Mutter, der mich schlacht / Mein Vater, der mich aß“. Abschreckung als Sittenlehre: die Familie im Grimmschen Märchen

Martin Blawid: ‚Passion des Sohnes’. Kindliches Selbstkonzept und patriarchalische Dominanz in Hermann Hesses Erzählung „Kinderseele“

Alexander Scholz: Routiniert in den Tod. Die Familien in Michael Hanekes Filmen sind so normal, dass sich niemand mit ihnen identifizieren möchte

Steffen Groscurth: Ein Heim, das nicht mehr atmete. Die entfremdete Familie in Peter Weiss’ Erzählung „Abschied von den Eltern“

Zuzanna Jakubowski: ‚Homely and Real’. Vermittelte Realität im kontemporären amerikanischen Familienroman

Andreas Jüngling: „Die Partnerschaft ist für mich ein großer Wert an sich.“ Ein Interview über Recht, Liebe, Kinder und Konsequenzen mit der Anwältin Julia Flint-Ayadi

Aino Rinhaug: „Was hat meine Mutter meinem Vater angetan?“ Familie, Verzehr und Literatur in António Lobo Antunes’ „Reigen der Verdammten“

Vanesa Muhić: Die Einsamkeit der Ingeborg Bachmann. Beziehungskonzepte in Ingeborg Bachmanns Erzählung „Simultan“

Karin S. Wozonig: Familienehre und individuelles Glück. Betty Paolis Roman „Die Ehre des Hauses“

REZENSIONEN

Stephan Rauer: Menschennacht. Reinhard Jirgl setzt in „Die Stille“ seine innere Kündigung fort

Ute Friederich: Die Nüchternheit des Alltags. Rutu Modans „Blutspuren“ – eine Bildergeschichte vom Verdrängen und Überleben

Benedikt Viertelhaus: Aus dem Trott. Dorothea Dieckmanns Roman „Termini“ erzählt die Geschichte eines Scheiternden

Crauss: es gibt bücher, in denen ist man verloren, und solche, in denen man sich verliert. Jörg Bernig / Jörg Schieke: zwei lektüren mit unterschiedlichem ausgang

PORTRAIT

Florian Radvan: W.G. Sebald – Schriftsteller und Scholar. Erinnerungen an einen Grenzgänger zwischen Literatur und Wissenschaft

FORSCHUNG

Fabian Beer: Eine Schachpartie des Ästhetischen. Zu Friedrich Dürrenmatts Kritik an Max Frischs Moritat vom Grafen Öderland

Alexander Klaehr: Wie Schüler unter die Räder kommen. Zur Aktualität der Schulkritik in Hermann Hesses Roman „Unterm Rad“

Anna-Lena Scholz: Erst Kleist, dann das Handbuch. Das „Kleist-Handbuch“ hält, was es verspricht

David-C. Assmann: Themen, Schreibverfahren, Markt. Der Sammelband „Literatur der Jahrtausendwende“ vermisst die Topographie internationaler Erzählliteratur zwischen 1995 und 2005

IN DER TAT: LINGUISTIK

Bernhard Fisseni: Computer sind dumm – und daher äußerst nützlich! Eine kurze Einführung in die komplexe Welt der Computerlinguistik

LITERATUR

Achim Wagner: wir sind ein ort an dem ständig unfälle passieren

Dietmar Hübner: Das Kind in Holland

Franziska Kurtz: So was fragt man nicht

Hans-Gerd Pyka: Der Schoki der Familie

Katharina Born: Blood on the tracks (September 1975)

Marko Milovanovic: Auszüge aus dem Roman „Fernlicht“

Myriam Keil: Vier im Haus

Ron Winkler: Geweiharchiv | Fotomahlzeiten

Susanne Schirdewahn: Wo es niemand sieht

Weitere Hefte ⇓