Kritische Ausgabe 12 (2008), 2

Titel der Ausgabe 
Kritische Ausgabe 12 (2008), 2
Weiterer Titel 
Europa

Erschienen
Bonn 2008: Selbstverlag
Erscheint 
halbjährlich (Frühjahr/Herbst)
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 5,00

 

Kontakt

Institution
Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur
Land
Deutschland
c/o
Kritische Ausgabe Germanistisches Seminar der Universität Bonn Am Hof 1d D-53113 Bonn Tel./Fax: (0228) 61 96 757
Von
Viertelhaus, Benedikt

Als uns vor etwa drei Jahren die Idee dazu kam, ein Heft dem Thema Europa zu widmen, hatten die Franzosen per Volksabstimmung gerade den Verfassungsentwurf für die EU abgelehnt. Für die als Verträge von Lissabon bezeichnete veränderte Wiedervorlage gleicher Ideen fand sich kürzlich in Irland keine Mehrheit. Das Denken der Völker, das zeigte sich daran, ist in vielem national geprägt. So war in Frankreich beispielsweise die Unzufriedenheit mit dem damaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac Mitauslöser für die Ablehnung. Bemerkenswert dabei ist, daß über eine Verfassung für alle EU-Staaten unterschiedlich abgestimmt wird: In einigen Staaten entscheiden nur Volksvertreter, in anderen das Volk direkt. An diesen Fragen hat sich seither nicht viel geändert. Zwar sollte die Verfassung durch die Stärkung des Parlaments demokratischer werden, Volksabstimmungen für die gesamte EU sind jedoch nicht vorgesehen.

Aber es wäre auch vermessen, von europäischem Volk zu sprechen. Europa besticht durch seine Vielfalt, und eine einheitliche Identität würde die Dynamik, die in diesem Vielvölkergebilde steckt, zerstören. Doch all das sind politische Fragen. Die Erfahrung, die wir bei der Erarbeitung dieses Heftes gemacht haben, zeigt, daß die Assoziation, die der Begriff Europa auslöst, meist eng mit dem Gebilde verknüpft ist, das sich EU nennt. Sie greift in unser Leben ein, mal skurril, wie beispielsweise im Falle der Gurkenverordnung, mal befreiend, wie etwa beim Schengener Abkommen oder der Gemeinschaftswährung. An was denken Sie, wenn Sie jemanden von Europa sprechen hören? An das politische Konstrukt der EU oder an einen geographisch festgelegten Kontinent? Sind es z. B. abendländische Tradition und christliche Werte, die die Grenzen bestimmen, oder ist es die Aufklärung mit ihrer Forderung nach Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und vernunftgeleitetem Denken?

Vom »gemeinsamen Haus Europa« haben im Laufe der Geschichte viele Politiker und Intellektuelle gesprochen, so auch Michail Gorbatschow, dessen untergegangener Staat, die Sowjetunion, im sogenannten Westen als Hauptgegner eines vereinten Europas galt. An einem gemeinschaftlichen Fundament fehlt es allerdings auch heute, zwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges, noch. Daß Europa ein komplexes, in sich oft widersprüchliches Gebilde ist, zeigen die Beiträge dieses Heftes. So plädiert Peter Hanenberg für die Übersetzung als kulturelles Fundament Europas und findet gerade in der kulturellen Vielfalt eine mögliche gemeinsame Identität begründet. Diese zeigt sich bereits, wie Martin Lowsky ausführt, in Karl Mays Europabild, das auch verdeutlicht, wie eine Abgrenzung anderen Kulturen gegenüber möglich ist, ohne diese gleich ausschließen zu müssen. Mit diesem Thema befaßt sich auch Kai Löser in seiner Auseinandersetzung mit Peter Schneiders Gedanken zur »Kultur des Zweifels« und unterstreicht dabei die Offenheit, die ein Gebilde wie Europa in jeglicher Hinsicht benötigt.

Neben der Beschäftigung mit Fragen nach der Identität und den Möglichkeiten einer Gestaltung Europas begeben sich unsere Autoren auch auf Spurensuche. So portraitiert Michaela Schröder mit Yvan Goll einen Autor, der in zwei Sprachen zu Hause war, und Pia Helfferich führt uns in die Geschichte des europäischen Poetry Slams ein.

Der Literaturteil, der dankenswerterweise vom Deutschen Literaturfonds gefördert wurde, versammelt Texte europäischer Autoren in ihrer jeweiligen Muttersprache und in deutscher Übersetzung. Mit einem Por­trait erinnert Stephanie Müller an Hermann Essig, einen weiteren vergessenen Autor des 20. Jahrhunderts. Außerdem finden Sie auch in diesem Heft wieder Beiträge aus der germanistischen Forschung und Rezensionen.

Inhaltsverzeichnis

THEMA

Matthias Fallenstein: Europa – nach dem Untergang des Abendlandes

Katja Moses: Ein früher Blick von außen. Heinrich Heine als Korrespondent aus Paris

Peter Hanenberg: »Europa eine Seele geben«. Übersetzung als kulturelles Fundament Europas

Fabian Beer: Ein wahres europäisches Märchen? Auf den Spuren der Idee vom »Haus Europa«

Matthias Schöning: Eine ›Intellektuellenkirche‹, aber nicht für alle. Heinrich Manns Europa

Martin Lowsky: Europa – ein Thema im Werk Karl Mays

László V. Szabó: »Die Zukunft festgründen«. Der ›Übereuropäer‹ Rudolf Pannwitz

Michael Collel: »Weitumgreifender Blick« und »angespanntes Trachten«. Der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal: Paneuropäer und Europagoge

Niklas Gaupp & Robert Neiser: Der Schatten Europas. ›Hundert Tage‹ im ›Herz der Finsternis‹

Michaela Schröder: »… gehöre aber nur Europa«. Der Dichter Yvan Goll (1891–1950)

Kai Löser: Form über Inhalt. Peter Schneiders »Kultur des Zweifels« als formale Bestimmung Europas

Pia Helfferich: Eine McDonaldisierung der Literatur? Die Entwicklung des Poetry Slams in Europa

REZENSIONEN

Simak Büchel: Vom Umgang mit Größe oder Die Leiden des alten Goethe. Martin Walsers Roman »Ein liebender Mann«

Marko Milovanovic: Der Krieg im Privaten. Norbert Gstreins Roman »Die Winter im Süden«

Andreas Jüngling: Blaues Hemd, schwarzes Kleid und rote Gesinnung – eine Liturgie von Frucht und Blut. Ramiro Pinillas Roman »Der Feigenbaum«

PORTRAIT & INTERVIEW

Matthias Fallenstein: Bingo oder die Lust an befreiender Erkenntnis. Elfriede Gerstl – ein Werkportrait

Stefan Andres: »Das Fach Germanistik sammelt wieder Kräfte«. Interview mit Professor Dr. Gottfried Honnefelder

FORSCHUNG

Ingo Langenbach & Victoria Lubarski: Die weibliche Libertinage – vom Objekt zum Subjekt. Eine Geschichte der erotischen Literatur und Pornographie (Teil II)

Roman Halfmann: Die Hoffnungslosigkeit der Ismen. Franz Kafkas Gregor Samsa und Lu Xuns Ah Q

Ute Friederich: Die Summe von Polaritäten. Paul Michael Lützeler zeichnet in seinem Buch »Kontinentalisierung« den Weg des Europa-Diskurses der letzten 200 Jahre nach

Sabine Buck: Ist Kunst ein wichtiges Medium moralischer Werte? Das bleibt auch nach der Lektüre des Sammelbandes »Ethics in Culture« eine offene Frage

Katrin Blumenkamp: Literaturkritik in Zeiten des Homo oeconomicus. Stefanie Heinen analysiert den literaturkritischen Kampf um Aufmerksamkeit auf breiter empirischer Basis

IN DER TAT: LINGUISTIK

Jan Seifert: Linguistische Detektivarbeit. Aufgaben, Methoden und Probleme der forensisch-linguistischen Autorschaftsanalyse

VERGESSENE AUTOREN

Stephanie Müller: Seiner Zeit voraus. Hermann Essig (1878–1918) – ein vergessener Querkopf

Hermann Essig: Der Hundsbiß. Erzählung

LITERATUR

Simon Armitage: Poems / Gedichte (übersetzt von Jan Wagner)

Michal Hvorecky: Auszug aus dem Roman »ESKORTA« (übersetzt von Mirko Kraetsch)

Alban Lefranc: Dans la bouche de Jimmy / In Jimmys Mund (übersetzt von Rüdiger Fischer)

Laurynas Katkus: Gedichte (übersetzt von Jan Wagner)

Ilias Maglinis: Η Ανάκριση / Das Verhör (übersetzt von Agis Sideras)

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