Kritische Ausgabe 7 (2003), 2

Titel der Ausgabe 
Kritische Ausgabe 7 (2003), 2
Weiterer Titel 
Industrie

Erschienen
Bonn 2003: Winddruck Verlag
Erscheint 
halbjährlich (ca. Juni/Dezember)
Anzahl Seiten
96 S.
Preis
3,00 €

 

Kontakt

Institution
Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur
Land
Deutschland
c/o
Kritische Ausgabe Germanistisches Seminar der Universität Bonn Am Hof 1d D-53113 Bonn Tel./Fax: (0228) 61 96 757
Von
Diel, Marcel

Georg Weerths Gedicht »Die Industrie« von 1845 deutet bereits die ganze Bandbreite des Themas an. Industrie tritt uns dort in zwei Gestalten entgegen: einer durchaus unheimlichen Macht, deren Sitz die Stadt und deren Insignien Dampf und Flamme sind, göttliche Gewalten, die den Menschen bezwingen; zugleich aber unterwirft sie die göttlichen Gewalten dem Menschen, der sie geschaffen hat und sich dadurch den Göttern gleichstellt. Doch nicht nur dieser Widerpart wird angedeutet, sondern auch der zwischen der "reine Formen" schöpfenden Industrie und der "ungebildeten" Natur, die durch sie ebenso umgestaltet wie ausgebeutet wird. Und schließlich lässt sich in der Figur des Hephaistos die mythisch verbrämte Gestalt des Industriearbeiters erkennen, die fast zeitgleich auch in Ferdinand Freiligraths Gedicht »Von unten auf!« in Gestalt des "Proletarier-Maschinisten" ihre kommunistische Prägung erhält.

Weerth, dessen Gedicht Christoph Schmitz als Ausgangspunkt seines Eröffnungsbeitrages dient, ist neben Freiligrath, dem sich in dieser Ausgabe Dietmar Noering widmet, als Mitbegründer der Industrie- und Arbeiterliteratur im 19. Jahrhundert anzusehen. Während die bürgerliche Literatur bis ins 20. Jahrhundert hinein das Motiv der industriellen Arbeit (im Gegensatz zu dem des industriellen Fortschritts) größtenteils ausklammert, gewinnt die Gestalt des Arbeiters im Laufe der folgenden Jahrzehnte unter wechselnden ideologischen Vorzeichen an Bedeutung. Für Ernst Jünger ist sie, wahlweise auch in ihrer Verkörperung durch den soldatischen Kämpfer, Prototyp eines neuen Menschen – mit seinem Essay "Der Arbeiter" setzt sich Jürgen Brokoff auseinander –; als Gegenbild des Intellektuellen greift sie zwecks Aufbau einer sozialistischen Nationalkultur in der DDR selbst zur Feder und gründet Schreibzirkel – wie Holger Uske aus eigener Erfahrung zu berichten weiß.

Heute hat die Industrie längst alle Lebensbereiche so sehr durchdrungen, dass sie in vielem kaum mehr zu erkennen ist: Sie ist die "Megamaschine" (Nicolas Born), die neben Waren und Werkzeugen auch gleich die nötigen Bedürfnisse, letztlich Lebenssinn mitproduziert, Denk-, Handlungs- und Sprachmuster ausprägt – eine vollendete "Kulturindustrie" (Theodor W. Adorno), deren Output auch in Literatur bestehen kann, wie Enno Stahl es in seinem Beitrag zu "Social Beat" vorführt. Sie ist, so scheint es wenigstens, die Matrix unserer Lebenswelt, was dazu einlädt, Fragen zu stellen, die kein noch so populärer Film – etwa die gleichnamige Trilogie, mit deren unterschiedlichen Aspekten sich Nadja Nitsche und Rochus Wolff in diesem Heft beschäftigen – letztlich beantworten wird. Man muss sie nicht fürchten, sollte sie aber auch nicht aus dem Blickfeld verlieren. Auch deshalb interessierte uns dieses Thema, dessen Vielschichtigkeit hier freilich nur angedeutet werden kann.

Inhaltsverzeichnis

7. Jg. 2003, Heft 2 (Dezember)

THEMA

Christoph Schmitz: "Die Industrie ist Göttin unsern Tagen". Adorno, Bataille und der Pantheismus der Kulturindustrie.

Ralf Hanselle: Flitzerknipser. Peter Keetman und die Ästhetik des VW-Käfer.

Nadja Nitsche: Neo ohne Illusionen – Parzival im virtuellen Raum. Das mittelalterliche Heldenepos als Folie der "Matrix".

Dietmar Noering: Der König und der Proletarier. Anmerkungen zum Verständnis von Ferdinand Freiligraths Gedicht "Von unten auf!".

Jürgen Brokoff: Ernst Jüngers Ästhetik der "Werkstättenlandschaft".

Andreas Jüngling: Starr, Stark, Schön, Schwach. Über Dieter Nolls Roman "Die Abenteuer des Werner Holt".

Holger Uske: Der Autor - der bessere Arbeiter. Zirkel schreibender Arbeiter - Ein Stück Januskopf des real-existierenden Sozialismus.

Enno Stahl: Social Beat vs. städtischer Raum vs. digitales Dasein. Entstehung, Geschichte und Niedergang der "social beat"-Literatur.

Jens Romahn: Schubumkehr in Zeiten des Turbokapitalismus. Ernst Wilhelm Händlers Roman "Wenn wir sterben".

Rochus Wolff: Die Matrix lässt sich nicht einfach auslöffeln: "There is no spoon". Vom Kampf um die Freiheit im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

INTERVIEWS mit Vertretern und Rezipienten der Industriekultur (Route Industriekultur, Stadt Leverkusen, Bayer-Konzern, Bundesverband der deutschen Industrie, ein Lokführer)

MATERIAL
Heftromane: "Lesererfolg durch heile Welt als Ordnungsprinzip". Eine Satire auf die Literaturgeschichte aus dem Martin Kelter Verlag.

FORSCHUNG
Rainer Kolk: "Krise" der Germanistik, Popularisierung. Eine fachgeschichtliche Bemerkung.
Eva Geulen: Provokation als Literaturgeschichte. Zu Heinz Schlaffers "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur".
Frank Auffenberg: Mameloshn. Zur Geschichte der jiddischen Sprache (I).
Volker C. Dörr: Erlebniswelt Elfenbeinturm. Hans Ulrich Gumbrechts "Die Macht der Philologie".
Stefan Stirnemann: Neue Wege in der Textinterpretation. Mario Andreottis "Die Struktur der modernen Literatur".
Katerina Karakassi: Paul de Man (1919-1983)
Francisca Ricinski-Marienfeld: Die deutsche Literatur in Rumänien
Stephan Rauer: Diesseits des Todes ein letztes Erinnern. Ernst Kreuders Roman "Der Mann im Bahnwärterhaus".
Andreas Jüngling: Flucht durchs Erzählgeflecht. Ernst Kreuders Roman "Die Unauffindbaren".

Außerdem:
- REZENSIONEN literarischer Zeitschriften (laufschrift, die rampe, schreibheft, ZONIC) und Neuerscheinungen (u.a. Werke von Andreas Altmann, Ingmar Bergman, Dieter M. Gräf, Norbert Gstrein, Siegfried Lenz, Walter Moers, Norman Ohler, Marion Poschmann, Rainer Maria Rilke und Claire Goll, Norbert Scheuer, Jenni Zylka)
- Ein PORTRAIT der lyrikedition 2000
- Und natürlich LITERATUR: Texte von Katrin Stange und Knut Gerwers

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