Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 20 (2011)

Titel der Ausgabe 
Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 20 (2011)
Weiterer Titel 
Tourismus im Ostseeraum / Tourism in the Baltic Region

Erschienen
Lüneburg 2011: Nordost-Institut
Erscheint 
jährlich
Anzahl Seiten
402 S.
Preis
17,50€, Abonnement 15,00€

 

Kontakt

Institution
Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte (NOA)
Land
Deutschland
c/o
Kontaktadresse der Redaktion: Frau Dr. Anja Wilhelmi, <a.wilhelmi@ikgn.de>
Von
Wilhelmi, Anja

Von der einsetzenden Faszination der Menschen für das Aufeinanderstoßen der Elemente am Strand und dessen Neuentdeckung als Sehnsuchtsort seit der Mitte des 18. Jahrhunderts über den Ausbau von Seekurorten bis zur zielgruppenorientierten Verpackung des Produkts „Strand“ in unseren Tagen (und der reunion der Beach Boys!) – das Phänomen „Badeurlaub“ hat bereits eine über 200-jährige Geschichte in Europa. Die Britischen Inseln, wo sich im 18. Jahrhundert bereits die ersten Strandbäder herausgebildet haben, gelten dabei als maßgeblicher Trendsetter einer Entwicklung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts auf dem ganzen Kontinent Fuß gefasst hat. Das Verständnis vom Urlaub als Zeitspanne der recreation der Arbeitskraft – ein Begriff mit durchaus religiösem Unterton – hat Kriege und Revolutionen überlebt und wurde im Artikel 119 der sowjetischen Verfassung 1936 zu einem garantierten Recht der werktätigen Bevölkerung erhoben. Als soziale Praxis ist der Urlaub an der See erst im 20. Jahrhundert zu einem Massenphänomen geworden, doch war er auch schon zuvor, wie der schwedische Ethnologe Orvar Löfgren in seinem grundlegenden Werk „On Holiday“ formuliert hat, „a cultural laboratory“, in dem Menschen mit neuen Aspekten ihrer Identität, ihrer sozialen Beziehungen oder auch ihres Verhältnisses mit der Natur experimentieren konnten und in der Lage waren „to use the important cultural skills of daydreaming and mindtraveling“. So sei auch die Phantasie in dieser Arena zu einer wichtigen sozialen Praxis geworden.

Wie der Tourismus insgesamt, sind auch diese Phantasien und Tagträume, die den Menschen freilich bis in ihre alltägliche Arbeits- und Freizeitwelt verfolgen, von Texten und Bildern vorgeprägt, die sich immer wieder erneuern und somit stets im Rahmen gesellschaftlicher Diskurse gesehen werden müssen. Dies macht den Tourismus zweifellos auch für die „normale“ Geschichtswissenschaft zu einem interessanten Objekt, auch wenn dessen Anerkennung im institutionellen Rahmen zumindest im deutschsprachigen Raum auf sich warten lässt. Obwohl der Tourismus selbst seit Langem in das Zentrum aller modernen Gesellschaften gerückt ist, friste Tourismusgeschichte immer noch ein Mauerblümchendasein in der Zunft, beklagte sich kürzlich Rüdiger Hachtmann. Bemerkenswert ist dies tatsächlich auch deswegen, weil der Zugriff mittels der transnationalen Geschichte seit einiger Zeit in Mode gekommen ist und das Reiseverhalten des Menschen, aber auch die Tourismusentwicklung als solche schon seit geraumer Zeit die nationalen und kontinentalen Grenzen konsequent überwindet. Wie Hachtmanns hier zitierter Forschungsbericht jedoch zeigt, mangelt es in jüngster Zeit nicht an Arbeiten, die sich erfolgreich dieses wohl immer noch mit Skepsis betrachteten, aber auch als potentiell innovativ geltenden Forschungsbereichs in seinem schier unendlichen Facettenreichtum angenommen haben.

Der Ostseeraum – historisch gesehen gewiss kein latecomer, wurde doch das erste deutsche Seebad Heiligendamm 1793 gegründet – hat im Kontext der historischen Tourismusforschung nicht den Stellenwert erreicht, der ihm gebühren könnte. Wie es die Mehrheit der zunächst kultur-, dann vor allem sonnenhungrigen Nordeuropäer in den „Süden“ zog, hat sich auch die historische Tourismusforschung bislang mehrheitlich mit den Britischen Inseln, Nordamerika und diversen mediterranen Regionen auseinandergesetzt oder sich auf die Betrachtung nationaler Urlaubsziele beschränkt. Auch für die sich allmählich herausbildende historische Tourismusforschung zu Russland ist zu beobachten, dass die Schwarzmeerküste und der Kaukasus mehr Beachtung finden als der Ostseeraum. Wie Cord Pagenstecher schreibt, sind „Bodden, Nehrungen und Schären […] kultur- und literaturwissenschaftlich, historisch und soziologisch offenbar weniger interessant als Alpengipfel, Arkadien und Palmenstrände“. Mit Recht hebt er allerdings hervor, dass auch im Ostseeraum der Tourismus spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung war, und macht in diesem Kontext „Menschen verschiedener Schichten und Nationalitäten“ aus, die „Badekarren, Strandkörbe und Seebrücken nutzten“ und zwischen „Familienstränden, Kaiserbädern und Künstlerkolonien“ unterschiedliche Urlaubspraxen entwickelten. Trotz der entscheidenden Zäsur der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts – dies gilt vor allem für den südlichen und östlichen Ostseeraum – werde der Ostseeraum bis heute von Strandleben und Bäderarchitektur geprägt. Inwieweit aus diesem Befund eine integrierte Tourismusgeschichte abgeleitet werden kann, vielleicht auch nur für die südliche Linie von Terijoki bis Travemünde, mag die Zukunft zeigen.

Die vorliegende Ausgabe des „Nordost-Archivs“ setzt sich nicht zum Ziel, dass sich aus der Summe ihrer einzelnen Beiträge so etwas wie eine ultimative Geschichte des Tourismus in der Ostseeregion ergäbe, denn dafür liegen die jeweiligen Fragestellungen zum Teil doch zu weit auseinander. Alle Texte behandeln im Großen und Ganzen nationale Geschichten, insofern sie ihre Analyse grundsätzlich auf einen Staat oder eine Region in einem Staat beschränken. Ein gewisser geografischer Schwerpunkt liegt auf dem Dreieck Schweden-Estland-Deutschland, wobei auch Lettland und der größere sowjetische Kontext zur Sprache kommen. In Kombination mit den zahlreichen Rezensionen finden Interessenten auf den Seiten dieser Ausgabe jedoch einen umfassenden Überblick über die derzeitige Forschungslandschaft und vielfältige Inspiration, sich mit dem Tourismus im Ostseeraum weiter zu beschäftigen.

Karsten Brüggemann

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Editorial:
Karsten Brüggemann (Tallinn): Einleitende Überlegungen zu einer Geschichte des Tourismus im Ostseeraum am Beispiel der russischen Revalreise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Abhandlungen

Wiebke Kolbe (Lund): „Capri von Pommern“ und „nordisches Sorrent“. Konkurrenzen und Kooperationen deutscher Ostseebäder im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Tiit Kask (Tallinn): Der Kurort Pärnu (Pernau) Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die „kollektive Strandschwärmerei“ oder Die Entdeckung der Meeresstrände an der Ostküste der Ostsee

Carina Gråbacke (Göteborg): Das schwedische Reiseunternehmen Reso und die Organisierung der Freizeit in der Zwischenkriegszeit

Torkel Jansson (Uppsala): Estland – Schwedens erstes Mallorca in den 1930er Jahren

Cord Pagenstecher (Berlin): Von der Strandburg zur Bettenburg. Zur Visual History des bundesdeutschen Ostsee-Tourismus

Heike Wolter (Obertraubling): Sommer, Sonne … Fluchtgefahr? Ostseetourismus in der DDR

Christian Noack (Amsterdam): „You have probably heard about all this …“. Baltic Seaside Resorts as Soviet Tourist Destinations

Anu Järs (Tartu): Der Alltag einer Kurstadt. Das Leben in der Sommerfrische Pärnus während der Sowjetzeit aus der Perspektive der Einheimischen

Forschungsbericht

Aldis Purs (Seattle): Tourists in Jūrmala, driven by pleasure and/or purpose?

Literaturberichte

Jörg Hackmann (Szczecin): Reiseführer in Zeiten des Umbruchs: Leningrad 1931 – Estland 1992

Karsten Brüggemann (Tallinn): Ein Reiseführer mit sowjetischem Stolz: Tallinn 1967

Rezensionen

Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte (Olga Kurilo)

Wiebke Kolbe, Christian Noack u.a. (Hrsg.): Tourismusgeschichte(n). Themenheft der Voyage. Jahrbuch für Reise-Tourismusforschung 8 (2009); John K. Walton (Hrsg.): Journal of Tourism History 1 (October 2009), No. 2 (Karsten Brüggemann)

Andreas Hedwig (Hrsg.): „Auf eisernen Schienen, so schnell wie der Blitz“. Regionale und überregionale Aspekte der Eisenbahngeschichte (Joachim Tauber)

Rudolf Jaworski, Peter Oliver Loew u.a. (Hrsg.): Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa (Karsten Brüggemann)

Auvo Kostiainen, Taina Syrjämaa (Hrsg.): Touring the Past: Uses of History in Tourism (Karsten Brüggemann)

Karen Klitgaard Povlsen (Hrsg.): Northbound. Travels, Encounters and Constructions 1700–1830 (Katja Wiebe)

Olga Kurilo (Hrsg.): Seebäder an der Ostsee im 19. und 20. Jahrhundert (Hasso Spode)

Olga Kurilo: Zoppot, Cranz, Rigascher Strand. Ostseebäder im 19. und 20. Jahrhundert (Karsten Brüggemann)

Natalia Baschmakoff, Mari Ristolainen (Hrsg.): The Dacha Kingdom: Summer Dwellers and Dwellings in the Baltic Area (Christine Gölz)

Michael Espagne, Thomas Serrier (Hrsg.): Villes baltiques. Une mémoire partagée, Themenheft der Revue germanique Internationale 11 (2010) (Daniel Baric)

Małgorzata Omilanowska: Połąga. Nadbałtyckie Zakopane w czasach Tyszkiewiczów [Polangen. Das Zakopane an der Ostsee zur Zeit der Familie Tyszkiewicz] (Beate Störtkuhl)

Heike Wolter: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die Geschichte des Tourismus in der DDR (Olga Kurilo)

Hannes Grandits, Karin Taylor (Hrsg.): Yugoslavia’s Sunny Side. A History of Tourism in Socialism (1950s–1980s) (Danijel Kežić)

Anne E. Gorsuch: All this is Your World. Soviet Tourism at Home and Abroad after Stalin (Karsten Brüggemann)

Tiit Kask, Aldur Vunk (Hrsg.): Reis (nõukogude) läände / Journey to the (Soviet) west. Kurortlinn Pärnu 1940–88 / Resort town of Pärnu 1940–88 (Andreas Fülberth)

Robert Schweitzer (Hrsg.): Zweihundert Jahre deutsche Finnlandbegeisterung (Benedikt Tondera)

Karsten Brüggemann, Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt (Olaf Mertelsmann)

Matthias Asche, Werner Buchholz u.a. (Hrsg.): Die baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Livland, Estland, Ösel, Ingermanland, Kurland und Lettgallen. Stadt, Land und Konfession 1500–1721, Tl. 2 (Heinrich Wittram)

Yvonne Kleinmann (Hrsg.): Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen (Kolja Lichy)

Vladas Sirutavičius, Darius Staliūnas (Hrsg.): A Pragmatic Alliance: Jewish-Lithuanian Political Cooperation at the Beginning of the 20th Century (Joachim Tauber)

Anders Henriksson: Vassals and Citizens. The Baltic Germans in Constitutional Russia, 1905–1914 (Gert von Pistohlkors)

Christoph Mick: Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1947 (Julia Eichenberg)

Felix Ackermann: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt 1919–1991; Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005 (Jörg Hackmann)

Latvijas vēstures institūts (Hrsg.): 20. gadsimta Latvijas vēsture. II. Neatkarīga valsts 1918–1940 [Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert. II. Der unabhängige Staat 1918–1940] (Detlef Henning)

Natali Stegmann: Kriegsdeutungen – Staatsgründungen – Sozialpolitik. Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918–1948 (Julia Eichenberg)

Natali Stegmann (Hrsg.): Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte: Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg (Joachim Tauber)

Beata Dorota Lakeberg: Die deutsche Minderheitenpresse in Polen 1918–1939 und ihr Polen- und Judenbild (Ingo Eser)

Sven Jüngerkes: Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941–1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen (Matthew Kott)

Karl Heinz Gräfe: Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz. Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation (Björn Felder)

Jānis Keruss, Ineta Lipša u.a.: Latvijas Universitātes Vēstures un filozofijas fakultātes vēsture padomju laikā: Personības, struktūras, idejas (1944–1991) [Geschichte der Fakultät für Geschichte und Philosophie der Universität Lettlands während der Sowjetzeit: Persönlichkeiten, Strukturen, Ideen (1944–1991)] (Detlef Henning)

Carola Gottzmann (Hrsg.): Deutschsprachige Literatur im Baltikum und in St. Petersburg (Annelore Engel-Braunschmidt)

Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias u.a. (Hrsg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit (Michael Schwidtal)

Michael Jaumann, Klaus Schenk (Hrsg.): Erinnerungsmetropole Riga. Deutschsprachige Literatur- und Kulturvielfalt im Vergleich (Katja Wezel)

Martin Schulze Wessel, Irene Götz u.a. (Hrsg.): Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen (Andreas Fülberth)

Liene Lauska: Pēteris Ērmanis und Jānis Jaunsudrabiņš. Die soziale und kulturelle Integration lettischer Schriftsteller in Lettland und im deutschen Exil (Magdalene Huelmann)

Hiram Kümper: Historikerinnen. Eine bibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum mit einer Einführung von Angelika Schaser (Anja Wilhelmi)

Jānis Stradiņš: Zinātnes un augstskolu sākotne Latvijā [Der Beginn von Wissenschaft und Hochschule in Lettland] (Anja Wilhelmi)

Helge Dauchert: „Anwalt der Balten“ oder Anwalt in eigener Sache? Die deutsche Baltikumpolitik 1991–2004 (Detlef Henning)

Mati Laur, Karsten Brüggemann (Hrsg.): Forschungen zur baltischen Geschichte, Bd. 4 (2009) und 5 (2010) (David Feest)

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