H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus


Diskussionsbeitrag


"Lieber einmal zu viel die Klappe auftun, als einmal zu wenig. [...]"

von

Klaus Popa - Bestwig (Westfalen)
Email: <kpopa@addcom.de>

Hans Ulrich Wehler, der Hauptwortfuehrer der aelteren Historikergeneration, verbindet mit diesem Spruch eine nach 1945 von den amerikanischen Besatzern eingeforderte "Streitkultur", die seine Generation "vielleicht nicht weitergeben" konnte [1]. Jetzt, da die jungen Historiker, verstaerkt seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 diesen Spruch einloesen und damit das nachholen, was ihre Lehrer ihnen schuldig blieben, hagelt es mit Vorwuerfen aller Art. Das Hauptversaeumnis der in der Vorkriegszeit geborenen Lehrergeneration ist, die Geschichte der grossen Bevoelkerungsbewegungen (Migrationen) und der Massenvernichtungen noch nicht geschrieben zu haben. Warum? Nicht weil etwa die Umsiedlung und Vernichtung im Nationalsozialismus politisch und ideologisch zu komplex waren, sondern die zutage gefoerderten Ergebnisse fuer das Establishment der Bundesrepublik traumatisierend gewirkt haetten.

Die "Alten" reagierten nun auf den quellenmaessigen Nachweis junger Historiker wie Aly, Fahlbusch, Schoettler, Haar u.a. ueber das vorbehaltlose Engagement der Volksgeschichte und Volkstumsforschung in der verbrecherischen Politik des Dritten Reiches quasi einstimmig und geschlossen mit einer Briefserie in der Tagespresse (FAZ), mit der Realisierung eines Interviewbandes und mit der Herausgabe der Referate der Sektion "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" des Frankfurter Historikertages 1998. Ihre offensive Programmatik in Richtung der Juengeren und die Defensive in eigener und in der Sache ihrer Lehrer setzt ein bis ins Detail einheitliches Instrumentarium von rhetorischen Argumenten ein, auf das hier eingegangen werden soll.

Ein dominantes Rechtfertigungs-, Verteidigungs- und Relativierungsparadigma nennt sich KONTEXTUALISIERUNG. Diese entspraeche laut Juergen Kocka "den Regeln geschichtswissenschaftlichen Arbeitens wie den Grundsaetzen historischer Gerechtigkeit" und ermoegliche, komparativ angelegt, eine gerechte Beurteilung der einzelnen Personen" [2]. In dieser Verfahrensweise wird den externen Faktoren die entscheidende Bedeutung zugesprochen [3], waehrend die interviewten Historiker in den seltensten Faellen vom Engagement der Schieder-Generation sprechen (Kocka, Geiss). Diese Argumentationsweise bietet Schlupfloecher, die versprechen, die Unverantwortlichkeit Schieders und seiner Historiker-Gesinnungsgenossen, ihre Menschenverachtung zu verniedlichen.

Ein weiteres Paradigma, das ebenfalls dazu dient, sowohl dem nationalsozialistischen Engagement der Lehrergeneration wie auch dem nationalsozialistischen Projekt doch noch etwas Positives abzugewinnen, ist der Mythos der MODERNITAET. Das vermeintliche Modernitaetspotential des Nationalsozialismus verursachte die "Faszination der Juengeren". Auch sei dem Nationalsozialismus ein "Gemisch von politisch-wissenschaftlicher Verirrung und methodischer Innovationsfaehigkeit" [4] zu bescheinigen [5]. Doch zu welchem Preis manifestierten sich die vermeintliche Modernitaet und Innovation? War eine Anwendung der sozialempirischen Methoden z.B. bei der 1933 in die Emigration gezwungene Frankfurter Schule nicht laengst Standard geworden? Ist es angebracht, Schieder & Co., die ihre Eigeninitiative und Innovationskraft zur Realisierung menschenverachtender Massnahmen hergaben, Modernitaet, also Fortschrittlichkeit zu bezeugen? Denn bei naeherer Betrachtung laeuft Kockas Konstruktion des Nebeneinander von ideologischem Rueckfall und methodischer Innovationsfaehigkeit, von ideologischer Verblendung und methodischer Modernitaet auf eine pauschale Rehabilitierung des Nationalsozialismus, der nationalsozialistischen Geisteswissenschaft und deren Vertreter hinaus. Kocka will bei der Volksgeschichte "methodisch-paradigmatische Neuerungen" feststellen [6], doch sind ernsthafte Zweifel angesagt, die seit den fruehen 20er Jahren systematisch betriebene Ideologisierung und Politisierung [7] der Geisteswissenschaften als erneuernd und modernisierend zu betrachten. Eigentlich war damit auch jede Spur von Wissenschaftlichkeit aufgehoben, weil nun die politisch-ideologische Beliebigkeit und Unberechenbarkeit dominierten.

Ein beliebtes Stereotyp, welches das eigentliche nationalsozialistische Engagement von Schieder & Co. verniedlicht, nennt sich "Affinitaet". Kocka stellt fest, dass es "eine tiefe Affinitaet zwischen grossen Teilen des deutschen Bildungsbuergertums und dem Nationalsozialismus" gab, indem sich "die Geschichte des deutschen Buergertums und die Geschichte des Nationalsozialismus durchdrangen" [8]. Wehler schreibt in Verbindung zum Begriff der "Entjudung", den Werner Conze in seinem Aufsatz fuer den Internationalen Soziologenkongress in Bukarest 1939 gebrauchte: "Geht es nicht auch hier um die Begriffs- [9] und Interessenidentitaet, um die Affinitaet von Handlungszielen in jener Ueberlappungszone von nationalsozialistischem Ideenkonglomerat und Gedankenwelt der voelkischen "Volksgeschichte" [...] [10] Damit soll Conze laut Wehler nur auf Begriffsebene in Beruehrung zum Nationalsozialismus gelangt sein [11]. Dieses Wehlersche Konstrukt verkennt die Rolle von Gruppen, welche den Nationalsozialismus trugen und am Leben erhielten. Sollen Schieder, Conze, Erich Maschke, Rudolf Craemer, Emil Meynen, Fritz Morre, Ludwig Petry, Kurt Forstreuter, Kurt von Raumer, die ab Mai 1937 in die NSDAP eintraten [12], ebenso Otto Brunner, Friedrich Metz, Heinrich von Srbrik bis zu diesem Zeitpunkt nicht in nationalsozialistischem Geist gewirkt haben?

Die politisch-ideologische Dimension der Debatte erreicht den Hoehepunkt mit Hans Mommsens Frankfurter Sektionsbeitrag, der im Tagungsband suggestiv "Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte" heisst. Statt sich um eine Definition des Nationalsozialisten zu bemuehen, strengt Mommsen eine seelenlose Abstraktion und begriffliche Spekulation an um das zu definieren, was er "wirklicher" Nationalsozialismus nennt [13]. Zwar sind Mommsens Definitionspunkte schluessig, doch sie stehen als pars pro toto da, weil die Beweggruende und Handlungsweisen der Akteure unberuecksichtigt bleiben. So vermeidet es Hans Mommsen geschickt, den weltanschaulichen Fanatismus und politischen Aktivismus der Ostforscher nennen zu muessen und zuzugeben, dass es nicht erst der NSDAP-Mitgliedschaft bedurfte, damit diese sich wie wahre Nationalsozialisten verhielten. Die von Hans Mommsen am "wahren" Nationalsozialismus festgemachten Kriterien sind auch nur z.T. objekttypisch, weil sie die Kontinuitaet verneinen, die Michael Stuermer zur Entlastung des Nationalsozialismus beschwoert ("Man muss die Weltgeschichte nicht immer mit den Nazis beginnen lassen" [14]). Deshalb ist auch der Standpunkt Mommsens zweifelhaft, "der Rubikon" sei "noch nicht ueberschritten" gewesen, "solange es [der Volksgeschichte] nur darum ging, die deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa zu pflegen und auszubauen, dies im Kontext einer Reziprozitaet" [15]. Mommsen glaubt an diese Dichotomie, die "die Volkstumspolitik der Weimarer Jahre von der rassistischen Volksbodenpolitik schied" [16]. Der hier von Mommsen am "wahren" Nationalsozialismus festgemachte Rassismus ist eigentlich vornationalsozialistisch. Auch Wolfgang Mommsen aeussert sich zu diesem Thema in Verbindung mit der Volksgeschichte und dem Volksbegriff in der Weimarer Republik, doch bestreitet er, "dieser Volksbegriff [sei] von vornherein in seinem ausschliesslich ethnisch-rassischen Sinne zu verstehen", weil der Volksbegriff der Osthistoriker "massgeblich an kulturellen bzw. zivilisatorischen Kriterien orientiert" gewesen sein soll [17]. Die Mommsens stimmen folglich ueberein, Rassismus komme nur dann zum Tragen, wenn er den typisch biologistischen Touch aufweise. Abgesehen davon, wurden bereits in der Volksgeschichte vor 1933 biologisch begruendete rassistische Ueberlegungen angestellt , weshalb die Postulierung der kulturellen und zivilisatorischen Ueberlegenheit des deutschen Volkes im Vergleich zu seinen osteuropaeischen Nachbarvoelkern (Polen, Tschechen, Slawen insgesamt), also das Paradigma des Kulturbringertums, als Rassismus gedeutet werden darf, und zwar als Kulturrassismus oder Kulturimperialismus.

Zudem bot der kulturell-zivilisatorische Aspekt von Anbeginn die Moeglichkeit mit volksgeschichtlichen Mitteln Ziele des politischen und des Grenzrevisionismus in verkappter Form zu propagieren. In diesem Zusammenhang kann auch der Begriff der "kaempfenden" Geschichtswissenschaft nicht als Ausdruck dessen gelten, was Hans Mommsen "faustischer Pakt mit dem Nationalsozialismus" nennt [18]. Denn die Volksgeschichte der Weimarer Zeit [19], ist ebenso "kaempferisch" wie ihr Ableger, die in Forschungsgemeinschaften, Publikationsstellen und anderen Einrichtungen institutionalisierte Volkstumsforschung der Nazizeit. Das ist sie auch deshalb, weil das Ziel vor und nach 1933 unveraendert "eine Neuordnung des europaeischen Ostens" war, "welche "die politisch unreifen Voelker Europas" (Schieder) im Rahmen einer universalen Reichsidee wieder unter deutsche Fuehrung bringen wuerde" [20].

Hans Mommsens Paradigma des "faustischen Pakts" der Geschichtswissenschaft mit dem Nationalsozialismus erweist sich also als ausweichlerische und abwiegelnde Denkfigur. Das Bild ist irrefuehrend, weil es die objektiv vorgegebene Verhaeltnismaessigkeit zwischen den beiden termini comparationis nicht beruecksichtigt, indem es ein Verhaeltnis des Angewiesenseins der Geschichtswissenschaft auf den Nationalsozialismus, also die Ueberlegenheit des Nationalsozialismus im Kraeftespiel mit einer angeblich ideologiefreien Geschichtswissenschaft suggeriert. Doch die Kontinuitaetslinien zwischen der Volksgeschichte der Weimarer Zeit und der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus sind unverkennbar und weisen eindeutig auf das fruehe MITEINANDER, mitnichten auf ein Nebeneinander voelkischer und nationalsozialistischer Wesenszuege. Diese nahtlose Kontinuitaet von Volksgeschichte und Volkstumsforschung veranschaulicht, dass es des Nationalsozialismus weder erst bedurfte, damit die Volksgeschichte sich in kaempferisch-nationalsozialistischem Geist artikulierte, noch damit beide Phasen auf intentioneller Ebene rassistische Zielvorstellungen entwickelten.

Hans Mommsen, Hans-Ulrich Wehler und Wolfgang Mommsen machen den Juengeren den allgemeinen Vorwurf des moralischen Rigorismus [21] und "vorschneller Ideologisierung" [22] Damit zielen die "Alten" auf das, was sie das "Anti-Auschwitz Trauma" [23] der Jungen nennen, aber auch auf Eigenrechtfertigung. Diese Vorwuerfe sind bei naeherer Betrachtung aus der Luft gegriffen, weil der Gegenstand, welcher den Anlass zum Moralisieren gibt, eben hochgradig unmoralisch ist. Oder sollte die "Umvolkung", die dann in Massenvernichtung gipfelte, etwa moralisch gewesen sein? Neben der Herausforderung, welche die Erforschung der ostforschenden Geschichtswissenschaft auf ethischer Ebene darstellt, geben die "Alten" durch ihre abweisende, vorurteilshafte Einstellung Anlass zu der Frage, ob es der Fachethik entspricht, die Juengeren pauschal des Moralisierens zu bezichtigen unter gleichzeitiger Aussparung faktischer Bezugnahme und Diskussion. Erstaunlicherweise konzentrieren die "Alten" ihre Polemik nicht auf die von den Jungen offengelegten Fakten, sondern auf die Jungen selbst, die in ihren Augen als Widersacher auch ihres bisher kultivierten Bildes vom Nationalsozialismus, ebenso ihrer Lehrer wie Schieder und Conze und ihrer Forschungsmethode gelten. Die Fachethik bleibt durch dieses ausfluechtige Verhalten der "Alten" zweifelsohne auf der Strecke.

Die bisherige, voellig entpersonalisierte und von moralischen Urteilen freie, "explanatorische" [24] Geschichtswissenschaft ist im Begriff, durch eine neue, personalisierte und moralisch urteilende Methodik ersetzt zu werden. Die alte, moralfreie Geschichtswissenschaft, hat zwei Wurzeln: die a- und unmoralische Volkstumsforschung der 20er Jahre und der NS-Zeit und die Furcht der Lehrergeneration um Schieder und Conze fuer die Kollaboration in der NS-Zeit belangt werden zu koennen. So war es von groesstem Vorteil, sich Forschungsgegenstaende und -methoden auszuwaehlen, die jenseits jedes moralischen Einschlags liegen. Auf diese Weise konnten die Geisteswissenschaften von der Frage der Verantwortung des Einzelnen und des deutschen Volkes unberuehrt bleiben. Doch die Qualitaet, bar jedes moralischen Einschlags zu sein, hatten sich die Geisteswissenschaften bereits in den 20er Jahren zugelegt, als "das (deutsche) Volk" zur absoluten Bezugsgroesse erhoben wurde. Diese jenseits von Menschheits- und Menschlichkeitsbegriffen gefuehrte Forschung behauptete wissenschaftlich zu sein, doch eigentlich war das nichts weiter als die willkuerlich zur Wissenschaft erhobene Volkstumsideologie.

Die Historiker der alten Generation wenden sich einstimmig gegen die Personalisierung, die mit der Selektion "zwischen Guten und Boesen" [25] einhergehen soll. Wolfgang Mommsen nennt die Zwaenge des Kalten Krieges als Grund dafuer, dass "alle diese Debatten" - er meint den Holocaust, den Goldhagen-Disput, die Verbrechen der Wehrmacht, das Engagement der eigenen Zunft - "auch vielfach nicht wirklich offen ausgetragen worden sind" und fuehrt das auf die Gefahr zurueck, "immer Polemik aus dem Lager der DDR oder der sowjetischen Historiographie" herauszufordern. Nun, da diese Zwaenge entfallen sind, "ist ein unbefangeneres Herangehen an diese Dinge moeglich." [26]. Doch Unbefangenheit bei den "Alten" laesst sich mitnichten erkennen. Sie setzen naemlich alles daran, ihren Anspruch auf das Deutungs- und Meinungsbildungsmonopol [27] aufrechtzuerhalten, weshalb sie sich auch aus den eigenen Reihen den Vorwurf des "Wissenschaftsrigorismus" als Ausdruck totalitaerer Verhaltensweisen ("sich in der Diskussion selbst totalitaer verhalten" [28]) gefallen lassen muessen.

Das geschichtswissenschaftliche Modell der Jungen schliesst den anonymisierenden Zug der bisherigen Geschichtsmethodik von vornherein zugunsten der Personalisierung aus. Diese gliedert sich in das weite Feld des Intentionalismus ein, der von der Erkenntnis ausgeht, dass hinter Strukturen lebendige Menschen stecken, die im Einzelgang und in Gruppen als mit Intentionen und Interessen behaftete Akteure auftreten. Handel und Wandel setzen gegensaetzliche Interessen und Zielvorgaben, unterschiedliche Handlungsmodelle voraus und bergen ein Konfliktpotential. Was ist daran falsch, dass die Jungen diesen "Binsenwahrheiten" des kritischen Historismus in der deutschen Geschichtswissenschaft neue Geltung verschaffen? Auch die mit dieser Methodik einhergehende Humanisierung (moralische Akzente kommen wieder zur Geltung) ist zu begruessen [29].

Die "Alten" versuchen zwar in der Historiker-Debatte den Spiess umzukehren, doch bei naeherer Betrachtung stellt sich heraus, dass diese Historikergeneration von ihren eigenen methodischen Unzulaenglichkeiten eingeholt wurde. Ihre Beschraenkung auf die methodischen Grundsaetze des "grossen Meisters" Theodor Schieder, welche der "Analyse des politischen Systems" gelten und "die nicht in erster Linie die Staatsmaenner, sondern die Strukturen und Parteininstitutionen" hervorheben [30], steht in nahtloser Kontinuitaet zur entpersonalisierten, nur das deutsche Volk als Forschungsobjekt akzeptierenden Volksgeschichte und Volkstumsforschung vor 1945. Deshalb darf auch bezweifelt werden, dass weder Schieder, noch Conze, dessen Forschungen nach 1945 in die ebenfalls entpersonalisierte Richtung von Begriffen und deren Geschichte zielten, eine wirkliche methodische Erneuerung bewirkten.

Auch die fuer polemische und Forschungszwecke eingesetzten rhetorischen Mittel zeigen, dass die "Alten" sich in vielfaeltiger Weise auf den Kontinuitaetslinien der paradigmenbildenden Forschungsmethodik der Zeit vor 1945 bewegen. Ihre paradigmatisch gebildeten Erklaerungsmodelle zielen an der quellenmaessig belegten faktischen Realitaet meistens vorbei. So stellt sich die paradoxe Situation ein, dass vielfach nicht mehr mit und ueber Geschichtsfakten, sondern mit und ueber Paradigmen argumentiert wird. Das Vorkriegserbe dieser Historikergeneration bewog Ralph Jessen zurecht den Begriff der "HJ-Generation" zu praegen [31]. Die Technik der Paradigmenbildung entspringt also einem Denkstil, der seine Wurzeln vor 1945 hat und in dem die "HJ-Generation" von ihren Lehrern wie Schieder und Conze sozialisiert wurde.

Resuemee

Der Interviewband von Hohls und Jarausch sollte den Zweck erfuellen, die verfahrene Lage der "HJ-Generation" aufzupolieren. Doch es bestehen ernsthafte Zweifel daran, dass dies gelungen ist, zumal Wolfgang Mommsen mit einer Chronologie aus der Reihe faellt, die in irrefuehrender Weise entgegen Aly beweisen soll, dass nicht die Vorarbeiten von Schieder & Co. die Vernichtung der Juden ermoeglichten, sondern diese durch die Umsiedlung der Balten-, Bessarabien-, Bukowina- und Wolhyniendeutschen ausgeloest worden sei [32]. Doch die Zurueckfuehrung von Balten- und Russlanddeutschen erfolgte 1939/40, die der Bukowiner und Bessarabiendeutschen aber im September/Oktober 1940 [33], waehrend die sogenannte "Endloesung der Judenfrage in Europa" am 9. Oktober 1942 eingeleitet wurde [34]. Die menschenverachtende, verbrecherische Grossraumpolitik der Nationalsozialisten ist das eigentliche Bindeglied zwischen der Judenvernichtung und der Umsiedlung der deutschen Siedlergruppen. Beide Faktenkomplexe sind erst durch die ideologischen und politischen Kontinuitaetslinien der Volksgeschichte der 20er Jahre und der im Dritten Reich zur Volkstumsforschung ausgebauten Volksgeschichte moeglich geworden. Und ausgerechnet jene Generation von Archivaren, Geographen und Historikern, die sich waehrend der NS-Zeit in zahlreichen Denkschriften und Publikationen ueber die Eindeutschung, die Ausgrenzung und die Vernichtung von Bevoelkerungsgruppen geaeussert hatte, ist fuer alle wichtigen Arbeiten ueber die sogenannten Fluechtlinge und Volksdeutschen zustaendig gewesen. Die rechtzeitig zum Historikertag 1953 veroeffentlichte und nicht unumstrittene mehrbaendige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" stellte ein erstes Mal die "Deutschen" als Opfer wissenschaftlich dar, obgleich selbst Theodor Schieder zu der Einsicht gelangt war, dass "das ganze Spektakel [...] ja nichts weiter als der Versuch [ist], die Volksgruppen aus dem allgemeinem Gericht ueber die NS-Politik auszunehmen, unter das wir als sogenannte Binnendeutsche uns ja ohne weiteres stellen." [35] Schieders Stellungnahme ueber die Auslandsdeutschen ist auch als rhetorische Kritik ein Zynismus.

Tatsache ist, dass die nationalsozialistische Elite, zu der Schieder & Co. zaehlten, die Verantwortung nicht nur fuer die juedischen Toten des Holocaust teilen muss , sondern auch fuer die zwangsumgesiedelten Auslandsdeutschen, die als Opfer der nationalsozialistischen Unverhaeltnismaessigkeiten zu gelten haben.

Statt der seit dem Frankfurter Historikertag 1998 verstaerkt gefuehrten Diskussion um das Engagement der Historiker im nationalsozialistische Treiben positiv zu begegnen und sich bezueglich ihres eigenen und des Standortes ihrer Lehrer konstruktiv zu aeussern, zog es die "HJ-Generation" vor, eine "Einheit des Faches" zu beschwoeren, die "vielleicht gar nicht mehr bestanden hat" [36]. Die kohaesive Kraft holte sich das Fach bisher aus dem von den juengeren Historikern zurecht thematisierten und kritisierten Konsens des politischen und methodischen Beschweigens. Dieser Konsens schwindet zusehends, seit die Glaubwuerdigkeit der "HJ-Generation" durch die fundierten Recherchen der Juengeren umgestossen wurde. Weil die Wehlers und Mommsens die Bedeutung historischer Aufklaerung verkennen, bleibt es allein den Jungen vorbehalten, weiteres Licht ins Dunkel zu bringen. Und sie laden zu diesem Diskurs der Aufhellung und Laeuterung ein.

Anmerkungen:

[1] Hans Ulrich Wehler im Interviewband von Ruediger Hohls und Konrad Jarausch auf http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/wehler.htm

[2] "Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Ein Kommentar", in: "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus", hg. Von Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle, Frankfurt a.M. 1999 , S. 340-357, hier S. 355, Anm.11. Historische Gerechtigkeit reklamiert auch Wofgang Schieder fuer die Beurteilung seines Vaters Theodor Schieder ("Keine Fragen, keine Antworten?", in: Ebenda, S. 302-305, hier S. 305).

[3] Vgl. Wehler und Stuermer (ihre Lehrer schrieben nur als "Kinder ihrer Zeit"; sie bedienten sich "zeitbedingter" Begriffe (Wehler) (wie Anm.1)). Auch auf den politisch-ideologischen Karrierezwang wird wiederholt hingewiesen. Gegen den Karrierismus der Nachwuchshistoriker wandte sich bereits 1933 der liberale Historiker Walter Goetz im 10. Band der Propylaen-Weltgeschichte (Siehe Ingo Haar, "Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der Volkstumskampf im Osten" (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd.143), Goettingen 2000, S. 175).

[4] Hans-Ulrich Wehler, "Nationalsozialismus und Historiker", in: "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus", S. 306-339, hier S. 313, aeussert sich vorsichtig zum Thema des Innovationspotentials.

[5] Kocka (wie Anm.2), S. 356, Anmerkung 16. Zu dem Thema Peter Schoettler, "Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945. Einleitende Anmerkungen", in: Peter Schoettler (Hg.), "Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945", Frankfurt a.M. 1997, S,17-19.

[6] Kocka (wie Anm.2), S. 349f.

[7] Ingo Haar (wie Anm.3), belegt den Prozess der Politisierung: S. 188,191,193,221,224,267,272,300,345.

[8] Wie Anm.2, S. 344f.

[9] Mitchell Ash von der Universitaet Wien schreibt in seinem Beitrag "Nachgeholte Antworten" zum Review-Symposium ‚"Versaeumte Fragen" auf H-Soz-u-Kult am 6. Dezember 2000: "Nach dem 'linguistic turn'" kann "zwischen Sprache und Handeln keine feste Trennungslinie bestehen. Gerade im jetzt aufgerollten Falle der Historiker geht es doch um Texte, die zum Zwecke der Beratung geschrieben wurden und eben deshalb als Taeter zu begreifen sind."

[10] Wie Anm.4, S. 323.

[11] M. Zuckermann, "Gedenken und Kulturindustrie. Ein Essay zur neuen deutschen Normalitaet", Berlin und Bodenheim bei Mainz 1999, S. 33-60, bezieht punktuelle Stellung zu H.-U. Wehlers Frankfurter Referat..

[12] Haar (wie Anm.3), S. 297.

[13] In: "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" (wie Anm.2), S. 265-273, hier S. 268-271.

[14] Stuermer-Interview unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/stuermer.htm .

[15] Wie Anm.13, S. 271.

[16] Ebenda, S. 272.

[17] "Vom "Volkstumskampf" zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im Osten. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus", in: "Deutsche Historiker...", S. 183-214, hier S. 186f.

[18] Wie Anm.13, S. 272.

[19] Wolfgang Mommsen (wie Anm.17), S. 187.

[20] Ebenda, S. 187f.

[21] H. Mommsen (wie Anm.13) , S. 267 und im Interview unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/hmommsen.htm . H.-U. Wehler (wie Anm.4), S. 335; W. Mommsen im Interview unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/wmommsen.htm

[22] Wolfgang Mommsen lehnt im Interviewband die "Ideologisierung" mit der Begruendung ab, der "grosse Meisters" Schieder habe sich stets dagegen verwahrt. Dagegen ist einzuwenden, dass keine historische Forschungsmethode aideologisch ist. Hier gilt die Feststellung von Immanuel Geiss, dass die Geschichtswissenschaft "vielleicht die ideologischste und ideologisch gefaehrdetste Geisteswissenschaft" ist (auf H-Soz-u-Kult unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/geiss.htm).

[23] Aehnlich, aber bedeutend geringschaetziger, ist H.-U. Wehlers Formulierung ""Soapopera "Holocaust" in seinem Interview (wie Anm.1).

[24] H. Mommsen im Interview (wie Anm.21) formuliert diesen Grundsatz in Verbindung mit dem Vorwurf, die jungen Historiker betrieben eine "von moralischer Empoerung begleitete Aufklaerung von in der Regel unbequemer Sachverhalte".

[25] So Hans Mommsen im Interview (wie Anm.21).

[26] Wie Anm.21.

[27] Wehler nennt das "geschichtswissenschaftliche Deutungskompetenz" (wie Anm.4, S. 307).

[28] Immanuel Geiss (wie Anm.22).

[29] Mitchell Ash (wie Anm.9) haelt den "Bruch mit dem tradierten Muster und die Wende zu einer kritischen, wissenschaftshistorisch fundierten Auseinandersetzung" fest. Er verortet die Brisanz der aktuellen Kontroverse darin, dass jenseits der "Rivalitaet unter den Generationen" "[...] ein menschlich warmer Diskurs der ethischen oder politischen Bewertung mit einem scheinbar kuehlen, unpersoenlichen Diskurs wissenschaftlicher Objektivitatet um die Wette [...]" eifern.

[30] W. Mommsen im Interview (wie Anm.21). Michael Stuermer bekennt sich ebenfalls zu dieser Methode: "Mich interessieren somit die Sachen viel mehr als die Personen und ihre Verflechtungen" (Wie Anm. 14).

[31] Auf H-Soz-u-Kult unter Historiographie als soziale Praxis

[32] Diese Vorgehensweise W. Mommsens entspricht dem von der alten Historikergeneration mit Vorliebe bedienten Differenzierungskonzept, das es ermoeglicht Zaesuren beliebig zu setzen, wodurch ideologische und politische Kontinuitaeten mit dem Ziel der Relativierung kuenstlich aufgehoben werden.

[33] Konrad Guendisch, "Siebenbuergen und die Siebenbuerger Sachsen" (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band 8), Muenchen 1998, S. 204.

[34] "Der Nuernberger Prozess: Urteil", S. 223. Digitale Bibliothek Band 20: Der Nuernberger Prozess, S. 862 (Directmedia Publishing GmbH, Berlin 1999). Vgl. auch Helmut Krausnick, "Judenverfolgung", in: Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick (Hgg.), "Anatomie des SS-Staates", Muenchen 1994, S. 647, Anm. 212.

[35] Bundesarchiv Koblenz NL 1188/41 T. Schieder/H. Booms v. 21.5. 1957, zitiert in M. Beer, "Das Grossforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte", in: VZG 46/1998/2, S. 376.

[36] Interview H. Mommsen (wie Anm. 21).


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