Interview mit Imanuel Geiss
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Imanuel Geiss, geboren 1931 in Frankfurt/M., studierte nach einer Dolmetscherausbildung ab 1955 Geschichte und Politik in München und Hamburg. Er promovierte 1959 bei Fritz Fischer in Hamburg über das Thema "Der polnische Grenzstreifen 1914-1918". Nach seiner Habilitation 1968 lehrte er als Dozent in Hamburg, bevor er 1973 als Professor an den Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Bremen berufen wurde. Dort lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1996.

Imanuel Geiss lebt heute in Bremen.

Geiss: "Unsere 'Neue Orthodoxie' ist heute viel illiberaler als ihre akademischen Väter nach 1945."

Teil 1: Biographische Fragen

Herr Geiss, lassen Sie uns mit Ihrer Herkunft, Ihrem Werdegang beginnen: Sie sind 1931 in Frankfurt am Main geboren, vielleicht könnten Sie uns etwas über, ihre Herkunft, Ihr Elternhaus erzählen.

Mein Vater war Facharbeiter, der im Jahre meiner Geburt arbeitslos geworden war, so daß wir dann ein Sozialfall waren. Ich war das jüngste von fünf Kindern. Nach meiner Geburt bekam meine Mutter Meningitis, woraufhin sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, dann in eine Pflegeanstalt, und schließlich ist sie 1941 im Euthanasieprogramm umgekommen. Der Weg zur Oberschule war somit durch meinen Vater vorgezeichnet, der sich immer dafür einsetzte, daß seine Kinder es besser haben sollten - den Spruch kennen wir ja alle. Das entscheidende war, daß wir durch seinen Tod 1940 in ein Frankfurter Waisenhaus kamen, das die sehr moderne und liberale Praxis hatte, gute Zöglinge auch zur Oberschule gehen und dann sogar studieren zu lassen.

Ihre familiäre Situation war also im NS sehr ambivalent. Auf der einen Seite wurde die Mutter ein Opfer des Systems, während andererseits für die Kinder anschließend gesorgt wurde ...

Das war unabhängig vom NS, denn das Frankfurter Waisenhaus bestand seit 1679, also schon vor dem Dritten Reich. Eine Folge war, daß natürlich der Bildungshintergrund, den die meisten meiner Kollegen haben, bei mir weggefallen ist. Ich genoß also kein klassisches humanistisches Gymnasium und keine klassische deutsche Philosophie usw. - das war alles durch eine härtere Jugend aufgehoben. Ein amerikanischer Kollege, dem ich das mal erzählte, sagte: "Don't worry, you know the realities of life better." Das war Klaus Epstein.

Sie haben dann in Frankfurt Ihre Schulzeit zugebracht?

Durch Kinderlandverschickungslager, also KLV, war ich 1943/44 neun Monate in Polen, in Krynica. Im Krakauer Huaptbahnhof sah ich Mitte Mai 1944 einen Zug, der nach Auschwitz ging, am hellen Tag. Ich hatte den Namen Auschwitz natürlich nie gehört und wußte damals nicht, was das war. Das erklärt auch teilweise die Wahl meines Themas über deutsche Kriegszielpolitik, über Polen im Ersten Weltkrieg.

Und Sie haben sonst in Ihrer Kindheit auch die üblichen Stationen durchlaufen, als Pimpf und Hitlerjunge?

Pimpf ja, HJ nicht mehr. Wir sollten am Heldengedenktag in die HJ übernommen werden, dem 25. März 1945. Das fiel aus: Am selben Morgen waren die vor dem 31. Dezember 1930 geborenen Schüler noch zum Volkssturm eingezogen worden und mußten bis ins Egerland marschieren. Vier Tage später kamen dann die Amerikaner.

Das Kriegsende haben Sie in Frankfurt erlebt?

Bei Frankfurt, in Nidda am Fuß des Vogelsbergs, wohin unsere Schule Anfang 1944 evakuiert worden war. Ich blieb noch ein Jahr, bis ich nach Frankfurt zurückkam. Die nächsten drei Jahre lebte ich mit einem anderen Schulkameraden im Lehrlingsheim des Waisenhauses. Der Umstand, daß wir dort zusammen mit fünfzig Lehrlingen waren, verlangte große Konzentration.

Ihr Abitur haben Sie dann ...

... 1951 in Frankfurt abgelegt. Das Waisenhaus genehmigte mir nur ein kurzes Studium. Ich hatte schon früher vom Auslands- und Dolmetscherinstitut in Germersheim gehört, wo ich Englisch und Französisch belegte. Auf dieser Basis konnte ich ab 1955 Geschichte studieren, was ich im wesentlichen mit Übersetzungsarbeiten selbst finanzierte.

War das Ziel Geschichte für Sie schon von vornherein klar oder hatten Sie, als Sie mit dem Abitur fertig waren, noch keinen klaren Entwurf?

Es war vage, noch nicht so stark kristallisiert. Nach Germersheim aber war mir klar, daß ich das eigentlich machen wollte.

Dann gingen Sie 1955 nach München. Gab es einen besonderen Grund dafür?

Das Institut für Zeitgeschichte interessierte mich. Wir waren damals alle bewegt von der Frage, wie es zu 1933 und den Folgejahren bis 1945 kommen konnte. Durch einige Aktenfunde gelangte ich zum 1. Weltkrieg und bin dann, wie Wehler es mal so schön genannt hat: "im Krebsgang durch die deutsche Geschichte", immer weiter zurückgekommen. Heute bin ich der Meinung, daß man ohne Kenntnis des Alten Orients keine Geschichte versteht.

Diese Meinung werden Sie vermutlich nicht mit allen Kollegen teilen ...

... die wahrscheinlich auch nichts von Weltgeschichte verstehen.

Wollten Sie von Anfang an die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen?

Als ich mich bei Franz Schnabel zur ersten Seminararbeit anmeldete, fragte er mich, was ich machen wolle, und ich sagte, daß ich mich habilitieren wolle - ich war damals drittes Semester. Wenn mir das jemand sagen würde, würde ich ihm den Puls fühlen. Er aber nahm das sehr großzügig auf und unterhielt sich eine halbe Stunde mit mir.

 Nun war Franz Schnabel eine faszinierende Gestalt.

Er machte großen intellektuellen Eindruck auf mich. Später habe ich die Neuausgabe meiner "Geschichte im Überblick" meinen drei historischen "Hausgöttern" gewidmet, in der chronologischen Reihenfolge Alexis de Tocqueville, Henri Pirenne, Franz Schnabel, die ich alle in München in meiner Zeit als Student kennengelernt habe.

 Wer war noch am Historischen Seminar in München, an den Sie sich erinnern?

Heinz Gollwitzer hat mit seinen Vorlesungen und Prüfungen für kleine Stipendien großen Eindruck gemacht.

Spielte das Institut für Zeitgeschichte bei der Anbindung auch eine Rolle?

Nein das war nicht angebunden, das war eher ein Rivalitätsverhältnis. Aber das hat Schnabel nicht gestört.

Hatten Sie mit dem Institut für Zeitgeschichte etwas zu tun?

Ja, ich diente mich dort relativ schnell als studentische Hilfskraft an, nicht etatisiert, sondern - wie man heute sagen würde - projektgebunden. Da bekam ich ein wenig Geld und habe natürlich auch viel gelernt.

Paul Kluke war damals der Generalsekretär und hielt als Privatdozent Vorlesungen und Seminare, an denen ich teilgenommen habe. Außerdem waren da Anton Hoch, Helmut Krausnick, Martin Broszat und Hans Buchheim.

Für letztere haben Sie dann auch recherchiert und gearbeitet?

Nur kleinere Hilfsarbeiten. Für den ersten Tagungsband des Instituts in Tutzing 1956, "Das Dritte Reich und Europa", übersetzte ich Texte aus dem Englischen und Französischen ins Deutsche, wobei mir aufgegeben wurde, sie zugleich auch zu kürzen, was eine sehr gute Übung war. Ich habe noch monatelang Artikel in der Zeitung gelesen und im Geiste gestrichen.

Wie lange waren Sie schließlich in München?

Drei Jahre, von 1955 bis 1958. Danach arbeitete ich den ganzen Winter bei Gustav Heinemann in seinem Büro für die Gesamtdeutsche Volkspartei, wo ich in den Semesterferien öfter ausgeholfen hatte.

Im Herbst 1956, nach meinem 3. Semester in München, kam ich durch Helga Grebing, die ich in München kennengelernt hatte, an einen Archivauftrag. Ein amerikanischer Professor, Stefan T. Possony, der eine Arbeit über die Vorbereitung der Oktoberrevolution im Kaiserreich schrieb, suchte jemanden, der in Potsdam und Merseburg, die damals gerade die Akten aus Moskau erhalten hatten, recherchierte. Helga Grebing fragte mich, ob ich das nicht übernehmen wolle, weil sie aus Ostberlin kam und in den Augen der DDR illegal nach Westdeutschland gegangen war. Bis dann sämtliche Genehmigungen für die Archivbenutzung usw. eintrafen, arbeitete ich zunächst die bayerischen Akten über den Ersten Weltkrieg durch.

In Potsdam lernte ich im Wintersemester 1956/57 Fritz Fischer kennen. Dort sah ich zum Beispiel die Septemberdenkschrift zuerst und zeigte sie Fischer, der hinter mir saß und sie nach mir bestellt hatte. In Potsdam und Merseburg entdeckte ich nebenbei mein Thema über die deutsche Kriegszielpolitik gegenüber Polen im Ersten Weltkrieg. Für das Institut für Zeitgeschichte machte ich im Herbst/ Winter 1957 Auszüge aus den Findbüchern, damit die Akten besser beurteilt werden konnten. Daraufhin kam mir die Idee, zu Fischer nach Hamburg zu gehen, bei dem ich mich letztendlich promovierte. Dort habe ich an den beiden Aufsätzen der HZ mitgearbeitet und bei dem Buch: "Griff nach der Weltmacht".

 Wenn Sie die ältere Generation bzw. Ihre Lehrer betrachten, spielte da die jüngste Vergangenheit eine große Rolle? War die Zeitgeschichte im Bewußtsein Ihrer Studienjahre in Lehrveranstaltungen präsent?

Die Vergangenheit der Professoren spielte gar keine Rolle. Von Franz Schnabel wußte man ohnehin, daß er oppositionell eingestellt war. Unser Englischlehrer und zeitweise Geschichtslehrer hatte immer vom "großen Schulmann Franz Schnabel" gesprochen und dessen Schulbuch gelobt. Zuhause hatte ich als Achtjähriger mal dieses Schulbuch bei meinem älteren Bruder gesehen und darin gelesen - Alter Orient, Sparta, Athen. Im übrigen war die soziale Distanz zwischen Student und Professor so enorm - da hätte man gar keine Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen. Vielleicht die Assistenten, obwohl ich glaube, daß die Frage, was die eigenen Lehrer im Dritten Reich gemacht hatten, vollkommen wider jede Vorstellung gewesen wäre.

 Aber wäre es nicht denkbar gewesen, sich zu fragen, was diese Männer, die in ihren Fünfzigern oder vielleicht noch älter waren, in der Zeit des Nationalsozialismus geschrieben hatten?

Natürlich, rein theoretisch kann man sich heute die Frage so stellen. Aber in der Realität war sie damals realitätsfremd und ist deshalb heute ahistorisch: Ehrlich gesagt, auch ich selbst - so etwas kritisch und links, seit 1955 in der SPD - kam nie auf die Idee, zu fragen. Daher ist dieser heutige Vorwurf überzogen - auch gegenüber den anderen Kollegen.

Über Franz Schnabel ist jetzt eine Monographie erschienen, die zumindest deutlich macht, daß er, wie viele andere auch, sehr national-konservative Positionen vertreten hat. Wie beurteilen Sie seine Haltung?

Man kann nachträglich natürlich alles niedermachen, z.B. mit neuen Quellen und neuen Kriterien. Für uns aber war Schnabel 1955 ein großer liberaler Katholik, der im Dritten Reich seine Stelle verloren hatte, Berufsverbot hatte, und nach dem Krieg wiederkam. Bei Franz Schnabel hätte man nie irgendwie in der Richtung gefragt, zumal wir selbst 1945 aus diesem ganzen Schlamassel und Untergrund kamen und uns da erst allmählich herausarbeiten mußten.

Als wir mit Helga Grebing sprachen, sagte sie, sie habe sich als Fünfzehnjährige praktisch selbst Rechenschaft abgelegt über ihre politische Verortung oder über ihr politisches Empfinden. Gab es bei Ihnen vielleicht auch eine solche Persönlichkeitskrise?

Nein, nicht im Sinne einer peinlichen Selbstbefragung. Natürlich sah ich, was ich gemacht hatte, wie ich als Pimpf mitgelaufen war und merkte, daß die meisten Erwachsenen 1945 gar nicht als Befreiung empfanden, sondern als Zusammenbruch einer ganzen Welt. Ich weiß noch, vielleicht sechs oder acht Wochen nachdem die Amerikaner da waren, hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob Mauern gefallen wären, man plötzlich Zugang zur Welt hätte. Vorher war man fast autistisch eingeschlossen. Mit der Zeit akzeptierte man, daß das Prinzip der Demokratie besser ist. Für mich jedenfalls bedeuteten die ersten Nachrichten über Auschwitz die große Distanzierung.

 Hat man, wenn man politisch-historisch interessiert war, nach Vorbildern gesucht? Was hat Sie am ehesten fasziniert - sei es nun Lektüre oder seien es politische Vorbilder?

Vor 1945 gab mein älterer Bruder Nachhilfeunterricht und legte sein Geld teils in Fotografieren, teils - ziemlich wahllos - in Büchern an, die ich dann genauso wahllos las. Da waren natürlich rechtsextreme Sachen dabei, von einem Offizier, der auf der "Derfflinger" die Skagerragschlacht mitgemacht hatte, dazu Beumels "Sperrfeuer um Deutschland". So etwas habe ich als Acht-, Neun-, Zehnjähriger gelesen. Aber auch die Biographie von Kluge über Friedrich II. mit den Illustrationen von Adolf Menzel las ich in einem Zug und eben auch das Schnabel-Lehrbuch meines Bruder. Im Kinderhort, wo wir waren, gab es Bücher zu den Befreiungskriegen, Heftchen vom Siebenjährigen Krieg bis zur Kampfzeit der NSDAP. Das waren meine ersten Geschichtskenntnisse, die ich so aufgesogen habe. Nach 1945 kam dann natürlich die Orientierung an Albert Schweitzer und Gandhi.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Fritz Fischer dargestellt? War es auch so distanziert, wie Sie es vorhin geschildert haben?

Auf der einen Seite habe ich bei ihm zu Hause gewohnt, wodurch wir acht bis zehn Stunden am Tag zusammen arbeiten konnten, andererseits habe ich die Sie besonders interessierende Frage auch nie gestellt.

Wie war, ganz unabhängig davon, das persönliche Verhältnis, als Sie mit ihm unter einem Dach gelebt haben? Haben Sie sich über seine Karriere, seinen wissenschaftlichen Werdegang vor dem Zusammenbruch informiert?

Nein, habe ich nicht. Ich habe nebenbei ein wenig aus seinem Leben erfahren, nicht jedoch, was NS-spezifisch war.

Er begann ja als Theologe ...

Ja, als Kirchenhistoriker. Das habe ich durch seine Dissertation und Habilitation mitbekommen. Aber zum Beispiel habe ich auch erst aus der Literatur erfahren (Helmut Heiber), daß Fischer ein Stipendium von Walter Franks Reichsinstitut hatte.

Dazu hat sich Fischer also nicht geäußert?

Man hat schon gemerkt, daß er ganz persönlich für sich das Dritte Reich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten bewältigen wollte. Kritischer betrachtet - wie etwa aus der Perspektive Gerhard Ritters -, wurde ihm sein Verhalten zum Vorwurf gemacht, in dem Sinne, daß er Opportunist gewesen sei.

Waren Sie in Hamburg an der Uni noch angebunden oder eher mit Archivstudien befaßt?

Ich war wissenschaftliche Hilfskraft und arbeitete bei Fischer. Im ersten Jahr nach meinem Abschluß wurde mir eine Stelle bei der Ebert-Stiftung angeboten. Fischer aber bat mich darum, noch ein Jahr bei ihm zu bleiben, so daß ich ein Jahr später als vorgesehen bei der Ebert-Stiftung anfing.

1959 wurden Sie dann promoviert. Wie sahen Ihre Pläne zu diesem Zeitpunkt aus? Wollten Sie sich habilitieren?

Nein, das war noch relativ vage und offen. Ich hatte eher das Gefühl, daß ich mehr zur Forschung als zur Lehre taugen würde. Deshalb war mir die Beschäftigung bei der Ebert-Stiftung sehr lieb. Dort wurde ich aber später praktisch rausgeworfen, weil ich eine Linie vertrat - Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze -, die später im Prinzip die Neue Ostpolitik wurde. Ich galt somit als kommunistenverdächtig. Meine Dissertation über deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg gegenüber Polen wurde auch ins Polnische übersetzt, was ich loyal meldete. Der Geschäftsführer der Ebert-Stiftung reagierte darauf mit den Worten: "Mein Gott, was werden meine Auftraggeber dazu sagen?!" Die Auftraggeber waren natürlich die Bundesministerien.

War das damals ein Politikum?

Mit meinen Arbeiten, unter anderem auch Artikeln im "Vorwärts", hätte ich konservative Politiker so verärgert, was die Ebert-Stiftung sich nicht erlauben könne. Die Dokumentation "Julikrise 1914 und Kriegsausbruch" sollte eingestampft werden, obwohl der erste Band schon im Umbruch war. Daraufhin mobilisierte ich amerikanische Professoren, die aus Deutschland stammten, Hajo Holborn und Fritz T. Epstein. Sie schrieben der Ebert-Stiftung, daß das Nichterscheinen des ersten Bandes Unbehagen in den USA auslösen würde. So wählte ich eine Kompromißlösung: Ich war bereit auszuscheiden, aber mit einem zweijährigen Werkvertrag. Den zweiten Band dieser Dokumentation zum Kriegsausbruch stellte ich so fertig und konnte ein früheres Projekt - ein Gutachten für das Auswärtige Amt über Gewerkschaften in Afrika - zum Buch ausarbeiten. Beides wurde schließlich durch die Ebert-Stiftung veröffentlicht. Als ich mir ein Habilitationsstipendium suchte, wollte ich ein Thema nehmen, das nichts mit Deutschland zu tun hatte, und kam deswegen auf Panafrikanismus.

 Also war auch Ihr Engagement für Fritz Fischer nicht gerade karriereförderlich?

Im Gegenteil. Manche, die sich aus irgendwelchen persönlichen Gründen nicht an Fritz Fischer ranwagten oder ihn nicht angreifen wollten, die prügelten dann nicht den "Sack", sondern den Geiss.

 Es ist aber auch auffallend, daß sich einige Historiker in der Fischer-Kontroverse gar nicht äußern. Von Schieder und Conze beispielsweise hörte man da nicht allzuviel, oder?

Schieder war immerhin als Herausgeber der HZ so liberal, daß er Fischer sofort die Gelegenheit gab, in der HZ zu veröffentlichen. Mit Conze war es ein wenig komplizierter: Ich hatte bei dem ersten Arbeitsdurchgang für Possony Auszüge aus einigen Archivalien gemacht, die ich in Potsdam gefunden hatte. Diese gab ich an das Institut für Zeitgeschichte, das es an Conze weiterleitete. Er schrieb mir einen netten Brief, in dem er sein Interesse an den Materialien bekundete, da er gerade ein Buch über deutsche Politik und Polen im 1. Weltkrieg schriebe. Er fragte an, ob er das Material verwenden könnte, er würde mich auch nennen. Ich war damit nicht einverstanden, da ich entsprechend der Wichtigkeit des Themas selber Verfasser sein wollte. Daraufhin machte er mir den Vorschlag, für die "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" eine Dokumentation zu verfassen - mit einer Einleitung von Conze. Meine Aktenauszüge landeten aber letztlich in seinem Buch in einer langen Fußnote, wo er praktisch die Essenz dieser Quellen unter dem Titel "polnischer Grenzstreifen" resümierte und eine eigene größere Arbeit dazu ankündigte.

Und Ihr Name fiel da nicht?

Nein. Das war meine erste Erfahrung mit intellektueller, akademischer Redlichkeit. Korrekterweise hätte er schreiben müssen, daß darüber demnächst eine geplante Dissertation von Imanuel Geiss erscheinen würde, wie ich ihm brieflich mitgeteilt hatte. Aufgrund weiterer Quellenfunde schrieb ich dann meine Dissertation, nicht willens, von seinem Vorschlag noch Gebrauch zu machen.

Später hat man ja erfahren, daß jemand wie Rothfels solche Prozesse wesentlich beeinflußte, daß meinetwegen die Riezler-Tagebücher nicht oder erst sehr viel später erschienen. Gab es damals Fronten mit Fischer auf der einen Seite und bei den Jüngeren wie Conze und Schieder, die ja auch Rothfels näherstanden, auf der anderen Seite? Haben Sie diese Spannungen auch mitbekommen?

Da Schieder sich in der Publikationsfrage so liberal verhalten hatte, merkte ich direkt nichts. Mir wurde nur später gesagt, daß bei Conze in Heidelberg - und ich glaube, auch bei Schieder in Köln - Seminare veranstaltet wurden, um Fischer zu widerlegen, was ja legitim ist. Nur so habe ich die Spannungen gespürt. Beim Historikertag 1964 in Berlin ist dann alles aufgebrochen durch Erdmann, der das Thema als damaliger Vorsitzender auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Mit einer selbstverständlichen Liberalität lud er damals auch zwei jüngere Mitarbeiter Fritz Fischers ein, seinen Assistenten Helmut Böhme, der zu dieser Zeit noch nicht einmal promoviert war, und mich. Da könnten sich manche von unseren "neuen Orthodoxen" heute eine Scheibe an Liberalität abschneiden!

Es ist ja bekannt, daß Otto Brunner lange Zeit keine Stelle hatte und erst 1958 nach Hamburg berufen wurde. Was war Ihr Eindruck von ihm?

Ich war in Hamburg in dem Sinne ein doppelter Außenseiter. Ich kam als Externer und promovierte, saß dann aber für "Griff nach der Weltmacht" in Klausur bei Fritz Fischer. Von der Universität bekam ich sowieso nicht viel mit und kann schwer sagen, was man damals in Hamburg dachte. Für mich war Otto Brunner der damalige Rektor, als ich promovierte, so daß unter meiner Promotionsurkunde sein Name steht. Gelegentlich sah ich ihn natürlich im Historischen Seminar. Aber einen persönlichen Eindruck von ihm habe ich sonst nicht oder etwas, das besonders berichtenswert wäre.

Und Fischer und er kamen auch gut miteinander aus?

Ja, sie kamen gut miteinander aus. Hermann Aubin war damals schon emeritiert, aber er schwebte immer noch als der große Geist darüber. Mit meiner Frau habe ich damals einen bitteren Kampf gehabt, weil ich in meiner Dissertation schreiben wollte: "Der Altmeister der deutschen Ostforschung, Hermann Aubin", hat das und das geschrieben, und aus dem Zusammenhang, aus dem ganzen Duktus konnte man ersehen, daß das natürlich ironisch gemeint war. Es hat tagelang gedauert, bis sie mir abgerungen hatte, das nicht zu schreiben.

Aubin war ja auch schon viel profilierter zu NS-Zeiten als die viel jüngeren Conze und ...

Das konnte ich mir damals aus seinen Schriften, die mir für meine Arbeit zugänglich waren, zusammenreimen. Das war, wenn Sie wollen, auch so ein Stück Selbstzensur.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Die Zunft, wie es bei uns so schrecklich schön heißt, ist natürlich immer auch Teil der Gesellschaft. Je mehr ich damals in Kategorien der Gesellschaft zu denken begann, ohne jemals Gesellschaftshistoriker geworden zu sein, wurde mir klar, daß die Historiker auch Teil des Dritten Reiches waren. Ich selbst habe Fritz Fischer dieses Stichwort der Kontinuität "serviert" und in meinem Dokumentenband "Julikrise 1914 und Kriegsausbruch" im Schlußwort geschrieben, daß die Frage der Kontinuität die deutsche Geschichtswissenschaft für das nächste Jahrzehnt nicht loslassen werde. Ich habe 1964 nicht gedacht, daß dies für die nächsten vier Jahrzehnte der Fall sein würde.

Daß die damals etablierten deutschen Historiker direkt oder indirekt einen Anteil hatten am Dritten Reich, selbst wenn sie nie Mitglied der NSDAP waren, das war mir schon früh klar. Das Ausmaß der Verstrickungen der damals Jüngeren, die damals ungefähr dreißig bis Mitte dreißig waren, das war mir natürlich auch nicht klar. Conze hatte mir damals während unseres Kontaktes gesagt, daß der preußische Oberregierungsrat Conze, der ab 1915 an den regierungsamtlichen Planungen zum polnischen Grenzstreifen samt erwogener Aus- und Umsiedlungen beteiligt war, sein Onkel gewesen sei. Die Unterschrift der beiden Conzes ist so ähnlich, daß ich sie nicht unterscheiden könnte. Werner Conze mußte also von den wilhelminischen Vorläufern gewußt haben. Das habe ich auf dem letzten Historikertag in Frankfurt auch erzählt.

Abgesehen davon hat für mich als Historiker natürlich alles seine Vorläufer. Nichts fällt vom Himmel herab oder steigt plötzlich aus der Hölle empor. So gab es eben auch wilhelminische Vorläufer deutscher NS-Politik, und die habe ich in meiner Dissertation behandelt. Deswegen hat mich jetzt diese Diskussion besonders interessiert, weil auch auf personeller Ebene Kontinuität bestand - vom Onkel zum Neffen.

Inhaltlich war das natürlich Politikberatung was die jüngere Generation im Dritten Reich tat, und da es Beratung für eine schlechte Politik war, war es natürlich eine schlechte Sache. Nun verstehe ich aber auch, warum sich Conze zu meinem Grenzstreifen-Buch nie geäußert hat. Darin hatte ich nämlich geschrieben, daß der "polnische Grenzstreifen" der Vorlauf gewesen sei zu dem, was dann brutalisiert, vergröbert und stärker im Dritten Reich geschah. Er wußte es also doppelt: erstens von der Familie, von seinem Onkel her aus dem Ersten Weltkrieg, und dann durch seine eigene Rolle - über die er natürlich nie sprach - im Zweiten Weltkrieg. Deswegen betrifft mich das ganz besonders.

Um eine verallgemeinernde Charakterisierung zu wagen: Würden Sie eher von Mitläufern oder Vordenkern unter den deutschen Historikern sprechen?

Es gab natürlich viele Beispiele für ein gemäßigtes Mit- und Vordenken und natürlich ein Mitlaufen, was ich damals als junger Mensch nicht überblicken konnte und das ich hier nicht näher qualifizieren möchte. Sicherlich gab es unterschiedliche Abstufungen des Engagements. Es gab ja auch viele NS-Universitätshistoriker, die nach 1945 nicht mehr an die Universität durften. Ich vermute, daß die Durchschnittsposition der deutschen Zunft ungefähr das war, was etwa die Deutschnationalen in ihrer Grundlinie vertraten - vor und im Dritten Reich. Gerade das war vordenkend und vorbereitend genug.

Nach den Gutachten zu den deutschen "ethnischen Säuberungen" im Zweiten Weltkrieg, wie sie kürzlich herausgekommen sind, waren die Mittäter dann natürlich auch Schreibtischtäter.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Vor Gott gesehen, wahrscheinlich nicht. Man kann verstehen, daß es den Betreffenden peinlich war und sie deshalb nicht öffentlich darüber sprachen. Daß jemand wie Schieder - jedenfalls in der Fischer-Kontroverse - dieses Ausmaß an Liberalität aufgebracht hat, kann man ihm hoch anrechnen, wenn auch aus Gründen, die vielleicht in seiner subjektiven Vergangenheit liegen. In diesem Sinne enthalte ich mich jeden Urteils. Es ist eine schwierige Situation für jeden individuell, und es fragt sich, ob man von ihnen hätte verlangen können, daß sie sich unter diesen Umständen nach 1945 offen zu ihrer Vergangenheit hätten bekennen müssen. Unsere linke "Neue Orthodoxie" ist noch nicht einmal bereit, über ihre Fehler offen zu diskutieren, vor allem "Historikerstreit" und indirekte Kommunismus-Apologie durch Perhorreszierung der Totalitarismus-Kategorien, geschweige denn sie als Fehler einzuräumen. Historiker sind ohnehin nicht in der Lage, Dinge nachträglich zu verändern, die in der Vergangenheit passiert sind und die einem dann früher oder später unangenehm sind.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Ich habe mich nie näher damit befaßt, und wenn jetzt eine semantische kritische Überprüfung der Arbeiten aus dem Dritten Reich und der neueren Sozialgeschichte diesen Tatbestand herausfiltert, dann ist das eine wichtige und interessante Frage, die natürlich auch moralische Fragen aufwirft. Die weitergehende Anspielung aber geht zu weit. Auf dem Frankfurter Historikertag hat Wehler so reagiert, als ob insinuiert worden sei, daß seine linke Sozialgeschichte braune Wurzeln hatte. Derartiges zu behaupten, wäre ein übertriebener Rigorismus, eine Art wissenschaftliche Sippenhaft. Im Gegenteil: Die linke Sozialgeschichte hat sich in ihrem rigiden Antifaschismus vom Dritten Reich ideologisch so eindeutig abgesetzt und hat den Bruch mit der Kontinuität von sich aus subjektiv so deutlich vollzogen, daß man ihr nicht die erst jetzt bekanntgewordene braune Vergangenheit der Brunner und Conze anlasten kann.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Ich habe sogar einmal - etwa 1972 - einen Aufsatz geschrieben über die Anfänge der westdeutschen Geschichtsschreibung nach 1945 im Jahrbuch für Deutsche Geschichte des Instituts für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. Natürlich gab es eine große Kontinuität. Das zeigte sich nicht nur in den Inhalten, die wir teilweise noch gelernt haben - ressentimentgeladen gegenüber Versailles, das Deutsche Reich als einen Wert an sich, der inzwischen untergegangen war, und dann vor allen Dingen der Aufschrei über den Ersten Weltkrieg, über die "Fischerei", wie ich das nenne. Da hat sich die Kontinuität dialektisch gebrochen gezeigt. Erstens durch die Niederlage von 1945, das Eingeständnis, daß nur "Hitler und seine Bande" am Zweiten Weltkrieg schuld waren, und zweitens durch das Tabu einer deutschen Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg. Dagegen sind Fischer und ich dann angegangen und haben dafür entsprechend Prügel bekommen. Hätte diese Kontinuität nicht bestanden, hätten wir keine Prügel bezogen. Das heißt also, daß wir neue Positionen gegen die "Alte Orthodoxie" durchsetzen mußten. Dialektisch gebrochen ist die Kontinuität durch die "Neue Orthodoxie", die mit moralischem Pathos alles angeblich besser machen will. Der Begriff "Neue Orthodoxie" stammt von Klaus Epstein, mit dem ich aus meiner Bonner Zeit bei der Ebert-Stiftung guten Kontakt hatte. Neben der "Neuen Orthodoxie" - herrschende Meinung ist ja dasselbe - gab es früher eine rechte "Alte Orthodoxie", und dazu gehörte eben "Schwarz-Weiß-Rot", das heißt deutschnational. Seit 1968 - als Symbol betrachtet - haben wir eine "Neue Orthodoxie", eben eine linke.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Sie meinen, mit Conze und Schieder? Deren Position im Wissenschaftsbetrieb war so groß und stark, daß ihre Schüler, die sich teils später von ihnen distanziert haben, teils sie jetzt verteidigen - das ist alles wieder eine Gemengelage -, sich auch gar nicht zu fragen getraut hätten. Die Repräsentanten der "Neuen Orthodoxie" wagten noch nicht einmal in der Zeit der Fischer-Kontroverse, als es noch riskant gewesen wäre, irgendwie öffentlich Stellung für Fischer zu nehmen. Erst nach 1968, als es nicht nur ungefährlich, sondern eher karrierefördernd war, waren plötzlich alle da. Die Schüler Conzes und Schieders hatten früher - als sie noch deren Assistenten waren - solche Eigenständigkeit nicht bewiesen, jedenfalls nicht von außen öffentlich erkennbar. Für mich ist das ein Beispiel für akademischen Opportunismus.

"Neue Orthodoxie" bedeutet für Sie der Umkreis der "Bielefelder Schule" mit "Geschichte und Gesellschaft"?

Alles, was sich jetzt als deutsche "Gesellschaftsgeschichte" empfindet und Paradigmen wie Sonderweg und Historikerstreit kultiviert.

Und Sie meinen, es hätte durchaus Möglichkeiten für diese Historiker gegeben, schon 1964 Stellung zu beziehen?

1964 war ich vom Bayerischen Rundfunk eingeladen worden, als wissenschaftlicher Berater für eine Sendung über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu fungieren. Der erste Teil bestand aus einer Stunde Film über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, der zweite Teil aus einer Diskussion im Fernsehen. Mir oblag es, Vorschläge für eine Viererrunde zu machen, und da habe ich selbstverständlich an Fritz Fischer gedacht. Dann sollte ich die Gegenseite nominieren und benannte in selbstverständlicher Liberalität Erdmann und Wolfgang J. Mommsen, weil er für mich, wie ich ihn aus akademischen Diskussionen kennengelernt hatte, ein junger angehender Vertreter der anderen Seite war: ein Kritiker von Fischer. Ich war daher sehr überrascht, daß er sich nach 1968 als Fischer-Anhänger gab.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Zur ersten Frage: Geschichtswissenschaft hat eigentlich immer direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt politischen Einfluß. Das ist vielleicht die ideologischste und ideologisch gefährdetste Geisteswissenschaft, die ich kenne. Vielleicht noch mehr als Politik, denn Politikwissenschaft ist so offensichtlich politisch, während Geschichte natürlich immer wieder auch verdeckt politisch ist. Objektivierung und Objektivität in der Geschichtswissenschaft ist natürlich ein gewaltiges Thema. Meine Abschiedsvorlesung in Bremen 1996 behandelte unter dem Stichwort Historische Mechanismen die "Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Kategorien auf die Geschichte". Solche naturwissenschaftlichen Kategorien ermöglichen Objektivität, und trotzdem bleiben Historiker natürlich subjektiv begrenzt in dem, was sie wissen können, und in ihren politischen Anschauungen.

Viele Historiker haben den Wunsch, politisch zu agieren. Das halte ich für legitim, und das war auch für mich ein Antrieb, Historiker zu werden und solche Themen aufzugreifen, die zur politischen Erziehung der Deutschen im weitesten Sinne beitragen - Erster Weltkrieg, Panafrikanismus, die Geschichte des Rassismus, Revolution und Revolutionsgeschichte. Punktuell konnte ich politische Beratung leisten, allerdings in einem kleineren Rahmen. Das Prinzip der Politikberatung durch Historiker halte ich prinzipiell für gut und richtig, nur: sie muß mit einem Maximum an wissenschaftlicher Korrektheit, mit Objektivität oder zumindest dem Willen zur Objektivität erfolgen. Sie darf historisch nicht manipulieren, Diskussionen dürfen nicht unterdrückt werden. Auch politische Beratung muß den höchsten, den idealen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen - immer abzüglich des subjektiven Faktors.

Dazu kommt ein Problem, das mich mein ganzes wissenschaftliches Leben lang beschäftigt hat, nämlich die Möglichkeit, Prognosen zu stellen, aus der Geschichte und Politik kommende Entwicklungen hochzurechnen. Das habe ich mehrfach gemacht. Mein letztes Buch "Zukunft als Geschichte" beispielsweise bringt eine Zusammenstellung meiner Prognosen zum Zusammenbruch der Sowjetunion seit dem Afghanistan-Krieg 1980. Vorneweg, fast als Motto, wird Konrad Adenauer zitiert, der in seinen Memoiren schreibt, daß Historiker, vor allem Neuzeithistoriker, brauchbare Prognosen für die Politiker abgeben sollten.

Noch einmal zum zweiten Teil der Frage: In welcher Form wurden Erfahrungen, die Rolle der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich betreffend, in der Bundesrepublik verarbeitet, wenn wir davon ausgehen, daß sich viele mit dem politischen System identifiziert haben und auch eine politische Rolle spielen wollten?

Die Konsequenz war, so dachte man 1945, daß offensichtlich NS-belastete Universitätshistoriker nicht mehr an die Universität kamen.

Es müssen sehr viele gewesen sein, die sich in der Ranke-Gesellschaft zusammenschlossen, das war deren Sammlungsbecken. Das Historisch-politische Buch hat man dort herausgegeben, und in den ersten Jahren hatte sie noch deutlich erkennbar rechte Schlagseite - auch meine Dissertation wurde dort schrecklich verrissen. Im Laufe der Jahrzehnte hat sie sich jedoch normalisiert. Ich bin übrigens auch Mitglied in der Ranke-Gesellschaft. Die von ihr in geringer Auflage herausgegebene Zeitschrift ist fast das einzige Organ, das noch etwas von mir abnimmt unter den akademischen Zeitschriften.

Das war die eine Konsequenz der Zeit nach dem Dritten Reich. Die andere war, daß bis 1968 oder vorher schon, gebrochen seit Ende 1961 durch Fritz Fischers "Griff nach der Weltmacht", eine gemäßigt deutschnationale/rechtsliberale Apologie und Kontinuitätslinie in der Wissenschaft vorherrschte, die sich auf die Politik übertrug. Man wollte - wie es immer emphatisch hieß - Erfahrungen aus der Weimarer Republik, vor allem aus ihrem Untergang und aus dem Dritten Reich positiv werten. Grundgesetz, konstruktives Mißtrauensvotum, Fünfprozentklausel, Wehrhaftmachung der Demokratie waren politische Konkretisierungen solcher "Lehren aus der Geschichte". Das ist aber mehr die Erfahrung aus der Geschichte, die sich natürlich auch auf Historiker stützte. Es gab in der politischen Öffentlichkeit verschiedene Gelegenheiten - den 17. Juni oder die 150-Jahrfeier für Bismarck -, wo Historiker bei Festakten gesprochen haben. Rothfels z.B. im Bundestag. Aber das ist in jedem Staatswesen normal und legitim.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Nationalsozialismus, Drittes Reich, seine Konsequenzen, die beiden Weltverbrechen Zweiter Weltkrieg und Auschwitz, sind solch schreckliche Ereignisse, daß uns beides auf absehbare Zeit beschäftigen wird. Daß uns das so umtreibt, ist verständlich. Meiner Ansicht nach kommen hier zwei Dinge zusammen: Erstens, daß es heutige Historiker natürlich besonders erschüttert, wenn offensichtlich wird, daß ihre Lehrer sich als Schreibtischtäter betätigt hatten, selbst, wenn sie keinen einzigen Menschen umbrachten. Darum geht es bei den Historikern, die sozusagen enttarnt wurden, nachdem sie sich einen liberalen Habitus zugelegt hatten - ob in ehrlicher konstruktiver Reue oder aus Anpassung, das lasse ich vollkommen dahingestellt. Dennoch hat ihre Volkstumsforschung das Material und die Statistiken zur "völkischen Flurbereinigung" im Zweiten Weltkrieg geliefert. Ich habe mich immer gewundert: Wieso hatten die Deutschen, wo immer sie hinkamen, fertige Listen und wußten, wen sie verhaften wollten? Im Prinzip übrigens genau wie die Bolschewiki, die Kommunisten auch!

Das alles wird dadurch noch pikanter, daß ihre Assistenten-, Doktoranden- und Habilitandengeneration, die jetzt die "Neue Orthodoxie" stellt und die sich sonst in der politischen, historischen Substanz immer so eifernd gegen das Rechtsextreme stellte, plötzlich in einer Art Eiertanz ihre akademischen Väter - in einem Falle ja auch den leiblichen Vater - faktisch verteidigt.

Es ist meiner Ansicht nach intellektuell unredlich, daß unsere "Neue Orthodoxie" beim Aufbau und vor allem zur Verteidigung ihrer "kulturellen Hegemonie", wie es Wehler und Wolfgang J. Mommsen jeweils im "Historikerstreit" nannten, heute viel illiberaler ist als ihre akademischen Väter nach 1945. Im "Historikerstreit" waren Gegenpositionen bzw. Diskussionen nur bedingt zugelassen. Habermas, Wehler u.a. verfälschten Zitate ihrer Kontrahenten. Im Endeffekt kam eine Apologie für Kommunismus und Sowjetunion heraus, bis 1991. Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war, sprachen sie auf einmal - nach einer gewissen Schamfrist - auch vom Sowjetimperium, als imperialistisch, totalitär usw. Genau für diese Dinge hatten sie Hillgruber und Nolte vorher gehängt. Gewiß schrieb Nolte viele Dinge, von denen auch ich mich sofort distanzierte, aber er hatte natürlich Recht, daß man Drittes Reich und Sowjetkommunismus, Links- und Rechtstotalitarismus vergleichen kann, ohne deshalb Auschwitz zu bagatellisieren: Geschichtswissenschaft enthält immer auch den Vergleich. Nur hat Nolte den Vergleich nicht differenziert durchgeführt und viele anfechtbare Dinge gesagt, aber der Vergleich ist legitim, möglich und sogar notwendig.

Und warum kommt diese Debatte erst jetzt?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Bücher von Götz Aly sind ja schon älter. Manche Dinge brauchen eben ihre Zeit. Mir fällt nur die Ironie der Situation auf, daß sich Wehler und die Mommsen-Brüder usw. jetzt halb schützend vor ihre akademischen "Väter" stellen und suggerieren, sie selbst wären die Liberalen. Dabei sind sie es in ihrer Praxis überhaupt nicht. Wer wie Wehler und Kocka die Vokabel "Renegat" zur Diffamierung von Dissens benutzt - nicht öffentlich, aber in Briefen an mich -, dazu jede öffentliche Diskussion mit dem "Renegaten" arrogant verweigert, sogar dessen Arbeiten gar nicht mehr liest (Kocka), der beweist selbst eine illiberale, ja totalitäre Gesinnung. Als "Renegaten" haben die Kommunisten Menschen diffamiert, die die Sache des Kommunismus verlassen hatten. Es hat nichts mit Demokratie und Wissenschaft zu tun, mit einem "Renegaten" wissenschaftliche Diskussionen abzuwürgen und zu blockieren, Abweichler von der "Neuen Orthodoxie" zu stigmatisieren.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Das weiß ich nicht. Beim nächsten Historikertag müßte eigentlich die Diskussion weitergehen. Sicherlich würde jemand wie ich nicht eingeladen werden zu einer solchen Diskussion, obwohl ich einiges zur Kontinuität bis zurück ins wilhelminische Kaiserreich zu sagen hätte. Ähnliche Erfahrungen machte ich im "Historikerstreit" bei der ZEIT und beim SPIEGEL.

Die Fronten in diesem Streit sind nicht ganz klar, es gibt keine Zäsur, die absolut ist. Götz Aly und seine Mitstreiter haben natürlich jedes Recht, den intellektuellen Beitrag prominenter Historiker der Bundesrepublik zu NS-Massenverbrechen aufzudecken. Aber ich warne vor jeder moralisierenden Selbstgerechtigkeit einer jüngeren Historikergeneration. Schließlich trifft sich Aly doch auf dem gemeinsamen Boden mit Wehler, den Mommsens usw.: auf der Basis der entscheidenden Grundkontroverse nach der Fischer-Kontroverse, dem "Historikerstreit" von 1986, im Antifaschismus.

Nun könnte man ja auch sagen, daß nach der deutschen Einigung ein wesentlicher Konfliktherd des Historikerstreits genommen worden ist. Es ging ja auch um das bundesrepublikanische Staatsverständnis, die Westbindung und Westorientierung...

Das wurde von Habermas usw. alles nur infam insinuiert. Es ging nicht um Westbindung, Westorientierung. Damals habe ich Wolfgang J. Mommsen - als Vorsitzendem des Historikerverbandes - vorgeschlagen, eine interne Diskussion zu führen, ohne Presse, ohne Profilierungsdruck. Wir sollten das Zitat von Kocka nehmen, daß niemand von den Teilnehmern am "Historikerstreit" das NS-System bagatellisiert oder verteidigt habe. Alles wurde abgewürgt mit der Begründung, der "Historikerstreit" sei vorbei. Nach der Wende von 1989/91 ist der Vergleich von Stalinismus und Nationalsozialismus sozusagen historisch und weltweit sichtbar rehabilitiert. Viele Kollegen stimmen mir mündlich zu, aber die schweigende Mehrheit sagt nichts, dabei müßte doch ein Aufstand stattfinden. Das ist für mich der eigentliche Bruch innerhalb der Zunft.

Das ist ein neuer Streit der Generationen, der sich vom Historikerstreit unterscheidet. Wenn man Wissenschaftler wie Peter Schöttler, Götz Aly und Ingo Haar nimmt, die jetzt die Aufarbeitung der NS-Historie und der Nachkriegshistorie betreiben, dann finden wir neue Frontenverläufe, die sich gegen die moderne Sozialgeschichte wenden.

Warum eigentlich? Man kann die NS-Historiker und die späteren Historiker, Schieder usw., die dann demokratisch und liberal geworden sind, nicht mit dem Pathos des Wissenschaftsrigorismus kritisieren und sich in der Diskussion selbst totalitär verhalten. Jede Frage kann man neu aufrollen. Ich schrieb damals an Wolfgang J. Mommsen dem Sinne nach: "Wir sind das Volk nach 1989! Wir sind die Historiker, wir wollen jetzt den ,Historikerstreit' noch einmal auf die Tagesordnung setzen." Die Weltgeschichte selbst hat ihnen die Argumente unter den Füßen weggezogen. Jetzt muß man neu diskutieren. In der Beurteilung des "Historikerstreits" sind sich "Neue Orthodoxie" und Götz Aly doch einig. Was wir jetzt erleben, ist m.E. eine Mischung aus legitimer Ausweitung historischer Forschungsfelder und aufgeregter Selbstprofilierung durch Vatermord an der vorausgegangenen Historikergeneration der "Neuen Orthodoxie", auf dem Weg zur dann "Neuesten Orthodoxie". Wenn die Abrechnung mit Conze & Co. dann ihr einziges oder auch nur dominantes Thema bliebe, wäre der Weg zu noch mehr Links-Autismus auf dem "Holzweg des deutschen Sonderweges" sperrangelweit offen.

Herr Geiss, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Hotel zum Grünen Tor, Hoppegarten bei Berlin
Datum: 19.02.1999, ca. 14.00 bis 15.45 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Steinbach-Reimann


       Interviews