H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus


Historiographie als soziale Praxis

von Ralph Jessen, Berlin - Email: <rajes@zedat.fu-berlin.de>

Nun liegt das Protokoll des Untersuchungsausschusses vor. So pflegen Skandale gewöhnlich auszuklingen. Dieser begann mit einem furiosen Start in fast idealtypischer Konstellation: Die Prominenten des Faches sahen sich auf der offenen Bühne des Frankfurter Historikertages 1998 mit dem Vorwurf konfrontiert, mit zweierlei Maß zu messen. Wer Geschichtsschreibung so selbstbewußt als Aufklärungswissenschaft versteht, wer die deutsche Geschichte so stark auf den Fluchtpunkt "1933" zuschreibt, wer mit Gegnern so wenig zimperlich umspringt - hätte man von dem nicht erwarten können, seine eigenen Lehrer und Mentoren rechtzeitig, hart und kritisch nach ihrem Tun zwischen 1933 und 1945 zu befragen? Denn eines war schnell klar: Die Dynamik des Konflikts entzündete sich weniger an den Verfehlungen der Conze, Schieder und anderer, als daran, wie ihre Schüler, die heutigen Großmeister des Faches, damit umgegangen sind. Auf der anderen Seite, in der klassischen Rolle "David gegen Goliath", die Skandalisierer. Typischerweise Außenseiter, nicht oder noch nicht im Fach etabliert. An Aufklärung interessiert, aber nicht nur daran. Vor der Bühne ein emotionalisiertes Publikum, das mehr nach Bekenntnis und Parteinahme als nach umständlichen Erklärungen verlangte. Und, wie bei jedem Skandal, erhob sich bald die Forderung nach "schneller und schonungsloser Untersuchung der von den Kritikern erhobenen Vorwürfe", um die "Glaubwürdigkeit von Geschichte als Wissenschaft" wiederherzustellen - so jedenfalls der Anspruch, den die Herausgeber des vorliegenden Bandes in ihrer Einleitung formulieren.

Wenn das Protokoll des Untersuchungsausschusses vorliegt, hat sich das Publikum meist schon dem nächsten Skandal zugewandt. Zu kompliziert, zu unübersichtlich, zu differenziert sind meist die Befunde der Befragungen. Der vorliegenden Dokumentation bleibt das Schicksal eines versickernden Publikumsinteresses hoffentlich erspart. Nicht nur wegen ihrer ungewöhnlichen Entstehungsumstände. Angeleitet durch die Herausgeber des Bandes, Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch, haben drei Studierende der Humboldt-Universität fünfzehn Historiker und zwei Historikerinnen der "zweiten Generation", die nach 1945 ihre Ausbildung begann, zu ihrer Herkunft, ihrem beruflichen Werdegang, ihrer professionellen Sozialisation und ihrem Urteil zu einigen Kernpunkten des aktuellen Streits interviewt. Die meisten Befragten standen während des Studiums oder als junge Nachwuchswissenschaftler in mehr oder weniger enger Beziehung zu jenen Historikern der "Gründergeneration", deren NS-Belastung jetzt so heißt debattiert wird. Es versteht sich, und der Titel des Bandes weist ja schon darauf hin, daß über diese Belastungen selbst nichts Neues zu erfahren ist. Dafür aber um so mehr über die akademische Kultur der fünfziger und sechziger Jahre.

Natürlich ist man geneigt, die Interviews als Selbstauskünfte der "zweiten" westdeutschen Historikergeneration zu lesen, die Trägerin jenes historiographischen Bruchs der späten sechziger und siebziger Jahre war, der schon von seinen Hauptakteuren selbst als Paradigmenwechsel gedeutet wurde. Das stimmt freilich nur mit Einschränkungen: Zum einen ist die befragte Gruppe recht heterogen: Zwischen Rudolf Vierhaus (Jg. 1922) und Winfried Schulze (Jg. 1942) liegt eine Generation, zwischen Imanuel Geiss und Hans-Ulrich Wehler, zwischen den Mommsen-Brüdern und Michael Stürmer bestehen tiefgreifende inhaltliche, methodische und politische Differenzen. Auf der anderen Seite könnte man einwenden, die Gruppe sei nicht heterogen genug: Hier kommen die erfolgreichen und einflußreichen Universitätshistoriker zu Wort, während die Mittelmäßigen, die Dropouts und die Aussteiger fehlen. Auch sind zweifellos die "peers" der sozialgeschichtlichen Wende überrepräsentiert, deren Kritiker dagegen nur dünn vertreten. Ein im strengen Sinne "repräsentativer" Querschnitt einer Generation ist das nicht. Das tut dem Unternehmen aber keinen Abbruch, denn um quantifizierende Erbsenzählerei geht es hier ohnehin nicht. Außerdem richtete sich der Vorwurf des kollektiven Beschweigens oder gar verborgener "brauner Wurzeln" gerade gegen die Vertreter der neueren Sozialgeschichte, von denen die prominentesten hier vertreten sind.

Zurecht ist hervorgehoben worden, daß die hohe Aufmerksamkeit für die Beteiligung einzelner Historiker am NS-System - sei es als Mitläufer, Vordenker, Mittäter - etwas mit einem stark gestiegenen Interesse an individuellen Akteuren, an konkreten Taten, an der Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln in der NS-Diktatur zu tun hat. Auch in dem Vorwurf an die Schülergeneration, sie habe es versäumt, zur rechten Zeit die richtigen Fragen zu stellen, steckt der Verdacht des persönlichen Versagens. Wenn man die Interviews noch einmal im Zusammenhang liest, statt häppchenweise im Internet, wird allerdings deutlich, wie sehr dieses individuelle Handeln mit generationentypischen Erfahrungen und institutionellen Handlungsbedingungen zusammenhing. Vor allem der im engeren Sinne autobiographische Teil der Gespräche, in dem die Befragten ohne festes Raster Auskunft über ihr Herkommen und ihren Weg in die Wissenschaft, über ihre Studienmotive und ihre Beziehung zu akademischen Lehrern geben, ist in dieser Hinsicht ungewöhnlich aufschlußreich. Abgesehen davon, daß man hier manches Neue im Detail erfahren kann (etwa darüber, daß die Mehrheit der Befragten Geisteswissenschaftler der "ersten Generation" sind, die nicht aus den klassisch bildungsbürgerlichen Kreisen stammen - offenbar waren die Geisteswissenschaften der 50er und 60er Jahre doch offener, als man bisher dachte), entsteht in der Summe ein plastisches Bild der Integrationszwänge im akademischen Milieu der Ordinarienuniversität. Selbst- und Fremddefinitionen erfolgen dort in hohem Maße über persönliche Bindung.

Noch die Tatsache, daß im gegenwärtigen Streit Historiker, die im Zenith oder am Ende ihrer Laufbahn stehen, mit moralisierendem Tremolo für ihr Handeln oder Nichthandeln gegenüber ihren "Doktorvätern" zur Rede gestellt werden und sie die zugemutete Rolle auch annehmen, unterstreicht dies. Jeder kennt den deutschen akademischen Dialog: "Ich arbeite gerade über das Thema xyz." - "Oh, wie interessant! Und bei wem?" Wohl dem Nachwuchsforscher, der an dieser Schlüsselstelle jedes professionellen Erstkontakts mit lässigem Understatement einen großen Namen fallen lassen kann. Es wäre sicher sehr aufschlußreich, die vorliegenden Interviews einmal daraufhin durchzumustern, wo und wie häufig die Floskel "bei XY" auftaucht - als Hinweis auf akademische Lehrer, Doktor"väter", Habilitationsmentoren. Im deutschen Universitätssystem hingen akademische Karrieren (und hängen wohl immer noch) stärker und länger als anderswo von der erfolgreichen Integration in stark personalisierte Klientelverhältnisse ab. Das kann im Kern eine außerordentlich inspirierende intellektuelle Beziehung sein, zugleich ist es aber auch die Schnittstelle beim Zugang zu materiellen Ressourcen, Stellen, Publikationsmöglichkeiten, Prestige. Das stiftet Abhängigkeit und Loyalitäten, auch unausgesprochene Schweigegebote. Von den Befragten hat dies Hans Mommsen am deutlichsten formuliert: "Vergessen Sie den Faktor personalisierter Macht nicht - diese Leute entschieden über Karrieren, und es gab gar keine Möglichkeit, dagegen zu rebellieren. Gegen deren Willen hatte im Fach überhaupt niemand eine Chance, etwas zu werden." (S. 184) Ja, so war es wohl. Ist dies nun ein Anzeichen für "akademischen Opportunismus", wie Imanuel Geiss süffisant anmerkt?

Statt sich moralisch zu entrüsten, sollte man vielleicht eine Erkenntnis der guten alten Tante Sozialgeschichte berücksichtigen: daß nämlich die Handlungen der Menschen etwas mit den vorgefundenen Bedingungen zu tun haben, unter denen sie handeln - ohne durch sie freilich determiniert zu sein. Wenn Fragen "versäumt" wurden, sagt dies jedenfalls mehr über die spezifischen Strukturen des akademischen Betriebs und die mit ihm zusammenhängenden Dispositionen des homo academicus teutonicus, als es eine intentionalistisch verkürzte Suche nach dem Skandal wahrhaben will.

Mit ihren engen personalisierten Abhängigkeiten, ihren unausgesprochenen Loyalitätserwartungen und ihren Fragetabus zeigt die Beziehung zwischen der Gründer- und der ersten Schülergeneration in der westdeutschen Historikerschaft übrigens eine irritierende und nicht leicht zu erklärende Analogie zur Generationensymbiose im ostdeutschen intellektuellen Milieu der Nachkriegsjahrzehnte. In der DDR war sie freilich entgegengesetzt gepolt. Dort dienten die antifaschistischen Gründerväter - in der Geschichtswissenschaft also Männer wie Engelberg, Meusel oder Kuczynski - einer neuen Generation "politischer Adoptivsöhne" (wie Lutz Niethammer es einmal formuliert hat) als unanfechtbare Autoritäten. Bis zum Ende der DDR hatte sich die Schülergeneration nicht aus dem Schatten ihrer Mentoren lösen können, deren Kollaboration mit dem Stalinismus hinter ihrer antifaschistischen Gloriole verblaßte. Vermutlich würden die meisten Angehörigen der jeweiligen "Schülergenerationen" Ost und West den Vergleich entrüstet zurückweisen und in der Tat sollte man dieses Gedankenspiel nicht überreizen. Zu groß sind letztlich die Unterschiede in politischer, wissenschaftlicher und institutioneller Hinsicht. Aber könnte die Analogie nicht auch eine Anregungen sein, noch einmal über mentale Dispositionen der HJ- und Flakhelfer-Generation, über systemübergreifende Erscheinungsformen der Tabubildung oder Tiefenschichten akademischer Machtverhältnisse nachzudenken, die vielleicht weniger systemspezifisch waren, als man auf den ersten Blick meinen möchte? Übrigens finden sich in mehreren Beiträgen des Bandes Hinweise darauf, wie sehr der Ost-West-Konflikt auch in der Historikerschaft den Umgang mit der NS-Vergangenheit der Fachgenossen überformte. Der großsprecherische Antifaschismus des SED-Regimes und seine kühl kalkulierte Skandal- und Enthüllungspolitik gegenüber belasteter Westprominenz hat die Bereitschaft zur Offenheit sicherlich nicht stimuliert.

Selbstverständlich muß man gegenüber den vorliegenden Interviews dieselben quellenkritischen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen wie gegenüber anderen Oral-History Projekten auch. Daß Lebenserinnerungen für den Historiker ihre Tücken haben und daß diese durch die Interviewsituation eventuell noch komplizierter werden, ist nicht neu und gilt auch hier. Aber wenn man dies in Rechnung stellt, wird man am Ende zu dem Schluß kommen, daß der vorliegende Band außerordentlich instruktive Einblicke in die Historiographie als soziale Praxis gewährt. Natürlich ersetzt er nicht die ausstehenden historiographiegeschichtlichen Studien und die Analysen zur Mikropolitik im akademischen Milieu der fünfziger und sechziger Jahre, auf die man ebenfalls mit Spannung wartet. Aber er liefert zu beidem überaus aufschlußreiches Material. Und wenn der Band außerdem zur Versachlichung der Debatte beitragen würde, hätte er fast mehr erreicht, als man vom Protokoll eines Untersuchungsausschusses erwarten kann.


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