H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus


Nachgeholte Antworten?
Nachtrag zur Diskussion des Bandes 'Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus', hrsg. von Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch

von Univ.-Prof. Dr. Mitchell Ash, Universität Wien - Email: <mitchell.ash@univie.ac.at>

Einst herrschte über die Geschichte der Wissenschaften im Nationalsozialismus eine Standarderzählung vor. Und da diese Erzählweise immer noch durch die deutsche politische Kultur geistert (sie ist auch andernorts von Nutzen, wenn auch manchmal mit anderen Vorzeichen) ist es zweifelhaft, ob man wirklich in der Vergangenheit reden soll. Drei ihrer wesentlichen Bestandteile können wie folgt - bewusst vereinfacht - formuliert werden:

1. Auf der Personenebene war (und bleibt) die Standarderzählung eine Geschichte von Wissenschaftlern, die von anderen (Politikern und Bürokraten) gelenkt wurden, sich vom Faszinosum Hitler oder ideologischen Illusionen (z.B. deutschnationalen Hoffnungen) haben verführen lassen.

2. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Ideen und Praxis war (und bleibt) die Standarderzählung eine Geschichte von Pseudowissenschaft, die "wirkliche" Wissenschaft ersetzen sollte.

3. Auf der Ebene einer allgemeinen Deutung der nationalsozialistischen Zeit und ihrer Stellung in der deutschen Geschichte war (und bleibt) die Standarderzählung die Geschichte eines Rückfalls in die Barbarei, d.h. des Missbrauchs von an sich wertneutralen Errungenschaften der Moderne.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte dieser Diskurs eine entlastende Funktion. So wurde es möglich, diejenigen, die sich eindeutig als Nazis exponiert hatten, aus den jeweiligen Disziplinen auszugrenzen, die überwiegende Mehrheit als 'einfache Mitläufer' wieder kollegial zu begrüssen und zur neuen Tagesordnung überzugehen, ohne die Inhalte der Forschung und Praxis im Nationalsozialismus näher thematisieren zu müssen.[1]

Seit den 80er Jahren hat eine Vielzahl wissenschaftshistorischer Arbeiten in mehreren Ländern die eben umrissene Standardererzählung gründlich in Frage gestellt. Der Bruch mit dem tradierten Muster und die Wende zu einer kritischen, wissenschaftshistorisch fundierten Auseinandersetzung wurde allerdings in verschiedenen Disziplinen zu unterschiedlichen Zeiten vollzogen. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die Mathematik sowie die Natur- und Technikwissenschaften - mit Ausnahme der Chemie - bereits Ende der 70er Jahre thematisiert wurden, während die Sozialwissenschaften, insbesondere die Psychologie und die Soziologie, in den 80er Jahren folgten.[2] In diesen Fällen gingen die meisten deutschsprachigen Arbeiten aus Initiativen hervor, die in der Studentenbewegung der 60er Jahre wurzelten bzw. sich von dieser inspirieren liessen. Im Vergleich hierzu sind die Geisteswissenschaften jedoch - abgesehen von einigen wichtigen Einzelarbeiten, darunter die bereits mehrfach zitierten Werke von Helmut Heiber über Walter Frank und Volker Losemann zur Alten Geschichte - erst in den 90er Jahren mit gleicher Stärke thematisiert.[3] Die Gründe für diese vergleichsweise späte Thematisierung sind noch ungeklärt. Angesichts der inzwischen hinlänglich bekannten Befunde zur Rolle der Naturwissenschaften, der Technik und der Medizin in den beiden zentralen Projekten des NS - dem Eroberungskrieg einerseits und der so genannten 'Reinigung' des Volkskörpers mittels Zwangssteriliserung und dann Euthanasie andererseits - kann dies aber nicht etwa daran liegen, dass gerade die Geisteswissenschaften am meisten zu verantworten hätten!

Noch wesentlicher im Hinblick auf den vorliegenden Band scheint mir jedoch eine weitere Wandlung vor allem der neuesten Wissenschaftshistoriographie zu sein, nämlich die Wende von einer fast ausschliesslichen Suche nach ideologischen Affinitäten oder Verwicklungen mit dem NS-Regime hin zur praktischen Mitarbeit von Wissenschaftlern an konkreten politischen Projekten. Dabei erübrigt es sich nach dem 'linguistic turn' darauf hinzuweisen, dass zwischen Sprache und Handeln keine fest Trennungslinie bestehen kann. Gerade im jetzt aufgerollten Falle der Historiker geht es doch um Texte, die zum Zwecke der politischen Beratung geschrieben wurden und eben deshalb als Taten zu begreifen sind. Zeichen einer solchen Wende von der Gesinnung zur Praxis sind auch in der Historiographie der anderen Geisteswissenschaften, beispielsweise in der exemplarischen Studie von Frank-Rutger Hausmann über die Geisteswissenschaften im 2. Weltkrieg, zu vernehmen.[4] Dies ist meiner Meinung nach die eigentlich brisante Dimension der aktuellen Kontroverse. Es geht hier nicht mehr allein um Ideologie sondern auch um Mittäterschaft. Darum und auch wegen der in der bisherigen Diskusson bereits vielfach genannten Rivalität unter den Generationen eifern ein menschlich warmer Diskurs der ethischen oder politischen Bewertung mit einem scheinbar kühlen, unpersönlichen Diskurs wissenschaftlicher Objektivität um die Wette.

Nachdem bereits vieles zum Thema dieses Bandes gesagt worden ist, möchte ich hier eigene Eindrücke der Lektüre desselben sowie der bereits veröffentlichten Kommentare zu einer Art Fazit bündeln und einige Desiderata der weiteren Arbeit formulieren.

Übereinstimmung scheint darin zu bestehen, dass der Band eher als ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft der alten Bundesrepublik denn zur Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus einzustufen ist. Immerhin gibt der Band sowohl im ausführlichen Anhang wie auch in den Interviewtexten selbst sehr wertvolle Auskünfte über die Biographien einiger der führenden Historiker der Bundesrepublik her. Für einen amerikanischen Kollegen wie mich, der alle Befragten wenigstens flüchtig kennt und mit einigen von ihnen enger zusammen gearbeitet hat bzw. noch immer arbeitet, waren dies die wertvollsten Informationen des Bandes.

Dies bleibt gerade dann der Fall, wenn die Befragten sehr unterschiedlicher Auffassung darüber zu sein scheinen, ob das Jahr 1945 einen traumatischen Bruch in der eigenen Biographie darstellt oder nicht. Solche Auskünfte gehören natürlich eher zur allgemeinen Sozialgeschichte der Bundesrepublik denn zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Auffallend dabei ist, wie viele von ihnen aus kleinen Verhältnissen im Westen bzw. aus Flüchtlingsfamilien aus dem ehemaligen deutschen Osten stammen. In beiden Fällen handelt es sich bei diesen Professorenkarrieren vielfach um einen sozialen Aufstieg, auch wenn die familiäre Herkunft zum Teil eher als bildungsbürgerlich einzustufen ist. Hier befindet sich wertvolles Material für eine Sozialgeschichte der Professorenschaft in der Nachkriegszeit; Ralph Jessen hat in seinem Kommentar bereits darauf hingewiesen. Wünschenswert dabei wären Vergleiche sowohl mit den sozialen Verhältnissen anderer Disziplinen in der Bundesrepublik als auch mit denen der DDR.

Zur Frage nach der Kontinuität der Historikerschaft nach 1945 gehen die Meinungen der Befragten wie auch der DiskutantInnen z.T. scharf auseinander. Einig sind sich jedenfalls die Interviewten darin, dass man nicht alle Historiker über einen Kamm scheren darf, aber viele akzeptieren trotzdem die vorherrschende Auffassung einer weitgehenden personellen Kontinuität, während andere hingegen - am schärfsten Lothar Gall und Hartmut Lehmann - auf Diskontinuitäten wie die Nichtwiedereinsetzung bestimmter Historiker wie Wilhelm Mommsen, die Wiedereinsetzung ehemals Ausgeschlossener wie Ernst Schnabel oder die fehlende Rückholung der Emigranten hinweisen. Interessanterweise wurde kaum danach gefragt, mittels welcher institutionellen oder diskursiven Strategien die Kontinuitäten, die es eben gab, ermöglicht worden sind.[5]

Dafür kommt das Verhältnis von der Struktur des bundesdeutschen Universitätssystems einerseits und persönlichen Verbindungen andererseits sehr oft zur Sprache. In Wirklichkeit muss es hier m.E. keinen Widerspruch geben, denn in einer Universitätslandschaft mit derart wenig Nischen, wie die westdeutsche vor 1970 es war, waren Klientelverhältnisse, wie sie in diesem Band mehrfach geschildert und von Ralph Jessen in seinem Diskussionsbeitrag noch einmal herausgestellt wurden, so gut wie vorprogrammiert. Wie der Kommentar von Ursula Meyerhofer zeigt, sind die heutigen Kritiker allerdings wenig dazu geneigt, diese Kontextualisierung als Entlastungsgrund zu deuten. Sie haben prinzipiell recht damit; schliesslich sind die jeweiligen Akteure als handelnde Subjekte verantwortlich für ihr Tun, und sie sind nicht alle in der gleichen Weise mit den gegebenen Strukturen umgegangen. Allerdings würde die Überzeugungskraft der Kritiker höher sein, wenn sie sich bereit zeigen würden, die damaligen Strukturen als Zeitumstände wenigstens zur Kenntnis zu nehmen.

Wenn viele der Befragten die Liberalität eines Schieder oder Conze im Umgang mit Andersdenkenden als Versuch, aus der Vergangenheit zu lernen deuten und gerade dies als beispielgebend für das eigene Berufsverständnis darstellen, fühle ich mich allerdings doch dazu geneigt, die bange Frage zu stellen, wie es mit einer derartigen Liberalität im Rahmen der gegenwärtigen Universitätsstrukturen bestellt sein mag. Interessanterweise scheuten sich die studentischen Interviewer, die ansonsten recht offen und unbekümmert mit den vorgeschriebenen Fragen wie auch mit den Befragten selbst umgingen, davor, etwaige Kontinuitäten hierarchischer Strukturen auf dieser Ebene zu thematisieren. Denkt man an die Art und Weise, wie man in den Ausschuss des Historikerverbandes heute kooptiert wird, so gewinnt diese Frage eine zusätzliche Brisanz. Allerdings sollte auch bemerkt werden, wie in diesem Band dokumentiert wird, dass die Tatsache, dass die Kontroverse endlich vor einem grossen Publikum in Frankfurt ausgetragen werden konnte, gerade am offenen Verhalten eines Jürgen Kocka lag. Dass gerade Jürgen Kocka in seinem Beitrag eine gewisse Hilflosigkeit angesichts der Bedürfnisse eben dieses Publikums nach Bekenntnissen und Betroffenheit kundtut, ist eine Ironie von der Sorte, die Historiker auch sonst gerne konstatieren.

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch einige wenige Bemerkungen zur Methodik des Bandes einfügen. Der Erkenntniswert der 'offenen' Interviewteile ist offenkundig höher als der des strukturierten Teils. Angesichts dieser kleinen Bezugsgruppe, die ohnehin kaum als 'random sample' bezeichnet werden kann, fragt es sich ohnehin, ob es wirklich notwendig war, sich auf diesem Wege um den formalen Anschein objektiver Sozialwissenschaft zu bemühen. Die Frage stellt sich noch einmal, wenn man feststellt, wie viele der Interviewten sich bemüssigt fühlten, mit den Fragen des zweiten Teiles, insbesondere Nummer 2 (ob "intellektuelle Entgleisungen" der NS-Zeit durch vorbildliches Verhalten in der Nachkriegszeit "kompensiert" werden kann) und Nummer 3 (Stichwort "braune Wurzel" der Sozialgeschichte) hadern, bevor sie sich zur Beantwortung derselben Fragen bereit finden konnten. Sind doch "Entgleisungen" ohnehin erst nachträglich konstatierbar, zudem fragt es sich, von welcher Bahn sollte man da abgekommen sein? Wollte man die Probanden mit solchen Formulierungen reizen, so hat man dieses Ziel durchaus erreicht; doch wenn diese den Sinn einer Frage zunächst einmal für sich neu konstruieren müssen, bevor sie sich darauf einlassen können, dann hat man den Sinn einer standardisierten Fragereihe wohl verfehlt. Trotzdem brachten selbst diese schief gestellten Fragen interessante Auffassungsunterschiede zutage. So plädieren Hans-Ulrich Wehler u.a. für die prinzipielle Möglichkeit eines solchen "kompensatorischen" Ausgleichs, während Reinhard Rürüp u.a. eher dazu geneigt sind, das Verhalten der Akteure in der NS- und der Nachkriegszeit jeweils für sich und nebeneinander stehen zu lassen. Dieser Auffassung bin ich übrigens auch, nicht zuletzt deshalb, weil dadurch die Ironien und Ambivalenzen der Situation stärker zum Vorschein kommen. Allerdings reicht es keinesfalls aus, dort stehen zu bleiben, denn dies würde die wissenschaftshistorisch interessanteste Frage - nämlich, wie die Akteure nicht nur in ihren Karrieren sondern auch inhaltlich von A bis B gelangen, wie also Kontuinitäten oder Diskontinuitäten konstruiert worden sind - noch offen lassen.

Dies führt mich zu einer Bemerkung zur Kontinuität geschichtswissenschaftlicher Forschungsansätze nach 1945. Hier scheint der Band die These zu bestätigen, dass sich diese Frage von der Frage nach der personellen Kontinuität durchaus trennen lässt. Dabei kann ich Wolfgang Jacobeits Ausführungen zur Volkskunde und seine Auffassung, dass die westdeutsche Sozialgeschichte doch weitaus stärker von den Emigranten und z.T. auch von den englischen Marxisten beeinflusst wurden, als durch eine lineare Kontinuität von der NS-Volksgeschichte, aus eigener Anschauung bestätigen. Als ich in den 70er Jahren an der Harvard-University Geschichte studierte, war Hans Rosenberg Pflichtlektüre und Hans-Ulrich Wehler ein willkommener Gast am Center for European Studies. Inwiefern eine solche Verwestlichung als eine bewusste Strategie mit dem Ziel, sich von einer komprimierten Tradition abzusetzen oder gar aus der Vergangenheit zu lernen, gedeutet werden kann oder soll, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Welche Folgen wird dieser Band oder die Kontroverse selbst für die Kontinuität der bisher tradierten, oben skizzierten Standarderzählung über die Rolle von Wissenschaften und Wissenschaftlern im "Dritten Reich" haben? Hier scheint es wieder einmal unterschiedliche Meinungen zu geben. Immer wieder taucht die Formulierung auf, die überwiegende Mehrheit der deutschen Historiker mussten sich nach 1933 nicht 'gleichschalten' lassen, denn sie waren ohnehin deutschnationale Gegner der Weimarer Republik. Insofern scheinen die meisten Interviewten zumindest implizit auf dem Standpunkt zu stehen, dass dieser bereits seit den 80er Jahren bestehenden Konsens schon genug kritische Distanz von jeglicher Apologetik markiert. Demgegenüber stehen die Ausführungen im Diskussionsbeitrag von Karin Schönwälder, die zeigen, dass sie jedenfalls nicht den Eindruck hatte, während sie an ihrer Dissertation arbeitete, dass ein solcher Konsens bereits Ende der 80er Jahre bestanden habe. Dank dieser Kontroverse scheint nun immerhin klarer geworden zu sein, dass der genannte Hinweis auf die deutschnationale Überzeugung mehr über die Haltung der Historiker, die zur Zeit der Machtübernahme bereits im Amt waren, als über die Jüngeren wie Schieder und Conze aussagt.

Während einige der Befragten durchaus der Meinung sind, dass die neueren Erkenntnisse das ältere Bild verändern wird - und einige unter ihnen, z.B. Adelheid von Saldern, auch verbandspolitische Konsequenzen für wünschenswert halten - vertritt die grosse Mehrheit der Interviewten vielmehr die Auffassung, dass die Kontroverse keineswegs den Stoff zu einem neuen Historikerstreit hergibt. Die Immunisierungsstrategien, die dabei verwendet werden, wären einer eigenen Betrachtung wert. Eine davon stellt der immer wiederkehrende Hinweis darauf dar, dass auch andere Fächer erhebliche personelle Kontinuitäten nach 1945 aufzuweisen hatten und u.a. deshalb erst sehr spät zu einer Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Vergangenheit fanden. So richtig dieser Hinweis im Allgemeinen sein mag, so sehr muss mangels eines eingehenden Vergleichs, der noch immer aussteht, der Verdacht bestehen bleiben, dass es sich hier eher um eine kaum durchdachte Ausrede denn um eine echte Differenzierung handelt.

Abschliessend sei mir ein letzter kritischer Hinweis erlaubt. Dieser gilt der Enge der von den Befragten vertretenen impliziten Auffassung darüber, was Wissenschaftsgeschichte ist. Hier wird das eigene Fach lediglich mit den ihm eigenen Mitteln historisiert. Dass die Ergebnisse in dieser Hinsicht notwendigerweise unbefriedigend ausfallen müssen, liegt auf der Hand; man stelle sich nur vor, was dabei heraus käme, wenn sich Psychologen oder Physiker der Geschichte ihrer Fächer lediglich mittels der Begrifflichkeiten und Methodiken der jeweils eigenen Disziplinen zu nähern versuchen würden (was leider oft genug tatsächlich geschehen ist). Inwiefern es eine eigene wissenschaftshistorische Methodik geben kann, die sich von der der allgemeinen Geschichtswissenschaft unterscheiden man, ist hier gar nicht erst gefragt worden. Gerade im Interesse einer produktiven Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Allgemeingeschichte wäre es angebracht, derart unreflektierte Privilegierungen der Denkweise des eigenen Faches bei der Historisierung desselben kritisch zu hinterfragen.

Damit komme ich zu den eingangs angekündigten Desiderata für die weitere Arbeit. Bezeichnend dabei ist, dass Adelheid von Saldern als einzige auf eine Frage hinweist, die wirklich weiterführend wäre, nämlich auf den Zusammenhang zwischen Sprache, Politik und Wissenschaft. Entlang einer solchen Fragestellung wäre eine vergleichende Analyse der Rollen von Wissenschaftlern und Wissenschaften im NS und danach durchaus denkbar. Ein Projekt mit dem Titel "Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945" an der Universität Siegen, das mit Mitteln der VW Stiftung unterstützt wird, stellt einen ersten Schritt in dieser Richtung dar.

Eine ebenso wichtige, potentiell weiterführende Fragestellung wäre die nach der Struktur wissenschaftlichen und professionellen Handelns in der NS-Zeit und danach. So könnte die Substituierung von Berufsethik (in diesem Falle der Forderung nach handwerklich 'guter' Wissenschaft) für allgemeine ethische Prinzipien in modernen Gesellschaften, ganz gleich, ob es sich um Diktaturen oder Demokratien handelt, näher beleuchtet werden. So könnten auch analytische Instrumente gewonnen werden, mittels derer die in diesem Bande vertretenen Standpunkte zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik - der Standpunkt einer auf Objektivität zielenden Distanzierung einerseits und der einer illusionslosen Nähe andererseits - nicht nur als abstrakte Argumente, sondern selbst als historische Produkte betrachtet werden könnten.

Anmerkungen:

[1] Für Beispiele vgl. u.a. Mark Walker, Legenden um die deutsche Atombombe, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 38 (1990), S. 45-74; ders., The Nazification and Denazification of Physics, in: Walter Kertz (Hg.), Hochschule im Nationalsozialismus. Braunschweig, 1994, S. 79-91; Peter Weingart u.a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a.M., 1988, insbes. Kap. VI; Herbert Mehrtens, 'Missbrauch'. Die rhetorische Konstruktion der Technik in Deutschland nach 1945, in: Walter Kertz (Hg.), Technische Hochschulen und Studentenschaft in der Nachkriegszeit. Braunschweig, 1995, S. 33-50.

[2] Vgl. z.B. Alan Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich. Köln, 1980 (1. Aufl. 1977); Herbert Mehrtens / Stefan Richter (Hgg.), Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches. Frankfurt a.M., 1980; Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt a.M., 1984, 2. Aufl. 1988; Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a.M., 1986. Zum Stand der Forschung auf diesen Gebieten siehe Herbert Mehrtens, Kollaborationsverhältnisse. Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie, in: Christoph Meinel / Peter Voswinckel (Hgg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus - Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Stuttgart, 1994, S. 13-32; Jonathan Harwood, German Science and Technology under National Socialism, Perspectives on Science, 5 (1997), S. 128-151.

[3] Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland. Stuttgart, 1966; Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Hamburg, 1977; zum gegenwärtigen Stand vgl. u.v.a. Wilfried Barner / Christoph König (Hgg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Frankfurt a.M., 1997, sowie die dort zitierte Literatur.

[4] Frank-Rutger Hausmann, Deutsche Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg. Die 'Aktion Ritterbusch' (1940-1945), Dresden u. München, 1998.

[5] Vgl. hierzu Mitchell G. Ash, Verordnete Umbrüche - konstruierte Kontinuitäten: Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903-923.


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