Interview mit Hans-Ulrich Wehler
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Hans-Ulrich Wehler, geboren 1931 in Freudenberg bei Siegen, studierte Geschichte und Soziologie an den Universitäten Köln, Bonn und Athens/Ohio (USA). Er promovierte 1960 bei Theodor Schieder über "Sozialdemokratie und Nationalstaat (1840-1914)". Nach seiner Habilitation 1968 blieb er bis 1970 als Privatdozent in Köln, bevor er 1970/71 Professor an der FU/Berlin wurde. Von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1996 war er Professor für Allgemeine Geschichte in Bielefeld. Er lehrte außerdem als Gastprofessor in Harvard, Princeton und Stanford.

Hans-Ulrich Wehler lebt heute in Bielefeld.

Wehler: "Historiker sollten auch politisch zu den Positionen stehen, die sie in der Wissenschaft vertreten."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer/in: Herr Wehler, Sie sind 1931 geboren. Könnten Sie uns das soziale Umfeld schildern, in dem Sie aufgewachsen sind?

Antwort Wehler: Meine Eltern stammten beide aus dem Siegerland. Ursprünglich lebten sie dort in Hugenottenfamilien, die aus Holland gekommen waren. Nassau/Oranien gehörte nämlich damals zu Holland und ist das heutige Siegerland. Das hatte die Konsequenz, daß die Hugenotten Calvinisten waren, die in der Diaspora lebten. Meine Eltern brachen beide aus diesen Verhältnissen aus und gingen in den Wandervogel. Nach ihrer Hochzeit zogen sie ins Oberbergische nach Gummersbach, wo ich aufwuchs und ein normales Jungenleben führte. Gummersbach ist eine Kleinstadt in einem kargen Winkel von Rheinpreußen, 40 km östlich von Köln, wo sich das ganze Leben um den Sport, den VfL Gummersbach drehte. Erinnerungen an diese Zeit, als mein Vater noch da war, habe ich kaum, da er sofort in den Krieg eingezogen wurde und nicht wieder zurückkehrte.

Welchen Beruf übte Ihr Vater aus? Wie hat sich der Krieg in Ihrer Erinnerung niedergeschlagen?

Er hatte Kaufmann im väterlichen Betrieb gelernt und arbeitete später für die Henkel-Betriebe, aber das alles nur für kurze Zeit, weil dann schon der Krieg kam.

Zu dem Umfeld gehört selbstverständlich die Kriegserfahrung, ohne die ich nie Geschichte studiert hätte. Mit zehn Jahren kam ich in das Deutsche Jungvolk der HJ, aber aufgrund ihrer protestantischen Grundüberzeugung waren meine Eltern bzw. die ganze Familie streng gegen die "braunen Heiden". Ich aber hatte das Gefühl, beweisen zu müssen, daß die Jungen in der Familie "zuverlässig" seien, und war mit Hingabe dabei. Das Jungvolk bestand für mich aus zweieinhalb Jahren Sport und Zeltlagern, und es gab dort kaum Indoktrination, da das Ganze fest in der Hand der sportbegeisterten Gymnasiasten der Kleinstadt war. Schließlich hatte ich eine sechswöchige Ausbildung in einem Wehrertüchtigungslager - unter ziemlich hartem Drill - durch Angehörige der SS-Division "Hitlerjugend". Das waren wirkliche Fanatiker.

Zu den schlimmeren Kriegserfahrungen gehört, daß wir Jungen - nach den Brandbombenangriffen auf Köln - zur Feuerwehr geholt wurden, da nicht mehr genug Männer vorhanden waren. Wir mußten erwachsene Menschen aus den brennenden Häusern holen, die nur noch aus einem knapp einen Meter langen Stück "Kohle" bestanden. Das war nicht sehr erheiternd. Am Schluß haben wir noch die Stadt gegen die Amerikaner verteidigt, bevor sie diese danach besetzten. Ich weiß das noch so genau, weil eine meiner Schwestern ein Tagebuch aus diesen Tagen gefunden hat, das ich noch ganz in der Propagandasprache verfaßt habe. Doch schon nach vierzehn Tagen war das jahrelang aufgebaute Feindbild weg.

Die physisch schlimmste Zeit kam erst nach dem Krieg, denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde die "Reichsbevölkerung" auf Kosten Europas relativ gut versorgt. Die Alliierten entdeckten nach dem Krieg gut gefüllte, sogenannte "Hermann-Göring-Magazine". Insofern ging es uns bis dahin aufgrund der besetzten Gebiete, die ausgebeutet wurden, noch gut. Doch dann kam ein schlimmer Einbruch, den ich noch gut in Erinnerung habe, weil wir geradezu am Rande des Hungerschwindels existierten. Wir bekamen nur zwei Scheiben Brot am Tag, und unser Tisch war in vier Quadrate eingeteilt, damit die Brotkrümel beim Schneiden nicht in ein anderes Feld hinüberrollten. In dieser Zeit war Hamstern das Übliche. Dann ging es uns allmählich besser, als im Sommer 1947 von Freunden meiner Eltern, die nach Amerika ausgewandert waren, Care-Pakete eintrafen.

Wie gestaltete sich Ihre schulische Laufbahn in diesen Nachkriegsjahren?

Ich war auf dem Gymnasium in Gummersbach, wo ich völlig desinteressiert an Naturwissenschaften war, aber zum Glück einen alten DDP-Liberalen als Geschichtslehrer hatte. Ihm war es gelungen, irgendwie zu überwintern, und nach dem Krieg wurde er für uns mit Mitte sechzig noch einmal reaktiviert. Wenn man so will, erfuhr ich einen Hauch von linksliberaler, moderner Geschichte in seinem Unterricht.

Das war nicht gerade selbstverständlich, oder?

Nein, das war keineswegs selbstverständlich. Der eigentliche Geschichtslehrer war ein alter Nazi.

Welche Themen waren vorherrschend?

Das ging von der Französischen Revolution bis 1933. Die Zeit danach, so hatte man das Gefühl, konnte er noch nicht emotional bewältigen, da er beide Söhne im U-Boot-Krieg verloren hatte. Ich hatte dadurch, daß die Amerikaner unsere Schule einige Zeit erst als Lazarett und dann als Stammquartier benutzten, etwas Schulzeit verloren, was ich aber durch Privatunterricht wieder aufholte, so daß ich dann ein Jahr übersprang. Denn wir hatten eifrige Studienräte, die untröstlich waren, daß keine Schule stattfand, und die mir Latein, Englisch usw. bis zum Schulbeginn im Sommer 1946 beibrachten.

Wie ging es dann nach dem Abitur weiter?

1952 begann ich zu studieren. Mir war klar, daß ich irgend etwas im Bereich der alten Philosophischen Fakultät belegen wollte. Damals orientierte man sich daran, wo attraktive Lehrer waren. In meiner ersten Vorlesung fiel mir Theodor Schieder in Köln auf. Doch bis zu meiner Doktorarbeit hatte ich eher meine 400- und 800-Meterläufe im Kopf. Ich war damals westdeutscher Meister und dann Studentenmeister. Ein Leben ohne drei bis vier Stunden nachmittags im Stadion konnte ich mir nicht vorstellen, und am Wochenende spielte ich als Mittelläufer beim VfL Gummersbach.

Unmittelbar nach dem Abitur hatte ich Glück, denn ich bekam eines der ersten Fulbright-Stipendien. Die Organisation vergab erstmalig auch Stipendien an Deutsche und Japaner aus früheren Gegnerländern. Ich bin dann zunächst für anderthalb Jahre nach Amerika gegangen. Ich kam an die Ohio University mit ca. 4000 Studenten in Athens im südöstlichen Ohio. Das war im Mittleren Westen, wo ich das Kernland Amerikas ganz anders kennenlernte als z.B. in Harvard oder Berkeley.

Wie lange sind Sie in Ohio geblieben?

Ich bin dort zwei Semester gewesen, hatte überwiegend junge Professoren, die im Kriege als Soldaten waren, sich mir gegenüber aber nie etwas anmerken ließen. Ich stieß dort auf großes Entgegenkommen. Das ganze Jahr über beschäftigte ich mich nur mit amerikanischer Geschichte. Danach ging ich nach Kalifornien, wo ich ein halbes Jahr lang als Schweißer und Lastwagenfahrer arbeitete. So habe ich Amerika von unten kennengelernt, anders als die meisten meiner amerikanischen Kollegen.

Haben Sie daran gedacht, an einer amerikanischen Uni weiterzustudieren?

Nein, eben nicht. Eigentlich hätte ich unmittelbar nach dem Semester wieder zurückgemußt, aber ich hatte mir hintenrum die Sozialversicherungskarte besorgt und fuhr - teilweise auch unter anderem Namen - Autos von Detroit nach L.A., wo es mir sehr gut gefiel. Anfang November 1953 fand mich meine amerikanische Familie, bei der ich anfangs im Rahmen eines Programms, das sich "Experiment in International Living" nannte, untergebracht war. Dort sollte den "jungen Nazis" auf den Zahn gefühlt werden. Ich war bei einer Anwaltsfamilie untergekommen, die dort wohnte, wo der "Lederstrumpf" spielte, in Glens Falls am Lake George. Sie behandelten mich wie einen Sohn aus der Fremde, und ich habe sie auch wie meine Pflegeeltern in Amerika betrachtet.

Eines Tages erreichte mich dann in L.A. ein Telegramm des State Department, auf dem stand: "You have to be at International Airport on November, 15th, or we shall deport you." Da wußte ich, daß es ernst war, packte meine Tasche und fuhr per Anhalter in drei Tagen und drei Nächten von L.A. bis New York, wo ich pünktlich am Flughafen ankam. Das halte ich immer noch für heroisch - fast ohne Schlaf.

 Wo setzten Sie Ihr Studium nach Ihrer Rückkehr fort?

Ende 1953 kam ich zurück und ging aus politischen Gründen nach Bonn. Ich wollte Adenauer in Aktion erleben. Ein Onkel von mir, ein MdB, nahm mich gelegentlich als seinen Assistenten mit in die Ausschüsse, und Adenauer war schon beeindruckend, wenn er seinen Willen in sechs- bis siebenstündigen Sitzungen durchsetzte. Die Historiker in Bonn aber waren zum Gotterbarmen vor allem im Vergleich mit ihren amerikanischen Kollegen, die schon Sozial- und Kulturgeschichte betrieben, waren sie stockkonservativ. Der Neuzeitler Braubach lehrte Diplomatiegeschichte in der Art: "der König dachte... der Botschafter sagte..." - schrecklich. Der einzige, der etwas Vernünftiges machte, war ein Frühneuzeitler, Franz Steinbach, der jetzt auch im Rahmen der sog. "Westforschung" diskutiert wird. Was mich da hielt, war die Gummersbacher Clique, Habermas u.a. Dennoch versöhnte mich das nicht mit dem absolut öden Betrieb in Bonn.

Wann erfolgte dann der Übergang von Bonn nach Köln?

1954 ging ich zu Schieder, den ich mir davor schon angesehen hatte, nach Köln.

Was faszinierte Sie an Schieder?

Die Art, wie er lehrte. Er hatte einen ganz klaren Aufbau in seinen Vorlesungen, die sehr breit angelegt waren. Es gab kein ödes Vorlesen, wie ich es von der Bonner Politikgeschichte her kannte. In den Seminaren war er sehr souverän und behandelte unübliche Themen wie etwa den jungen Marx und die Entstehung des Kommunismus oder Clausewitz und die Entwicklung zum totalen Krieg, oder das Scheitern des europäischen Liberalismus. Da mußte man im Vergleich arbeiten.

Dann ging ich, obwohl ich anfangs kein Wort herausbrachte, ins Doktorandenkolloquium, wo - ohne Ansehen der Person - sehr scharf diskutiert wurde. Es gab Situationen, in denen wir Schieder sagten, daß sein Argument nicht soweit trage und man das Problem so und so angehen müßte. Er hörte sich das zunächst genau an und wies uns dann beispielsweise auf bestimmte Formulierungen in Webers "Wirtschaft und Gesellschaft" hin, die wir uns noch einmal genauer ansehen sollten. Da er während des Krieges krank geschrieben war und offenbar wie ein "Irrer" gelesen hatte, war er ein sehr belesener Mann.

Um kurz noch einmal auf die Bonner Enttäuschung einzugehen: Ich habe die Konsequenz daraus gezogen und mich in Köln für ein Doppelstudium der Geschichte sowie der Soziologie und Ökonomie eingeschrieben. Mein Examen habe ich bei dem Soziologen René König über den jungen Marx gemacht.

Können Sie Ihr persönliches Verhältnis zu Schieder genauer beschreiben?

1956 fragte er mich, ob ich Hilfskraft bei ihm werden wolle. Das bedeutete mit 100,- DM im Monat ein Vermögen. Zu der Zeit war ich noch Hiwi in der Abteilung für Amerikanische Geschichte bei Dietrich Gerhard, einem emigrierten Meinecke-Schüler. Schieder hatte wohl einiges gefallen, was er in Seminaren von mir gehört oder gelesen hatte, und ich war zufrieden, da ich damals noch nicht in die Amerikanische Geschichte zurück wollte. Im Laufe des Jahres 1958 überlegte ich mir verschiedene Themen für die Doktorarbeit. Drei von Schieder vorgeschlagene Themen lehnte ich ab, so z.B. über den Einfluß von Clausewitz auf Engels, Lenin und auf den deutschen Generalstab über Moltke, Schlieffen bis zum "Dritten Reich".

Zu der Zeit schrieb Hans Mommsen bei seinem Lehrer Hans Rothfels über Nationalitätenprobleme und die Entstehung der Sozialdemokratie in Österreich. Schieder meinte, daß man das auch über die Minderheiten in Deutschland tun könne, die drei Millionen Polen, eine Million Elsaß-Lothringer, die Dänen usf.

Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß das eigentlich lohnende Problem die Polen waren. Durch meine Korrespondenz mit polnischen Archiven erfuhr ich, daß die Russen den Nachlaß von Rosa Luxemburg soeben zurückgegeben hatten. Mit dem Interesse, etwas über die Polnische Sozialistische Partei (PPS) in Deutschland herauszufinden, die es eigens für polnische Arbeiter gegeben hatte, stieß ich auf Nachlässe, die in Amsterdam liegen, wohin die SPD ihr Archiv nach 1933 verkauft hatte.

Daraufhin erzählte ich Schieder vom Stand der Dinge, worauf er mir empfahl, Polnisch zu lernen, was ich in einem Crash-Kurs dann auch tat. Ein Archivar riet mir, an die "Oberschlesische Straße" Nr. 18 in Warschau zu schreiben. Dort befand sich das ZK mit einem Riesenarchiv für Parteigeschichte im Keller, das von Professor Danisziewski geleitet wurde. Er hatte mir auch ein Visum besorgt, was damals schwer war, da es zu dieser Zeit noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen gab und das Ganze über die Militärmission in Berlin lief. Er sagte mir erfreut, daß ich der erste "Westmensch" gewesen sei, der sich für Rosa Luxemburg und polnische Parteiengeschichte interessiert hätte.

Ich war ein Vierteljahr in Warschau und habe das Archiv des Zentralkomitees "durchgeackert". Das war sehr interessant, unter anderem weil Gomulkas junge Beratertruppe, die eine Art gelinden Reformkommunismus à la Pologne vertrat, oft in den Archivraum zum Teetrinken und Schäkern mit den Archivarinnen kam.

Wie ging es mit Ihrer Promotion weiter?

Ich schrieb meine Arbeit dann innerhalb von zwei Jahren. Damals war es üblich, wenn man vier, fünf gute Seminare absolviert hatte, die Doktorarbeit ohne vorheriges Examen zu schreiben. Im übrigen war Schieder der Meinung, da er mit 26 promoviert hätte, uns nicht mehr als drei Jahre geben zu können. Das habe ich selber noch bei keinem meiner Doktoranden geschafft. Wolfgang Mommsen hat in dieser Zeit, also auch in gut zwei Jahren, sein Max-Weber-Buch geschrieben - eine exzellente Dissertation.

Nachdem ich im Juli 1960 promoviert hatte, war ich seit dem Januar 1961 Assistent am Historischen Seminar in Köln. In der Zwischenzeit beauftragte Schieder mich - im Rahmen der "Dokumentation zur Vertreibung" - mit der Fertigstellung des Jugoslawienbandes. Es gab dazu keine attraktive Alternative, und vergütet wurde das als Angestelltenstelle. Daher arbeitete ich im Archiv des Auswärtigen Amtes, so daß ich die Einleitung zum Dezember 1960 vorlegen konnte.

Danach begann ich im Januar 1961 mit der Habilitationsarbeit, die ich über den amerikanischen Imperialismus vor 1900 anfertigen wollte. Ich begann mich einzulesen, und die Amerikaner boten dann ein sehr gut bezahltes und unbefristetes Stipendium an. Das ganze wurde vom "American Council of Learning Societies" (ACLS) organisiert.

Seit dem Sommer 1962 habe ich mich von meiner Assistentenstelle in Köln beurlauben lassen und ging mit meiner Frau bis Ende 1963 nach Amerika.

Danach schrieben Sie Ihre Habilitationsarbeit. Wie wurden sie von der Kölner Professorenschaft aufgenommen, als Sie dann wieder nach Deutschland zurückkehrten?

Ich hatte die Arbeit über den "Aufstieg des amerikanischen Imperialismus 1865-1900" im Sommer 1964 fertiggestellt, doch von einer Historikerrunde wurde sie mit der Begründung abgelehnt, daß man so nicht mit einem Verbündeten umspringen könne. Als ich die Arbeit später als Buch veröffentlichte, meinten amerikanische Kritiker, daß es eine durchaus verständnisvolle Arbeit über diese Phase der amerikanischen Expansionsgeschichte sei. Nur Schieder war dafür, was ich nachher erfuhr. Angermann von der Abteilung für amerikanische Geschichte, sagte mir, wer mit seiner Habil. nicht durchkomme, gehöre nicht an die Uni, und kündigte darum meine Stelle, obwohl ich anderthalb Jahre lang in Amerika etwa 300 Nachlässe, die gesamten Akten des State Department und Marineministeriums durchgearbeitet hatte und der Meinung war, ich könne meine Arbeit neu aus den Akten schreiben. Schieder rief mich dann an und teilte mir mit, daß er meine Stelle um zwei Jahre habe verlängern können und ich in dieser Zeit etwas zustande bringen müsse. Ich wandte mich dann dem Thema "Bismarck und der Imperialismus" zu und habe zum einzigen Mal in meinem Leben eine Aufenthaltserlaubnis in der DDR bekommen; die brauchte ich, um die Akten in Potsdam und Merseburg einsehen zu können, ohne die ich meine Habil. nicht hätte schreiben können. Damals entdeckte ich auch den angeblich verschwundenen Nachlaß Bismarcks auf einem Dachboden des Stalls von Schloß Friedrichsruh. Ich schrieb die Arbeit von September 1966 bis Mai 1967. Daraufhin gab es wieder Krach in der Kommission und eine erneute Kampfabstimmung, bei der die Mehrheit dagegen war.

Was war genau die Kritik an Ihrer Bearbeitung des Bismarckthemas?

Ich hatte Bismarck nicht als souveränen, sondern als von der Wirtschaftskrise der 1870er und 80er Jahre bedrängten Politiker geschildert, der um die Erschließung neuer Märkte einerseits und die Konsolidierung der deutschen Innenpolitik andererseits bemüht war. Die Kommission fand es abwegig, daß jemand das so darstellen wollte, und leistete Widerstand.

Schieder betonte in der Kommission, daß schon eine Arbeit von mir abgelehnt worden sei, und verwies auf meine Publikationen, die Kehrschen Aufsätze und die "gelbe Reihe", die Neue Historische Bibliothek usw. Daraufhin sollte ich noch eine Chance bekommen. Schließlich akzeptierte die Kommission das Thema "Clausewitz und die Entwicklung vom absoluten zum totalen Krieg".

Ich redete eine halbe Stunde, und in der folgenden Diskussion fiel mir auf, daß sie querbeet ging, über die Ursachen des Siebenjährigen Krieges, über Wallenstein bis ins 20. Jahrhundert. Nach ca. anderthalb Stunden meldete sich der Byzantinist und sagte, daß Ludendorff den totalen Krieg forcieren mußte, weil die bürgerliche Gesellschaft versagt habe. Im übrigen sei der totale Krieg erst durch "den Juden Einstein und die Atombombe" ermöglicht worden. Kurz: Die Diskussion eskalierte, Schieders Gesicht rötete sich langsam, und endlich riß er die Arme hoch und rief: "Herr Dekan (Grothoff, ein berühmter Pädagoge), die Diskussion genügt uns doch!". Sie können sich gar nicht vorstellen, wie die große Fakultät dasaß - 84 Leute, die alle die Klappe hielten. Schließlich gab es eine Kampfabstimmung, die ganz knapp ausging.

Draußen standen meine Frau, Wolfgang Mommsen, Lothar Gall und Hans Rosenberg, der auf Besuch war, und wunderten sich, weshalb das Verfahren so lange dauerte. Endlich kam Schieder mit hochrotem Kopf heraus und bat mich zum Dekan, der mir gratulierte. Am nächsten Morgen teilte mir Grothoff dann mit, daß die Habil. so nicht publiziert werden dürfe. Ich erklärte ihm, ich sei höchstens gewillt, sie noch einmal durchzugehen, sie solle aber im September bei Kiepenheuer&Witsch veröffentlicht werden. Ich versprach, ihm ein Exemplar zukommen zu lassen. Und das war's dann.

Im nachhinein habe ich einige Sätze, die während der Diskussion in der Fakultät gefallen waren, erfahren. Schieder, der sich in diesem Verfahren absolut loyal verhalten hat, fühlte sich wahrscheinlich in der Rolle des Patriarchen, dessen Zögling zweimal abgewiesen wurde.

Ich war noch zwei Jahre als Privatdozent in Köln. Danach wurde ich dreizehnmal bei Bewerbungen abgeschossen, bevor ich nach Berlin kam.

Noch einmal zum Kölner Historischen Seminar: Welche Professoren lehrten dort, abgesehen von Schieder?

Da war noch ein älterer Historiker namens Peter Rassow, bei dem ich Seminare besuchte und auch etwas geschrieben habe. Er war ein ehemaliger - vernünftiger - Bethmann-Hollweg-Anhänger und Schwiegersohn von Hans Delbrück, den man als linkskonservativ bezeichnen könnte. Dann gab es noch zwei Mediävisten und Dietrich Gerhard, der amerikanische Geschichte lehrte, aber später nach Göttingen zum MPI in die Neuzeit-Abteilung ging. Zu Angermann, der danach als Jüngerer kam, gewann ich allerdings keinen Kontakt.

Welche Rolle spielte - was Orientierungsfiguren der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 angeht - Hans Rothfels für Sie?

Wenn ich Schieder nach seinen Lehrern fragte, nannte er vor allem Rothfels. Er erzählte mir, daß er zunächst bei Karl Alexander von Müller in München studiert habe - eine dubiose Figur, die Hitler auf einer seiner ersten Kundgebungen "entdeckt" und ihm eine große Redebegabung attestiert hatte. Müller war auch einer der ersten Intellektuellen, die Schulungskurse für die NSDAP anboten, wie man seit neueren Arbeiten über Hitler weiß. Seit 1935, nach der Suspendierung Meineckes, war er Herausgeber der HZ und beschäftigte sich vorwiegend mit bayerischer Landesgeschichte, Bürger- und Heimatgeschichte. Schieder hatte eine sehr solide, aus ungedruckten Quellen gearbeitete Dissertation über die bayerische liberale Bewegung in den zehn Jahren vor 1871 geschrieben. Sie lief darauf hinaus, daß das Bismarckreich und der Nationalstaat zu begrüßen seien. Sie könnte man noch heute so drucken. Man merkt da nichts von den rechtsradikalen Neigungen Müllers. Der Mann, der Schieder wirklich beeinflußt hat, war Rothfels, bei dem er sich in Königsberg habilitieren wollte.

Ich habe eine Menge von Rothfels gelesen, weil er zu den älteren Nationalismusforschern gehörte. Dementsprechend war er mir ein Begriff. In dem halben Jahr, in dem ich die Einleitung zu dem Jugoslawienband verfaßte, habe ich ihn persönlich kennengelernt, da er der wissenschaftlichen Kommission angehörte. Er war dort eine sehr erquickliche Person, die Conze oder Ministerialbeamte kühl zurechtwies, wenn diese eine Abschwächung in der Formulierung wünschten. Zum Beispiel hatte ich geschrieben: "Im April 1941 brach die deutsche Kriegsmaschine über Jugoslawien herein, Stukas bombardierten Belgrad." Ich hatte das deswegen so dramatisiert, weil ich den Schock, den Hitlers einmarschierende Armee bei der späteren Partisanenbewegung provozierte, begreiflich machen wollte. Da sagte Conze, es reiche doch zu erklären, am soundsovielten begann der Krieg gegen Jugoslawien und am soundsovielten war Waffenstillstand. Ich entgegnete ihm, daß man schon vermitteln müsse, inwiefern die Deutschen "hereinbrachen" und Jugoslawien in einem plötzlichen "Blitzkrieg" niedermachten. Schieder guckte mich daraufhin ironisch an, Conze war nämlich mit Leidenschaft Soldat gewesen. Ich bestand darauf, daß das mein Text sei, was zur Folge hatte, daß die Stimmung sich abkühlte. Rothfels nahm eine seiner Riesenzigarren aus dem Mund und sagte: "Ach, lieber Werner Conze, wir wollen doch mal sagen, daß der Ulrich Wehler recht hat, und es bleibt dabei." Da knickte Conze sofort ein, und es war auffällig, wie das Schüler-Lehrer-Verhältnis wirkte und Conze und Schieder gewissermaßen noch einmal in die Rolle von Erstsemestern schlüpften. Rothfels war ein großgewachsener Mann, ein Bein durch eine schlecht gebaute Prothese ersetzt, und hatte, was mir als Augenfetischist auffiel, riesige blaue Augen, die einen eindringlich anfunkelten.

Später sah ich ihn bei Vorträgen in Tübingen, sonst hatte ich kein emotionales Verhältnis wie z.B. Hans Mommsen, der gut sechs Jahre bei ihm in Tübingen war.

Empfanden Sie Schieder als Lehrer oder als Vorbild? Was erinnern Sie an Anregungen bzw. Konflikten?

Ich hatte zu Schieder ein emotional gemischtes Verhältnis: Auf der einen Seite gefiel mir, wie er mit wenigen Worten Probleme konzeptualisierte. Er bereitete sich sehr sorgfältig auf die Seminare vor, denn er war im Grunde ein eher unsicherer Mann. Dennoch wirkte er so, als ob die Dinge ihm gerade spontan einfielen. Als ich Assistent war, trug er mir manchmal auf, noch diese Bücher oder jene Artikel zu besorgen, um eine These, die er im Seminar vertreten wollte, zu stützen.

Auf der anderen Seite war es ein kühles Verhältnis, weil ich politisch ganz andere Meinungen vertrat. Ich erinnere mich noch, als ich einen Aufruf von Golo Mann für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze unterzeichnete. Damit ging ich zu Schieder und sagte ihm, es gehe nicht an, daß nur die Assistenten unterzeichneten. Der zweite totale Krieg sei verloren, da sei nichts mehr zu verhandeln, oder wie die Amerikaner sagen: "Cut your losses." Das war eine Gelegenheit, bei der er sagte, er sähe das - vom Kopf her - völlig ein, aber er könne es gefühlsmäßig noch nicht öffentlich einräumen. Er, der bis Dezember 1944 in Königsberg mit seiner Frau, die aus Westpreußen kam, gelebt habe und wo seine vier Kinder geboren seien, könne das nicht unterschreiben und damit eingestehen, daß das Land endgültig verloren sei. Nun kann man das als Ausweichen interpretieren, mir war das Eingeständnis in der damaligen Situation eher sympathisch.

Oder es gab den ewigen Streit, inwieweit man Wahlaufrufe für die SPD unterschrieb, obwohl wir alle keine Mitglieder waren. Wir empörten uns über die Vorherrschaft der CDU und waren leidenschaftlich für den SPIEGEL während der "Affäre".

Schieder war seiner Herkunft nach ein Linkskonservativer, also ein Tory mit viel Verständnis für den Liberalismus, der aber nach dem Krieg nicht von der CDU wegzubewegen war - wie Conze, der sogar Mitglied im Evangelischen Arbeitskreis der CDU war. Da gab es immer Spannungen, die sich auch in das Kolloquium fortpflanzten. Auch wenn ihm etwas gegen den Strich ging, hatte Schieder trotzdem die Fähigkeit, es auf der Ebene kühler Argumente zu halten, und ich habe dadurch gelernt zu streiten, ohne den Emotionen allzu schnell nachzugeben. Wenn Sie an Ihre eigene Studienzeit denken, dann werden Sie finden, daß es nicht entscheidend ist, einer bestimmten Schule gefolgt zu sein, sondern daß es sich gelohnt hat, mit einer überzeugenden Persönlichkeit gestritten zu haben und dadurch selbständiger geworden zu sein. Schieder wollte uns eigene Wege gehen lassen, was ihm bei uns allen gelungen ist.

Welche Rolle spielte die wissenschaftliche Behandlung des Nationalsozialismus in Seminaren, Vorlesungen, Kolloquien usw.?

Als ich mich 1967/68 habilitierte, zog ich die Konsequenz aus diesem Manko und bot als erster in Köln eine Vorlesung über die Zeit nach 1914 an. Jemand, der das hatte machen wollen, war Erdmann als junger Privatdozent gewesen, doch dann bekam er den Ruf nach Kiel und ging dorthin. Schieder selber kam immer nur bis zum Ende des Kaiserreichs, d.h. der Friedenszeit bis 1914. Ich habe mein Lehrprogramm damals einer Fachschaftsversammlung gegenüber begründet und einen Zyklus von der Französischen Revolution bis "gestern" angeboten. Parallel dazu gab es Seminare in den Blöcken 1789-1848, 1848-1918 und 1918-1945. Das war ein Riesenbetrieb, in dem ich in anderthalb Jahren an die 900 Leute in den Vorlesungen und volle Besetzung in den Seminaren hatte. Das hing auch mit der 68er-Stimmung zusammen.

Das täuschte aber nicht über die unbeantworteten Fragen hinweg, die Sie während Ihres Studiums und darüber hinaus an das Thema Nationalsozialismus hatten.

Das war zunächst eine große Enttäuschung. Es gab keinen, der Zeitgeschichte lehrte. Der Versuch, Bracher damals nach Köln zu bekommen, scheiterte, obwohl das ein toller Wurf gewesen wäre. Dazu muß man wissen, daß Köln bis 1954 noch Stadtuniversität war, und demzufolge konnten die CDU und das Erzbischöfliche Amt erfolgreich gegen diesen kritischen Protestanten opponieren. Schieder hatte die Kommission geleitet, die Bracher mit Biegen und Brechen zu kriegen versuchte. Bracher ging dann nach Bonn und blieb dort.

Können Sie Ihre methodische Orientierung beschreiben, die sich ja deutlich von der Ihres Lehrers unterschied, denkt man an Ihre Veröffentlichungen zu Rosenberg und Kehr in den 60er Jahren?

Damals galt Parteien- und Verbändegeschichte als Sozialgeschichte. Das mag heute antiquiert erscheinen, aber damals war es etwas Neues. Ich habe einmal bei Schieder überprüft, daß von all seinen Dissertationen sechs über Parteigeschichte sind. Er regte das an, ohne jedoch Druck zu machen. Ich bemerkte, daß er ein großer Weber-Kenner war, wie auch René König und manche anderen Emigranten. 1955/56 tauchte mein erstes Interesse an Weber auf. Ich war noch ein braver Student, und wenn man mir in der Vorlesung sagte, dazu müsse man die Religionssoziologie von Weber kennen, war ich gleich danach in der UB, um mir die drei Bände zu holen. Dann versuchte ich, die grauenhaft menschenfeindliche Prosa von Weber zu verstehen. Schließlich konnte ich einige Teile der Soziologie (die Herrschafts-, Agrar-, Religionssoziologie usw.) entschlüsseln. Mit diesen Kategorien kommt man in der neueren Geschichte und darüber hinaus relativ weit.

Ungefähr fünf Jahre später kam die Welle mit dem "jungen Marx", die von Frankreich und England her die Bundesrepublik erreichte. Schieder griff das Thema sofort auf und ließ mich zwei Seminare zum jungen Marx bis 1848 und zur Entstehung des Kommunistischen Manifests vorbereiten.

Keiner von uns ist damals auf die Idee gekommen, Marx als politischen Denker für unsere Gegenwart ernst zu nehmen. Keiner hätte geglaubt, daß die spätere 68er-Bewegung auf Marx setzen würde. Als sie das tat, war es von Vorteil, daß man diese Sprache verstand. Wenn ich meine Vorlesung von 11-13 Uhr hatte, diskutierte ich nachher manchmal bis 19 Uhr mit den Studenten - bis ich heiser war. Im entscheidenden Moment hatte ich immer noch ein Marx-Zitat parat. Solange Wolfgang Mommsen, Helmut Berding und ich in Köln waren, war das Klima relativ entspannt, da wir in die Fachschaftssitzungen gingen und noch ein Seminar über Marx, den Nationalsozialismus oder den Historismus anboten, wenn es gewünscht wurde. Da mußte aber hart gearbeitet werden, was die Studenten auch taten. Deshalb gab es keine explosive Stimmung wie in Frankfurt oder Berlin.

Um eine Brücke zu der aktuellen Debatte zu schlagen: Inwiefern haben Sie sich damals mit der Vorgeschichte Schieders auseinandergesetzt?

In dieser Assistentenzeit, als Schieder Präsident des Historikerverbandes wurde, habe ich versucht, alles zu lesen, was er bis 1945 veröffentlicht hatte. Denn wir dachten, jetzt kämen die großen Angriffe aus der DDR, die aber ausblieben. Ich kannte die Diss., die Habil., die meisten Aufsätze und habe den anderen Assistenten daraufhin Entwarnung gegeben. Ich fand dort nicht viel, abgesehen von einigen zeittypischen Formulierungen wie etwa, daß der "Faschismus eine Entwicklungsdiktatur" gewesen sei, was heute aber auch noch manche Leute sagen. Am Schluß steht dann freilich solch ein Schmus vom "völkischen Regime, dem die Zukunft gehört". Man wußte schon, daß Schieder, Conze, Brunner kurz vor dem Krieg in die Partei gegangen sind. Ich bekam später ein Berufungsgutachten für eine Stelle in Münster zu Gesicht, als Schieder als Privatdozent in Königsberg gegen Walter Peter Fuchs, den späteren Doktorvater von Kohl, im Rennen war. Darin schrieb der Gutachter, daß der treue und verläßliche Parteimann nur Fuchs sei. Schieder hingegen sei unzuverlässig und noch nicht lange in der Partei, was auch nicht durch die Tätigkeit seiner Frau, die für das Winterhilfswerk Mäntel sammle, wettgemacht werde.

Mir war schon klar, daß man nicht ohne weiteres eine Professur im Dritten Reich bekommen konnte. Jedoch war in den Schriften Schieders, die ich durchgesehen hatte, nicht von "Blut und Boden" und Rasse die Rede. Es kam auch keine Kritik aus der DDR, und wir folgerten, daß, wenn es etwas gäbe, sie es auch ausgegraben hätte.

Die Denkschrift vom Herbst 1939 ist von Karl-Heinz Roth in einem Bestand, in dem sie eigentlich nicht sein sollte, gefunden worden. Einer unserer Doktoranden in Bielefeld, Willi Oberkrome, der alles im Bundesarchiv kannte, hatte sie in Koblenz nicht gefunden. Anderes von der "Reichsuniversität Posen" über Conze haben die Polen aufbewahrt. Auch im Preußischen Geheimen Staatsarchiv sind Schriftstücke aufgetaucht. Ein Aufsatz von Schieder aus dem Jahr 1943, den ich leider erst nach langem Suchen 1998 in der Staatsbibliothek gefunden habe, handelt über westpreußische, livländische und siebenbürgische deutsche Stände und ist geprägt von rassistischer Ideologie.

Im übrigen konnte sich keiner von uns vorstellen, wie jemand wie Schieder, der ein schüchterner Mensch war, sich für Politikberatung anbieten konnte. Durch den persönlichen Eindruck, den wir von diesem Mann gewannen, wurde die Situation auch entschärft. Es ist für mich jetzt sehr schmerzhaft zu erleben, wie eisern Schieder über seine Texte zur Polenvertreibung und "Entjudung" der Städte geschwiegen hat. Schieder ließ dazu nichts in Seminaren verlauten, aber er verurteilte knapp und dezidert das deutsche Vorgehen nach 1939.

Er gehörte einer politischen Generation an, die jungkonservativ und durch die bündische Jugend geprägt war und unter dem Versailler Vertrag litt. Das merkt man in den Denkschriften. Die Polen bekamen 1919 Posen und Westpreußen, rund 750 000 Deutsche sind geflüchtet oder vertrieben worden. 1939 waren Schieder und Conze der Meinung, daß das Dritte Reich "deutsches Land" zurückgewonnen habe und demzufolge die "Polen raus" sollten. Es gab natürlich Vorläufer in der Germanisierungspolitik seit Bismarck und den Alldeutschen, die den gewaltsamen Transfer mit Staatsmitteln propagierten. Dieser circulus vitiosus ist der Hintergrund dafür, daß Schieder in der Denkschrift schrieb, die nach 1918 zugewanderten Polen müßten umgesiedelt werden. Er sprach hier von 700 000 Menschen, verlor aber keinen Gedanken daran, wie die abgeschobenen Polen in den Sümpfen von Wolhynien oder den Bergen von Galizien überleben sollten. Dem lag nicht die Vorstellung von einer Liquidierung zugrunde, sondern das Gebiet sollte "polenfrei" gemacht werden, so wie dann später "judenfrei". Das Problem mit dieser Sprache ist, daß sie mörderisch antipolnisch und antisemitisch ist, und sich nur um eine Nuance unterscheidet von der Abschiebung zum Ghetto, zum Lager und zur Liquidation. Die Ausdrücke wurden auch zunehmend unmenschlicher: Verlustquoten, Menschenopfer wurden einkalkuliert, Menschenmaterial ging verloren usw.

Der Begriff 'Entjudung', den Schieder und Conze gebrauchen, war in der ostdeutschen Universitätsatmosphäre geläufig. Er führt nicht unmittelbar zu "Auschwitz", sondern resultiert vielmehr aus der Überlegung, daß die Juden die Mehrheit in den Städten stellten und nach ihrer Umsiedlung die Polen dort einen bürgerlichen Mittelstand bilden könnten. Unter den Bedingungen von 1939 bis 1945 führte aber auch diese Sprache zur Senkung der zivilisatorischen Hemmschwelle und ebnete den Weg in den Abgrund der deutschen Vernichtungspolitik.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Soweit ich über Neuzeithistoriker und einige Mediävisten Bescheid weiß, handelt es sich überwiegend um Mitläufer, die vom Phänotypus her geradezu klassische Mitläufer sind, die in jedem Regime zurechtkommen. Sie laufen im Kaiserreich mit, widerwillig in Weimar, und - da sie so viele Grundeinstellungen teilen: Revision von Versailles, deutsche Hegemonialpolitik auch bei den Nazis, ohne hundertprozentig überzeugte Nazis zu sein. Und nach einer kurzen Atempause sind sie auch wieder in der Bundesrepublik dabei. Ich würde aber nie so weit gehen wie Aly und sie als "Vordenker der Vernichtung" bezeichnen, denn das gehörte nicht zu ihrem Plausibilitätshorizont.

Wenn man auf die Entscheidungsprozesse hinaus will, waren sie keine "Vordenker". Mein Vorwurf ist vielmehr, daß sie durch die Art, wie sie dachten und sprachen - vor allem gegenüber ihren Studenten und Lesern -, die zivilisatorischen Hemmschwellen senkten. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, daß viele Studenten der frühen 40er Jahre kurz darauf Offiziere an der Front wurden. Also kann man kaum abschätzen, was diese Schreibtischtäter im Kopf eines jungen Infanterie-Offiziers anrichteten, der gesagt bekam: "Nun reinigen Sie mal diese Kleinstadt!"

Es ist trotzdem sehr schwer, eine direkte Kausalbeziehung herzustellen. Die Männer, um die es hier geht, konnten selber einer Fliege nicht so schnell etwas zuleide tun, aber sie haben über Polen und Juden zynisch geurteilt.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Ich gebe mich nicht damit zufrieden, die Sache so wie Aly und Schöttler zu betrachten und die Untersuchung 1945 abzubrechen. Das ist unbefriedigend. In meinen Augen hat man zwei Optionen, das Leben dieser Historiker - Werner Conze, Theodor Schieder, Percy Ernst Schramm, Hermann Heimpel, Otto Brunner u.a. - zu beurteilen. Die eine ist, unterschiedliche Lebensabschnitte kühl nebeneinander zu stellen. Von diesem Standpunkt aus könnte man sagen, daß die meisten zunächst in enger Nähe zu den "Braunen" standen oder daß sie - wie der Bauernkriegshistoriker Günter Franz - leidenschaftlich SS- und Parteimann waren. Nach 1945 sind sie dann anders angepaßt. Ich meine, sie hätten dazugelernt - die Möglichkeit eines neuen Lebens vorausgesetzt.

Das Interessantere für mich sind die Verbindungslinien und Brüche, an denen sich der kategoriale Apparat, mit dem diese Historiker die historische Vergangenheit bearbeiteten, ablesen läßt. Und deshalb entscheide ich mich für die zweite Option, ihr gesamtes Wissenschaftlerleben in Ruhe abzuwägen. Natürlich würde ich nie plump sagen, daß man das Verhalten und die Sprache vor 1945 "wiedergutmachen" kann. Aber es gibt viele Beispiele von polnischen und ungarischen Historikern, die auf die falsche Karte gesetzt haben, oder von südafrikanischen, die ehemals für die Apartheid waren und jetzt mit großer Anstrengung versuchen, als Liberale anders zu sein.

Der Dreh- und Angelpunkt meines Arguments ist, daß Conze und Schieder reflexiv gelernt haben, wobei dieses Urteil für viele strittig bleibt. Mein Urteil beruht z.T. auf persönlichen Eindrücken und auf der Analyse ihrer Sprache. Dieses Lernen erfolgte keineswegs schnell - genauso wie wir Sozialhistoriker auch erst die Sprache von Weber und Marx erlernen mußten. Aber im Gegensatz zu Aly würde ich behaupten, daß ihre Texte und ihr Schaffen nach 1945 nicht mehr im Schatten der Sprache und der Entscheidungen standen, die sie als Mitdreißiger trafen. Man muß sich heute, finde ich, mit solch einem Urteil exponieren und an die heiklen Probleme der gesamten Lebensspanne herangehen.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Das ist noch immer schwierig zu beurteilen. Oberkrome, der in Bielefeld darüber promoviert hat, war der Meinung, daß die Volksgeschichte innovative Züge besaß. Ich habe das "Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums", das irgendwie doch ein imponierendes Werk ist, einmal durchgearbeitet. Inhaltlich sträubten sich mir oft die Haare, aber wenn man zum Beispiel das Kapitel über Deutsche in Ungarn oder in anderen Ländern liest, findet man rund 40 Sachgesichtspunkte, u.a. Siedlungsgeschichte, Linguistik, Sprachgeschichte, Kirchenverfassung, Sozialstruktur, Wirtschaft der Bauern, Wirtschaft der städtischen Deutschen usw. Im Prinzip ist das der Anspruch auf Erfassung von Totalgeschichte.

Aber letztlich wird vieles entwertet, weil das völkische Pathos dahintersteht: Deutsche verteidigen Blut und Boden im Ausland gegen den Magyarisierungs-oder Polonisierungsdruck. Wenn man den Vorspann wegläßt und nur die Verfassung und die Kirchenverfassung (wo man nicht viel Unheil anrichten kann) nimmt, zeigt sich doch ein erstaunliches Interesse an Komplexität.

Um die Frage richtig beantworten zu können, müßte man vergleichen. Erstens sollte man vergleichen, ob die Bevölkerungsgeschichte der 20er und 30er Jahre, die in den konventionellen Fakultäten zum Teil sehr gut betrieben wurde, nicht sogar besser war als die Bevölkerungsgeschichte der neuen Volkshistoriker, die Faktoren wie "völkische Kraft" und "Kulturboden" betonten. Man müßte vergleichen, was die meist bei den Nationalökonomen angesiedelten Wirtschaftshistoriker in den 20er und frühen 30er Jahren und was die Volksgeschichtler bewerkstelligen. Solange dieser nüchterne Vergleich fehlt, kann man nicht sagen, die Volksgeschichte sei innovativer als all die anderen Forschungsrichtungen. Man kann aber auch nicht - wie Ingo Haar in seiner Dissertation über "Historiker im Nationalsozialismus" - von vornherein die "Volksgeschichte" als inhumane Wissenschaft verdammen, weil die Historiker mit einem inhumanen Regime kooperierten.

Zweitens kann ich die "braunen Wurzeln" der westdeutschen Sozialgeschichte seit den 1960er Jahren nicht finden, da Schieder z.B keinen Studenten in die Sozialgeschichte gelenkt hat. Brunner ist der intellektuell Einflußreichste von allen, er ist ein radikaler Nazi und im Kern immer ein "Völkischer" gewesen. Er hat sich nach 1945 nie korrigiert, aber auch keine "Schüler" gehabt. Conze hat Druck ausgeübt, Sozialgeschichte zu betreiben. Seit der Zeit mit Ipsen behielt Conze sein altes Interesse an der Bevölkerungstruktur.

Von den leitenden Fragestellungen der Volksgeschichte ist jedoch bei diesen Männer kaum mehr etwas da. In der zweiten Auflage von "Land und Herrschaft" schreibt Brunner - sprachkosmetisch - statt "Volksgeschichte" jetzt "Strukturgeschichte". Auch Conze spricht seit den frühen 50er Jahren von "Sozialgeschichte". Man kann das natürlich als schlichte Umtaufung betrachten. Schieder schreibt keinen einzigen Satz Sozialgeschichte, Conze sehr wohl, aber das ist dann nicht mehr "Volksgeschichte".

Und bei uns Sozialhistorikern, die wir alle unter dem Eindruck des jungen Marx, Webers und dann der Emigranten - z.B. Kehrs und Rosenbergs - standen, ist die Verbindung der "Volksgeschichte" mit der Sozialgeschichte geradezu abstrus. Ich denke, daß Schieder und die Zunft völlig recht hatten, als sie meinten, die jüngeren Sozialhistoriker seien Linke, die sie auch von links her kritisierten, in der Zunft linke Positionen einnähmen und in der Politik der Bundesrepublik auch.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Die Kontinuität war in der Tat viel zu stark. Die Zunft ist im Grunde institutionell unfähig gewesen, sich zu reinigen, wie alle Korporationen, die auf Kooptation beruhen. Der alte Rudolf von Gneist hat einmal gesagt: "Zur Kooptation gehört immer die Korruption." Das kann man bei vielen wissenschaftlichen Verbänden feststellen. Ob das die Ärzte sind, die die KZ-Ärzte nicht loswurden, oder die Psychologen, die die Wehrmachts-Psychologen nicht loswurden, auch die Historiker verstanden nicht, sich zu "reinigen". Eher taten das die Entnazifizierungskammern, die z.B. Erwin Hölzle, der jahrelang die Archive im besetzten Ausland geplündert und bis 1944 geradezu klassische NS-Texte geschrieben hatte, zurückstellten. Auch den SS-Mann Franz mit seinen Veröffentlichungen zum Dreißigjährigen Krieg und zum Bauernkrieg bremsten sie, aber nur bis 1958, dann bekam er in Hohenheim erneut eine Hochschulprofessur. Ganz wenige - wie Percy Ernst Schramm, der für OKW-Tagebuch geführt hatte und bestimmt kein Linker im Hauptquartier war - wurden befristet suspendiert und erhielten dann wieder ihre Ordinariatsstelle. Heimpel hielt noch Ende 1943 eine große Rede in Straßburg: Der Führer erneuert das Heilige Römische Reich, und es beruht - wie damals - auf der "Schwertmission gegen die Slawen". Zu dem Zeitpunkt gab es wahrscheinlich zehn Millionen tote Russen. Im Endeffekt geschah nichts. Alle gelangten wieder in ihre Positionen zurück.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Es gab unter den Älteren - ohne formelles Schweigegelöbnis - Netzwerke, etwa das Königsberger Netzwerk, wo Schieder, Conze, Rothfels, Gunter Ipsen, Erich Maschke, der Staatsrechtler Krüger, der Sozialhistoriker Carl Jantke angesiedelt waren. Sie hingen zusammen wie die Kletten, weil sie das Gefühl hatten, im Vergleich mit den Gefallenen (um diesen schrecklichen Jargon zu gebrauchen) und Verkrüppelten Glück gehabt zu haben. Daraus entstand das Bedürfnis, einander zu helfen. Ich entsinne mich noch sehr deutlich, wie Leute bei Schieder in der Sprechstunde aufliefen, die ihn aus seiner Königsberger Zeit kannten und nach dem Kriege in irgendeinem Dorf als Flüchtling lebten, keine Stelle hatten und ihn um Hilfe baten.

Ipsen war ein solcher Nazi gewesen, daß er nie wieder eine Stelle bekam. Aber seine Schüler, wie Conze und Markert, der Osteuropa-Historiker in Tübingen, besorgten ihm Jahr für Jahr ein neues Projekt. So schrieb er für das Osteuropa-Handbuch, nach Ländern gestaffelt, immer den Artikel "Bevölkerungsgeschichte" und schlug sich damit durch. Er mußte ja allerhand Münder stopfen, da er es für richtig gehalten hatte, dem "Führer" zehn Kinder zu "schenken". Die Königsberger hielten also zusammen, obwohl sie unterein-ander kritisierten, daß Ipsen ein so vorbehaltloser Nazi gewesen war.

Ich glaube, daß man das aus der Erfahrung des Krieges und der Flucht verstehen kann: Conze z.B. ist aus russischer Gefangenschaft geflohen und dann zurück zur eigenen Front gelaufen. Seine Frau ging zu Fuß aus Ostdeutschland bis ins Münsterland, wo sie herkam, und unterwegs verlor sie ihr Baby. Das waren enorme Belastungen, und daher herrschte das Gefühl vor, daß man eine neue Stelle als erneute Chance beruhigt annehmen dürfe. Conze hatte lange eine Honorarprofessur mit einem kleinen Angestelltengehalt, erst 1958 bekam er, was wir ein C4-Einkommen nennen. Seine ehemaligen Kollegen unterstützten ihn. Ich finde das vergleichbar mit Kriegervereinen, deren Mief man kritisieren kann, aber wenn man drei Jahre an der Front überlebt hat und andere einem halfen, ist es verständlich, daß die Leute - dazu muß man kein Freud-Kenner sein - sich über das Überleben in solch existentiellen Krisen immer wieder vergewissern wollen. Das ist jedenfalls der Hauch von Verständnis, den ich für die Kriegervereine und solche Netzwerke habe.

Wenn ich ein bißchen älter gewesen wäre, wäre ich vermutlich freiwillig zur Waffen-SS oder zu den Fallschirmjägern gegangen, da Gymnasiasten ohnehin dorthin eingezogen wurden. Was dann mit mir passiert wäre, weiß ich nicht. Angenommen - wir gehen mit der Zeitmaschine ein bißchen zurück - ich wäre noch älter gewesen und hätte überlebt, dann wäre nach einer gewissen Zeit auch mein Gedanke gewesen: Wo ist Kocka, wo ist Rürup, wo sind die Mommsens geblieben? Hat einer von ihnen überlebt? Kann man mit ihnen irgend etwas wieder anfangen? Der Rückgriff auf eine politische Generation - und diese Männer sind ja oft sehr lange, manchmal seit dem Gymnasium, auf jeden Fall seit den bündischen Verbänden, befreundet - wird in dieser Weise emotional, nicht jedoch intellektuell erklärbar.

Das ist es, was sie schweigsam machte. Dazu kam die Kritik der Linken vor und nach 1968 und die Angst, was die DDR ausgrübe. Heute weiß man, wie berechtigt die Angst war. Jetzt erst wird mir bewußt, wie sehr Schieder und Conze gefürchtet haben müssen, daß ihre handschriftlichen Texte irgendwann einmal von jemandem entdeckt würden.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Das ist ein großes Problem. Die Generation von Schieder und Conze hat aufgrund ihrer politischen Überzeugung geglaubt, sie müsse sich politisch engagieren. Es war aber wohl ein bildungsbürgerlicher Dünkel, zu glauben, dabei nichts mit diesen "braunen Plebejern" zu tun haben zu wollen. Die Volkstumspolitik der Nazis, z.B. Westpreußen und Posen wieder "einzudeutschen", war auch die ihre - bis die Liquidation begann. Bis dahin waren die Vorstellungen deckungsgleich, und deshalb beteiligten sie sich auch an der Politikberatung.

Ich bin aus erkenntnistheoretischen Gründen der Meinung, daß Historiker nur als Kinder ihrer Zeit Geschichte schreiben können. Sie müssen auch politisch Farbe bekennen, ob sie ex- oder implizit für die Demokratie in einer Republik schreiben, rückwärtsgewandte Monarchisten in den 20er Jahren sind oder einer autoritären Kanzlerdemokratie à la Adenauer nachtrauern. Historiker sollen sich öffentlich äußern, wobei sie sich nicht in der Arena der Wissenschaft, sondern in einer anderen Arena, mit anderen Regeln, bewegen. Ich habe so oft als Junge von Amerikanern gehört: Wenn Eure Väter und Großväter früher gesprochen hätten, wäre die "braune Pest" nicht über euch gekommen. Daher habe ich mir oft gesagt: Lieber einmal zu viel die Klappe auftun, als einmal zu wenig. Das ist eine Generationserfahrung, die man bei vielen anderen auch findet. Wir haben diese Streitkultur aber vielleicht nicht weitergeben können. Die Jüngeren, etwa die heutige Doktorandengeneration, wird politisch zunehmend zurückhaltender. Sie engagiert sich nicht sofort in der nächsten ZEIT oder FAZ.

Historiker sollten auch politisch zu den Positionen stehen, die sie in der Wissenschaft vertreten. Natürlich besteht die Gefahr, daß man sich irrt. Ich habe mich etwa im Herbst 1989 gegen eine beschleunigte Wiedervereinigung ausgesprochen, da ich davon ausging, daß eine Großmacht wie die Sowjetunion den Verlust ihres Vorfeldes nicht hinnehmen könne. Damals hatte ich das Vorurteil des Historikers, daß man Großmächte nicht bis aufs Blut reizen solle, da sie sonst unkalkulierbar würden. Ich habe nicht geahnt, daß die Zerfallsphase schon eingetreten war und Gorbatschow die DDR aufgeben würde. Schon vier Wochen nach dieser leidenschaftlichen Diskussion in Bielefeld wurde ich durch den rasanten Gang der Geschichte dementiert. In dem Fall war das nicht so gravierend, denn ich war sehr für die Befreiung von der SED-Diktatur. So kann man sich aber mit vielen politischen Äußerungen und Prognosen vertun. Das finde ich letztlich nicht so schlimm wie die Leute, die zunächst den Mund halten und hinterher sagen, daß man das als Historiker doch hätte erkennen müssen.

Wenn man sich in der Geschichtswissenschaft auf die Seite der "Modernen" schlägt, ist man besonders gefährdet, weil die vermeintlich Modernen oft vom realhistorischen Verlauf dementiert werden. Ich denke mir, daß die "Volkshistoriker" auch von diesem siegesgewissen Gefühl lebten, die Avantgarde zu sein. Das Gefühl gab es bei Schieder und Conze, die keine klassischen "Volkshistoriker" wie Brunner waren. Brunner betrachtete seine Interpretation als die der konventionellen Mediävistik überlegene und sah sich auch politisch auf der Höhe der Zeit. Das war sein Glaube vermutlich bis 1944/1945. Es gibt mithin jeweils eine strukturelle Gefahr, wenn man sich auf der progressiven Seite exponiert.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Generell ist das ein merkwürdiges Phänomen. Wir haben noch in den 60er und 70er Jahren den Holocaust, die großen Vernichtungslager, die Judenvernichtung kaum intensiv behandelt. Nun gibt es aber seit der Mitte der 70er Jahre - in der Bundesrepublik hängt das mit dieser Soapopera "Holocaust" zusammen - eine immense Aufwertung des Holocaust als weltgeschichtlichem Strukturbruch, wovon man nie einen jungen Russen, Venezolaner, Afrikaner, Indonesier oder Japaner überzeugen kann, weil die ganz andere Schock-erfahrungen haben. Für viele Europäer, vor allem für die deutschsprachigen, und die Israelis bedeutet der Holocaust aber die Abkürzung für das barbarische Menschenmögliche, was Menschen einander antun können.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen, das ich mir noch nicht befriedigend rational erklären kann. Je größer die Distanz zum Krieg wird, desto mehr nimmt das Thema Holocaust an Intensität zu. Naiv könnte man annehmen, daß der größte Schock nach dem Krieg erfolgt sein müßte. Ich erinnere mich, wie die amerikanische Militärpolizei mich in ein Kino führte, in dem ein Film über die Räumung von Dachau und Buchenwald gezeigt wurde. Man sah diese verhungerten Leichen. Da setzte die persönliche Schockwirkung ein - aber nicht unter den Historikern. Man kann die Historiker an einer Hand abzählen: Martin Broszat, Hans Mommsen und Hans Buchheim im "Institut für Zeitgeschichte", die in den 60er Jahren mit ihrer Forschung zu den Vernichtungslagern begannen.

Mit einer großen Gefühlsklimaveränderung - einer anders fundierten Einstellung zu einem so schrecklichen Großereignis - läßt sich die neue Intensität dieser Debatte z.T. begründen. Ein weiterer Grund ist der, daß die bisherigen Untersuchungen nur punktuell und unbefriedigend waren. Es gibt zwar gute Studien über die Fachdisziplin Alte Geschichte im "Dritten Reich", und hier und da ist die Sonde an die Osteuropaforschung gelegt worden, aber es existiert noch keine systematische Untersuchung aller Wissenschaftsbereiche in den Humanwissenschaften. Da kommt wahrscheinlich überall Schlimmes heraus. Ich glaube, daß die Konzentration am Anfang immer auf einzelnen Personen liegt, daß das aber langfristig kein lohnender Weg ist. Ich würde immer für die Untersuchung politischer Generationen argumentieren.

Nun habe ich Schieder gut gekannt, Conze weniger gut, bei ihnen kann ich das jedenfalls noch mit meiner Erinnerung abgleichen. Wesentlich interessanter ist, warum Tausende aus ihrer Generation in die SS, ins Reichsministerium des Inneren, in die Verwaltung der besetzten Gebiete als rechtsradikale und als völkische Intellektuelle eintraten. Sie brauchten oft gar keinen Führerbefehl - wie Ulrich Herbert in seinem Best-Buch gezeigt hat -, da sie von sich aus radikal, völkisch und antisemitisch waren. Was einen wirklich betroffen macht, ist aus dieser Perspektive nicht, daß einzelne so weit gingen - das diskutieren wir ständig unter den Vorzeichen von Schuld und Sühne -, sondern daß eine ganze Generation von Intellektuellen bereitwillig für den Diktator arbeitete.

Da wird die Grenze überschritten, da gibt es den "Verrat der Intellektuellen". Zu erklären, warum mehrere politische Generationen in Deutschland das gekonnt haben und vor allem diese Generation, die in den 20er Jahren heranwuchs und Anfang der 30er Jahre in den Startlöchern stand, und was aus ihr nach 1945 wurde, ist in meinen Augen die eigentliche intellektuelle Herausforderung in der gegenwärtigen, oft noch zu eng angelegten Debatte.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streits in der Historikerzunft?

In der Zunft - das glaube ich nicht. Es gibt eine kleine Distanz zwischen den sogenannten Jüngeren - in der Zunft sind die Jüngeren auch noch die 35- bis 40jährigen, während man anderswo schon Chefarzt ist - und uns, die wir Leute wie Rothfels, Schieder, Conze, Brunner noch gekannt haben. Ob sich das zu einem Dauerkonflikt ausweitet, weiß ich nicht. Was mich manchmal stört, ist das schnelle Moralisieren, anstatt genauer zu erklären. Man muß im zeitgeschichtlichen Kontext sehen, ob Mediävisten, Altertums- und Neuzeithistoriker damals nicht doch Brauchbares geschrieben haben oder ob alles infiziert ist, was wir bisher oft nur ungenau wissen. Deshalb denke ich, daß wir erst am Beginn der Debatte, aber noch längst nicht vor ihrem Abschluß stehen.

Herr Wehler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Berlin, Wissenschaftskolleg
Datum: 04.02.1999, ca. 16.00 bis 17.45 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Schäfer


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