A. Schüle u.a. (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtl. Perspektiv

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Titel
Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur


Herausgeber
Schüle, Annegret; Ahbe, Thomas; Gries, Rainer
Erschienen
Anzahl Seiten
612 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichtswissenschaft hat sich lange schwer getan, mit dem Generationenbegriff zu arbeiten. Sie war bestrebt, Subjektivität aus dem Schreiben der Geschichte herauszuhalten und hat das "Problem der Generationen" (Karl Mannheim) der Soziologie und der Pädagogik bzw. den Literatur- und Kunstwissenschaften überlassen. Aber in den letzten Jahren zeichnet sich eine Renaissance des umstrittenen Forschungskonzepts ab.1 Dieser Befund trifft ebenso auf die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR zu. Die lange Zeit dominierenden totalitarismus- bzw. modernisierungstheoretischen Konzepte ließen einem generationsgeschichtlichen Ansatz keinen Raum. Erst eine sich ausbreitende kulturgeschichtliche Dimension in der Beschäftigung mit der Geschichte der DDR, gewissermaßen im Nachvollzug des Paradigmenwechsels von der Sozial- zur Kulturgeschichte, begann nun auch nach den Generationen in der DDR zu fragen.

In dieser Hinsicht liefert der umfangreiche hier anzuzeigende Band eine erste Bilanz, bietet er in der Tat eine Inventur der unterschiedlichen generationengeschichtlichen Ansätze und Forschungen zur Geschichte der DDR. Er ist aus einer wissenschaftlichen Tagung zur "Geschichte der Generationen in der DDR" entstanden, die Anfang 2002 in Leipzig stattfand.2 Die Mehrzahl der Beiträger/innen sind dem Fachmann bekannt. Sie sind in der Regel schon mit selbstständigen Arbeiten zu dieser Thematik hervorgetreten. Darüber hinaus findet sich im Vorwort des Bandes eine kluge Zusammenfassung der einzelnen Beiträge, auf die verwiesen sei und die nicht wiederholt werden soll. Die interdisziplinäre Breite des Bandes offenbart schon der Inhalt:

1. Generationen: Geschichte und Potential eines begrifflichen Konzeptes: Ulrich Herrmann: Was ist eine "Generation"? Methodologische und begriffsgeschichtliche Explorationen zu einem Idealtypus; Lutz Niethammer: Generation und Geist. Eine Station auf Karl Mannheims Weg zur Wissenssoziologie; Ulrike Boldt und Rüdiger Stutz: Nutzen und Grenzen des historischen Generationenkonzepts für die Erforschung von Umbruchserfahrungen im späten Jugendalter.

2. Generationen: Strukturlinien in der DDR Geschichte: Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit; Mary Fulbrook: Generationen und Kohorten in der DDR. Protagonisten/innen und Widersacher/innen des DDR-Systems aus der Perspektive biografischer Daten; Georg Wagner-Kyora: Der ausgebliebene Identitätswandel. Akademiker-Generationen im Leunawerk; Annegret Schüle: "Für die waren wir junge Hüpfer". Die "Mütter"- und "Töchter"-Generationen in einem DDR-Frauenbetrieb; Melanie Fabel-Lamla: Generationszugehörigkeit und Herkunftmilieus von Lehrern. Biografien von DDR-Lehrern der 1950er Geburtsjahrgänge; Marc-Dietrich Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Politische Normierung und Jugendprotest in der DDR 1961-1974; Jens Gieseke: Die dritte Generation der Tschekisten. Der Nachwuchs des Ministeriums für Staatssicherheit in den "langen" 1970er-Jahren; Michael Meyen: Alltägliche Mediennutzung in der DDR. Rezeption und Wertschätzung der Ost- und West-Medien in unterschiedlichen Kohorten; Rainer Gries: Waren und Produkte als Generationenmarker. Generationen der DDR im Spiegel ihrer Produkthorizonte.

3. Generationen: Narrationen und Identifikation: Thomas Ahbe: Politik und dramatisierende Selbstdeutung. Selbst-Narration und sozialistische Meta-Erzählung am Beispiel eines Angehörigen der "integrierten Generation"; Ute Kätzel: Frauenrolle und Frauenbewusstsein in der 1968er-Bewegung. Bundesrepublik und DDR im Vergleich; Ingrid Miethe: Die 1989er als 1968er des Ostens. Fallrekonstruktive Untersuchungen in einer Frauenfriedensgruppe der DDR; Karin Bock: Politische Sozialisationsprozesse in Drei-Generationen-Familien aus Ostdeutschland. Ergebnisse einer qualitativen Studie; Sabine Moller: Vielfache Vergangenheit. Zum intergenerationellen Umgang mit der NS-Vergangenheit in ostdeutschen Familien; Nina Leonhard: Die NS-Vergangenheit als Medium der Auseinandersetzung mit der DDR? Die dritte Generation in Ostdeutschland und die Erinnerung an die NS-Zeit.

4. Generationen: Auf der Suche nach der "Generation Ost": Hagen Findeis: "Aufruhr in den Augen". Versuch über die politische Generationsfühligkeit hinter der Mauer; Susanne Leinemann: Die kurze Revolution der Ost-Jugend. Wie die junge Generation erst den Umbruch durchsetzte - und dann wieder abtauchte; Tanja Bürger: Gibt es eine vom ostdeutschen Umbruch geformte Generation? Zu Prägungen und Perspektiven ostdeutscher Mauerfall-Kinder.

5. Generationen: Befunde: Thomas Ahbe und Rainer Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodologische Überlegungen am Beispiel der DDR.

Auch dieser Überblick zeigt, dass auf der Suche nach einem historischen Generationenkonzept unterschiedliche methodische und theoretische Wege möglich sind. Generativität (Reinhart Koselleck) oder Generationalität (Jürgen Reulecke) als anthropologische Grundbegriffe 3, pädagogische, genealogische, soziologisch-historische und politische Generationenbegriffe, mikro- oder makrohistorische Perspektiven, quantitative Kohorten- oder qualitative Generationenansätze, Biografieforschung oder die Analyse von Lebensverläufen, familiensoziologische Untersuchungen (Drei-Generationen-Ansatz) oder milieutheoretische Analysen von soziokulturellen Generationseinheiten. Noch tun wir uns schwer, Generation als eine historische Kategorie zu bestimmen. Aber die "Sprache der Generationen" drang und dringt unweigerlich in die Geschichtswissenschaft ein: Generationen als Zeitbahnen der Lebensalter, Generation als synchroner Begriff genealogischer und historisch-soziologischer Definitionen wie als diachroner Unterbrechungs- und Relationsbegriff (Differenz, Ambivalenz und Konflikt der Generationen), und besonders Generation als symbolische Form von Geschichtserfahrung, als kollektive Konstruktion von Gemeinschaft und als Reich und Ort der Erinnerung.

Von all dem hat dieser Band etwas zu bieten. Denn in Generationserfahrungen und -verhältnissen kreuzen sich zwei zentrale Dimensionen menschlicher Zeit: die Lebenszeit und die historische Zeit. Zwei Dimensionen, die gerade in den öffentlichen Debatten um die Geschichte der DDR noch immer getrennt erscheinen. Diesen Widerspruch aufzulösen, ist auch eine neue Generation von kulturgeschichtlich orientierten Historiker/innen und historisch orientierten Kulturwissenschaftler/innen angetreten, was dieser Band eindrücklich demonstriert. Freilich hätte ich mir in einzelnen Beiträgen mehr Bezugnahmen auf historische Erfahrungen und Forschungen zu den Generationen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs gewünscht, die in der DDR weiter lebten und wirkten. Mitunter verstellt die eigene Sicht auf die gewählte Thematik deren historische Dimensionen. Ebenso wären in mancher Hinsicht mehr Vergleiche zur Generationengeschichte der Bundesrepublik angebracht gewesen, von den Beiträgen zu den 1968er-Jahren einmal abgesehen. Aber das sind ja auch generelle Defizite der DDR-Forschung. Auch lassen sich in einer so relativ neuen Forschungslandschaft wie der Generationengeschichte natürlich Lücken und -defizite leicht ausmachen. Sie werden vor allem in den einleitenden und zusammenfassenden Beiträgen zum Teil thematisiert. Aber erstaunt war ich schon darüber, dass gerade jene Wissensbereiche, in denen der Generationenansatz immer traditionell ein Rolle spielte, nämlich die Literatur- und Kunstgeschichte überhaupt, wie auch die der DDR im Besonderen, in diesem Band nicht vertreten sind. Damit wurden wichtige erfahrungsgeschichtliche Quellen ausgeschlossen, auf die Historiker/innen eigentlich nicht verzichten können. Trotz dieser wohl konzeptionellen Entscheidung der Organisatoren der Konferenz wie der Herausgeber/in ist dieser Band einerseits informativer Forschungsbericht und bilanzierende Inventur, gibt er anderseits zahlreiche wichtige Anregungen für den Ausbau der generationen- und kulturgeschichtlichen Perspektive auf die Geschichte der SBZ/DDR.

Anmerkungen:
1 Vgl. Rezensionen in H-Soz-U-Kult: 10.02.05: Schönhoven, Klaus; Baum, Bernd (Hgg.), Generationen in der Arbeiterbewegung <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-107>, München 2005; 24.3.04: Reulecke, Jürgen (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-180>; 25.06.03: Ohse, Marc D., Jugend nach dem Mauerbau, Berlin 2002 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-178>; 11.04.03: Wierling, Dorothee, Geboren im Jahr Eins, Berlin 2002 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-024>; 17.04.02: Mittenzwei, Werner, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000, Leipzig 2001 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-050>.
2 Vgl. Tagungsbericht von Marc-Dietrich Ohse in H-Soz-U-Kult, 29.08.2002 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=73>.
3 Vgl. Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000; Reulecke, Jürgen (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte, wie Anm. 1.

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