Cover
Titel
Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR und seine historischen Erfahrungen


Autor(en)
Wierling, Dorothee
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ich gebe gern zu, dass mich dieses Buch in zweifacher Hinsicht beeindruckt und in seinen Bann gezogen hat. Zum einen kann hier einmal der in den Debatten um die Geschichte der DDR so vielfach beklagte Gegensatz zwischen historisch-wissenschaftlicher Analyse und zeitgenössisch-biografischer Erfahrung ein Stück weit aufgelöst und das heuristische Potential und die kulturgeschichtlichen Stärken der Oral History genutzt und dokumentiert werden. Zum anderen habe ich beim Lesen immer auch die eigenen biografischen Erfahrungen gesucht. Geboren im "Jahr Null", nach symbolischer Zeitrechnung vier Jahre vor dem "Jahr Eins", hat mich dabei ein Kindheitserlebnis am meisten erschüttert. Was ich bis heute für einen antiquierten Unteroffizierszopf bzw. die "Arbeitsteilung" zwischen einer liebenden Mutter und einem strafenden Vater gehalten hatte, war allgemein: die "Züchtigung" der Nachkriegskinder mit dem "bewährten" Ochsenstriemer. Ich bin also befangen...

Dorothee Wierlings Ziel ist es, mit der Methode der Oral History eine "multiperspektivische Geschichte" zu erarbeiten. Sie erzählt deshalb nicht "eine einzige Geschichte, die sich aus der Kombination unterschiedlicher Quellentypen ergäbe, sondern mehrere, die nebeneinander existieren und manchmal in Konflikt miteinander stehen. Es kann nicht darum gehen, diese Geschichten miteinander in Übereinstimmung zu bringen oder zu versöhnen. Sie sollen vielmehr eine Ahnung von der Komplexität der historischen Verhältnisse vermitteln" (S. 23). Sie beschreibt deshalb Geschichte der DDR nicht aus der Perspektive ihres Scheiterns, sondern der Ausgangspunkt ihrer Arbeit, mit der sie sich im Jahr 2000 an der Universität Erfurt habilitierte, ist es, "systematisch nach den objektiven Handlungsmöglichkeiten und nach der subjektiven Wahrnehmung bzw. Ausgestaltung dieser Räume zu fragen." Und es geht ihr auch nicht darum, "eine neue Geschichte der DDR als Totalität zu schreiben, sondern die Geschichte einer Gruppe" - eben des Jahrgangs 1949. Sie will "einerseits die Rahmenbedingungen des Aufwachsens für die ersten Nachkriegsgeborenen so genau wie möglich" und andererseits diese selbst als "Subjekte der Geschichte", ihre biografischen Entwürfe und Spielräume darstellen (S. 9). Die Arbeit ist in mancher Hinsicht "eine durchaus konventionelle Sozialgeschichte von Kindheit, Jugend und Adoleszenz im Rahmen einer Gesellschaftsgeschichte der DDR". Sie geht aber darüber hinaus, indem sie die "Subjektivität einer Altersgruppe" einbezieht und "drei Kategorien eine grundlegende Rolle" spielen lässt: "Generation, Biographie und Erinnerung". (S. 10) Neben den traditionellen archivalischen Quellen des Historikers hat Dorothee Wierling hierfür zwischen 1993 und 1995 lebensgeschichtliche Interviews mit 21 Personen durchgeführt. Die von ihr getroffene Auswahl bietet eine "große Varianz der regionalen Herkunft, der sozialen Schicht, des Berufs, der Lebensumstände und der politischen Orientierung" (S. 21). Die Mehrzahl der Namen ist anonymisiert. Nur in drei Fällen werden die wirklichen Namen genannt: bei Freya Klier, Wilfried Poßner und Peter Gläser. Zwei Anonyme ließen sich relativ leicht entschlüsseln: Hanns Schimansky und Klaus Wolfram. Ein Gesprächspartner hat den Text nicht zur Nutzung freigegeben. Von den 20 verwendeten Interviews sind also ein Viertel mehr oder weniger Personen des öffentlichen Lebens und drei Viertel "Normalbürger" der DDR, Köchin, Sachbearbeiterin, Krankenschwester, Lehrerin, Architekt, Kellner, Modedesignerin, Kindergärtnerin, Ingenieur, Schreibkraft, Druckerin, Archivassistentin, Schreiner, Berufsoffizier und Journalistin gewesen. Die Geschlechter sind nahezu paritätisch. Die Arbeit bietet eine Fülle an Material, interessant, aufschlussreich, detailliert und vorzüglich aufbereitet sowie gut zu lesen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Kindheit und Jugend des Jahrgangs 1949, d.h. auf den 50er und 60er Jahren.

In Kap. 1 "Kindheit - Aufbaupathos und Glücksauftrag" überschrieben, entdeckt Dorothee Wierling zunächst in den Kindheitsgeschichten die Kriegs- und Kriegsfolgegeschichten der Eltern. Vier Leitmotive des Erzählens stellt sie fest: erstens "den fehlenden Anker" bei der Bestimmung der Herkunft, zweitens den Glücksauftrag an den Jahrgang 1949, er stand nicht nur am Ende einer schrecklichen, sondern auch am "Beginn einer besseren Zeit", drittens blieb der "Gedanke an die Eltern als Nazis im Hintergrund bzw. im Untergrund", weil viertens diese Eltern vorwiegend als Opfer des Nationalsozialismus wahrgenommen wurden. (S. 56-58) Dann beschreibt sie die soziale Situation des Jahres 1949, analysiert die in den Familien stattfindende Sozialisation: die Strenge der "Staatsväter" und die Überlastung und Aufopferung der Mütter, die versuchte Vereinnahmung der familiären für die politischen Beziehungen, die sog. Verbindung der Schule mit dem Leben und die Spielräume der Kindheiten. Mit dem Ergebnis: "Nicht nur fungierte die Familie auch als Gegenwelt zu den Angeboten der staatlichen Instanzen, sondern dazwischen existierte in den 50er Jahren noch ein relativ großer Freiraum, in dem Kinder sich spielerisch und autonom eine soziale und Sinn-Welt schufen, in der die Erwachsenen nicht regierten."(S. 170)

Kap. 2 "Jugend zwischen Fortschritt, Revolte und Kontrolle" widmet sich den 60er Jahren. Es setzt ein mit einem Wechselbad: einerseits Mauerbau 1961, dessen Konsequenzen dieser Jahrgang dann in der Jugendphase spürte, andererseits "Jugendkommunique" 1963, das die Jugend zu den "Hausherren von morgen" erklärte und ihr "Vertrauen und Verantwortung" versprach. Ende 1965 aber war die kurze Phase der Modernisierung und Liberalisierung wieder beendet. "Aus der Partei als dem älteren Freund, der das Bündnis gegen die Etablierten anbietet, war wieder die Partei als kontrollierende Erzieherin geworden." (S. 209) Die Jugend reagiert darauf mit einer verstärkten Westorientierung, mit Beat, Jeans und langen Haaren. Der Staat erweitert die Erziehungsmaßnahmen: 80% des Jahrgangs 49 nehmen an der sozialistischen Jugendweihe teil. Zugleich gehörte dieser Jahrgang "zu den letzten in der DDR, der eine intensive Förderung im Hinblick auf Bildung und berufliche Möglichkeiten genoß." (S. 268) Am Ende des Jahrzehnts stehen der Einmarsch des Warschauer Pakts in Prag, die Jubelfeiern zum 20. Jahrestag in Berlin und dominant war "eine Erfahrung von Disziplinierung und Ohnmacht." (S. 334)

Kap. 3 stellt die Frage nach dem "Anfang vom Ende?" und verfolgt den Jahrgang 49 in den 70er und 80er Jahren. Das ist natürlich die Crux der Erinnerungen und Erzählungen: je näher sie der Gegenwart kommen um so selektiver werden sie. Ich nehme an, daß das der einzige Grund ist, warum diese zwanzig Jahre viel weniger Raum einnehmen als die ersten zwanzig. Wierling zeigt nun die Arbeitserfahrungen und Karrierewege dieses Jahrgangs, erzählt von den Liebesgeschichten und vom Aufwachsen der Kinder zwischen Krippe und Familie, dokumentiert Beispiele von sozialem Ausstieg aus der Normalität, von oppositionellen Karrieren wie von politischem Aufstieg, beide aber an das Projekt DDR gebunden, und geht der unterschiedlichen Bedeutung der SED-Mitgliedschaft wie dem "Geschmack des Westens" für die einzelnen Biografien nach. Zum Ende der 80er herrschen einerseits Lähmung und Resignation andererseits Mut und Aufbruchstimmung. Zwei Schlusskapitel sind 1989 und seinen ambivalenten Folgen sowie den Lebensbilanzen der Gesprächspartner in Gestalt der Spannungen zwischen Normalität und Individualität, zwischen gelebtem und ungelebtem Leben, zwischen Erfolg und Scheitern und zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft gewidmet. Die Interviewten kommen umfangreich und adäquat mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven in den einzelnen Kapiteln zu Wort. In der systematischen wie chronologischen Aufbereitung des Materials der Oral History ist die Arbeit ausgezeichnet. Am Ende ist man geneigt, die biografischen Erzählungen neu zusammensetzen zu wollen, so aufregend sind die subjektiven Lebenssichten und -geschichten.

Obwohl sich der Erziehungsoptimismus der politischen Führer gerade auf die erste Nachkriegsgeneration, also die etwa 1945 bis 1955 geborenen, gerichtet hatte, ist der "Neue Mensch", so weist Dorothee Wierling überzeugend nach, auch aus den "Kindern der Republik" nicht hervorgegangen. Neben den unterschiedlichen und keineswegs eindimensionalen Mustern der biografischen Konstruktionen gelingt es ihr am Schluss Gemeinsamkeiten auszuweisen, die in der Tat auf so etwas wie eine Kollektivbiografie oder eine Generationslage im Mannheimschen Sinne schließen lassen. Für eine Generationengeschichte der DDR liefert dieses Buch hervorragendes Material. Freilich bewegen wir uns hier mit der Autorin noch auf einem sehr unsicheren Terrain. Es gibt seit Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Dilthey und Karl Mannheim sehr verschiedene Interpretationen des Problems der Generationen, geht man nun von einem historischen, einem genealogischen oder einem pädagogischen Generationsbegriff aus. Und auch das Verständnis der politischen bzw. historischen Generation ist noch weitgehend umstritten, obgleich sein Beziehungsreichtum und seine Unverzichtbarkeit für die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte anerkannt ist. Als eine politische Generation jedenfalls haben sich die 49'er nicht verstanden. Das vorsichtige Fazit Dorothee Wierlings lautet darum: "Der Jahrgang 1949 ist Teil einer Generation, die über die Gemeinsamkeit der Generationslagerung und einen rudimentären Generationszusammenhang nicht hinausgekommen ist [...] Es handelt sich um eine Generation an sich, aber nicht für sich. Das verweist auf den Erfolg der Propaganda ebenso wie auf ihr Scheitern: Denn der Stiftungsversuch von oben ist zwar vergeblich gewesen; aber zu einer kollektiven Verständigung im Widerspruch zu diesem Stiftungsversuch ist es auch nicht gekommen." (S. 562) Letztere Kritik übersteigt, glaube ich, die Möglichkeiten des Generationsbegriffs. Der Blick des Historikers sollte von der Konstruktion von Generationen als Gruppierungen weg auf ein Generationsverständnis als Zeitverständnis gelenkt werden, auf die Verschränkung von Lebenszeit und historischer Zeit, auf die Verzeitlichung des Sozialen in den unterschiedlichen Erfahrungen der Generationen. Gleichwohl hat Dorothee Wierling mit diesem ungemein kenntnis- und materialreichen Buch einen Beitrag hierzu geleistet.

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