Inferno Irak
„Wir übergeben kein Land, in dem Milch und Honig fließen.“ Dieser Satz des britischen Außenministers David Miliband dürfte als Untertreibung des Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Ausgesprochen wurde er am 16. Dezember in Basra, anlässlich der Machtübergabe der letzten noch von den Briten verwalteten Provinz des Irak an die irakischen Sicherheitskräfte. 2500 britische Soldaten bleiben zwar noch, „für Notfälle“, wie es heißt. Aber fast fünf Jahre nach „Mission accomplished“ ist der gesamte Irak ein Notfall, ein zerrissenes, gewalttätiges, unregierbares Land im permanenten Bürgerkrieg aller gegen alle, mühsam zusammengehalten von amerikanischen Truppen; derweil schleicht sich die „Koalition der Willigen“ nach und nach ruhmlos davon. Für Journalisten und andere Beobachter ist es längst zu gefährlich geworden, sich im Irak außerhalb der schwer bewachten „grünen Zone“ zu bewegen. Wenig von dem, was dort tatsächlich geschieht, dringt daher noch nach draußen. Stern-Reporter Christoph Reuter, der seit 1990 kontinuierlich aus dem Irak berichtet, schildert in dieser IP seinen Eindruck von der heutigen Lage des Landes: ein düsteres Bild. Zusammenstellen konnte er es, weil er seit Anfang 2007 im Auftrag des britischen „Institute for War and Peace Reporting“ irakische Journalisten ausbildet; sie haben ihm die Situation in Regionen beschrieben, die seit langem kein westlicher Augenzeuge mehr betreten hat. In den USA beginnt jetzt die heiße Phase des Präsidentschaftswahlkampfs. Irak, „Amerikas selbstverschuldete Bürde“ (John Hulsman), wird in den Debatten über die Zukunft der Führungsmacht des Westens eine entscheidende Rolle spielen. Was geht das uns an? Außerordentlich viel, mahnt Christoph Bertram: Denn der Irak sei „nicht nur ein amerikanisches Problem, das man mit der Schadenfreude des Unbeteiligten quittieren kann, sondern ein deutsches Problem“. Weshalb „deutsche Außenpolitik daran gemessen werden muss, ob sie dies erkennt und danach handelt“. Die Deutschen selber sehen das laut IP--Umfrage mehrheitlich auch so: 48 Prozent fordern, Deutschland solle sich diplomatisch und politisch mehr im Irak engagieren. Acht Prozent plädieren gar für politische und militärische Hilfe zur Stabilisierung des Landes (S. 7).
SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
Inhalt
Inferno Irak 8 Christoph Bertram Amerikas Entzauberung Auch Berlin muss mithelfen, die drohende Krise am Golf einzudämmen Ohnmacht einer Weltmacht: Amerikas Debakel im Irak beschleunigt den Verlust seiner globalen Machtposition, im neuen, noch unfertigen internationalen System hat es seine Ankerrolle verloren. Doch von den Auswirkungen der Invasion wird auch Deutschland in Mitleidenschaft gezogen werden – Berlin muss helfen, die drohende Krise am Golf einzudämmen.
14 Christoph Reuter Im ersten, zweiten, dritten Kreis der Hölle Zwischen Gewalt und Gesetzlosigkeit: Eine virtuelle Reise durch den Irak Oberflächlich betrachtet scheint die amerikanische Truppenverstärkung zu wirken: Das Morden nimmt ab, Bagdad wird ruhiger. Aber hinter dieser Fassade bereiten sich zahllose Milizen – zum Teil von den Amerikanern bewaffnet – auf den Kampf nach dem Abzug der US Armee vor. Im Irak wächst ein weiteres zerfallenes Staatsgebilde heran.
32 Johannes Reissner und Guido Steinberg Joker im Machtpoker Der Iran hilft den irakischen Schiiten, fürchtet aber einen Zerfall des Nachbarn Der Iran hat enge Beziehungen zu schiitischen Organisationen im Irak und unterstützt schiitische Milizen im Kampf gegen die US-Truppen. Aber Teheran will andererseits auch vermeiden, dass das Land zerfällt und zu einer Bedrohung wird. Irans Interesse an stabilen Verhältnissen im Irak sollten die USA zur Kooperation nutzen.
40 Lindsay P. Cohn Kampf dem Chaos Warum man im Irak mit der klassischen Counter-insurgency nicht weit kommt Wenn es um Aufstandsbekämpfung im Irak geht, ist auch hierzulande oft die Rede von „Counter-insurgency“. Eine exakte deutsche Entsprechung fehlt, und wer den Begriff kennt, assoziiert ihn mit dem Vietnam-Krieg. Beides trägt eher zur Verwirrung über die amerikanische Strategie im Nahen und Mittleren Osten bei. Ein Klärungsversuch.
45 Henner Fürtig Déjà vu im Zweistromland Das britische Mandat als „Blaupause“ des neuen Irak? Lassen sich aus der Geschichte Schlüsse für die Zukunft des Irak ziehen? Ja, sofern man den richtigen Bezugspunkt wählt. Der ist nicht Vietnam, sondern der Irak selbst, etwa die britische Mandatszeit in den zwanziger Jahren. Ein seriöser Wiederaufbauplan hätte zudem die Resultate aus 80 Jahren irakischer Entwicklung berücksichtigen müssen. 52 Muriel Asseburg & Steffen Angenendt Die irakische Flüchtlingskrise ... überfordert die Nachbarländer und baut neue Spannungen in der Region auf Die Flüchtlingszahlen aus dem Irak steigen immer weiter, die Nachbarländer, allen voran Syrien und Jordanien, sind mittlerweile völlig überlastet. Es ist höchste Zeit, dass sich Deutschland stärker engagiert, um dieser humanitären Katastrophe zu begegnen und weitere Destabilisierung in der Region zu verhindern.
58 John C. Hulsman Hoffen auf Hillary Einfach würde der transatlantische Dialog auch unter einer Präsidentin Clinton nicht Wird ein von weiblicher Hand geführtes Amerika seine „sanfte Macht“ wiederentdecken? Wer den Wahlkampfreden der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidatin lauscht, muss das bezweifeln: Senatorin Clinton ist zwar eine überzeugte Multilateralistin. Aber in der Frage militärischer Gewaltanwendung unterscheidet sie wenig von George W. Bush.
Internationale Politik 66 USA | Belinda Cooper Die Ära Guantánamo Wie die US-Regierung Freiheitsrechte auf dem Altar der Sicherheit opfert Seit die USA ihren Krieg gegen den Terror führen, haben Inhaftierte viele eigentlich selbstverständliche Rechte verloren. Die Bush- Regierung schuf neue Gesetze, um Folter und unbegrenzte Haft ohne Prozess zu legitimieren. Doch inzwischen setzen sich nicht mehr nur Menschenrechtler, sondern sogar Militäranwälte für die Gefangenen ein.
72 USA/Europa | Helga Haftendorn Partner oder Kontrahenten? EU und USA werden auch künftig eher
Der Irak-Krieg hat den Dissens über die Behandlung außereuropäischer Konflikte verschärft. Mit Blick auf die Zukunft der transatlantischen Beziehungen stellt sich daher die Frage, welche Ursachen diesen Differenzen zugrunde liegen und ob der Westen in Zukunft wieder in der Lage sein wird, globale Probleme gemeinsam zu lösen. Eine Analyse.
82 Nahost | Shlomo Shpiro Europas Job im Nahen Osten ... könnte es sein, mit seiner Erfahrung zur Friedenssicherung beizutragen Shimon Peres brachte es auf den Punkt: Wie kann Frieden gesichert werden, wenn es überhaupt keinen Frieden gibt? Sollten sich nun Israelis und Palästinenser doch endlich auf eine Konfliktlösung verständigen, könnten die Europäer eine wichtige Rolle bei der Friedenssicherung spielen und ihre Erfahrungen aus mehr als drei Jahrzehnten einbringen.
89 Balkan | B. Schoch & M. Dembinski Gordischer Knoten Kosovo Nach dem Scheitern der Troika bleibt nur die Wahl zwischen Pest und Cholera Kosovo bleibt die schwärende Wunde auf dem Balkan: Da Serben und Kosovo-Albaner weiterhin auf ihren Maximalpositionen verharren, hat sich in der EU die Auffassung durchgesetzt, eine EU-überwachte Unabhängigkeit des Amselfelds sei noch die beste aller schlechten Entscheidungen. Das könnte sich als Irrtum erweisen.
96 Auslandseinsätze | T. Noetzel & B. Schreer Ende einer Illusion Die Debatte in Deutschland macht einen großen Bogen um die Wirklichkeit Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hofften damals viele, würden Streitkräfte kaum noch gebraucht werden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bundeswehr ist zu einer Armee im internationalen Dauereinsatz geworden. Diese Realität wird aber hierzulande beharrlich verdrängt – mit fatalen Folgen für die Auslandseinsätze selbst.
102 Deutschland | Jochen Thies Raus aus dem Ortsverein! Wer regieren will, muss führen: Die SPD und die Außenpolitik Global? Egal. Provinziell und selbstgenügsam gibt sich die SPD ausgerechnet in einer Zeit, da die internationalen Anforderungen an Deutschland steigen. Keine dankbare Aufgabe für den Außenminister, der als einer der letzten Sicherheitspolitiker von Rang seine Partei mit der Realität konfrontiert – und die Genossen mühsam an die notwendigen Einsichten heranführt.
108 Grenzen | Carlos Widmann Die Blüte des Stacheldrahts Amerika, Europa, Nahost: Die Zukunft der Zäune hat erst begonnen
Amerika, Nordafrika, Nahost: In aller Welt gehen Mauern hoch, errichten Staaten Sperren, die Millionen Menschen an der Migration hindern, vor Terroristen schützen oder vom Krieg mit Nachbarn abhalten sollen. Täglich sterben ungezählte Flüchtlinge an monströsen Barrieren, die das Zeitalter der Globalisierung zu verhöhnen scheinen. Doch die Zukunft der Zäune hat erst begonnen.
130 Nahostbilder | Götz Nordbruch »Prüfung für Araber und Muslime« Bei den Nachbarn des Irak wächst ein gemeinsames Verantwortungsgefühl 134 Buchkritik | S. Bierling und J. Croitoru Rein ins Verderben Fünf Jahre Irak-Konflikt und die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte Kolumnen 64 Werkstatt Deutschland | Paul Nolte Das Verschwinden der Landespolitik Welche Rolle spielen eigentlich noch die Bundesländer? 80 Ökonomie | Helmut Reisen Ja, mach nur einen G-8-Plan ... Die Initiative „Good Financial Governance in Africa“ klemmt jetzt schon 106 Kultur | Alexandra Kemmerer Geologie des Säkularen Warum der Glaube im Westen nur noch eine Option unter vielen ist 128 Technologie | Tom Schimmeck Die WG der Welterklärer Eine Art Carrera-Bahn für Atome: der „Large Hadron Collider“ Service 6 Rückschau / IP-Frage 140 Dokumentation 142 Impressum 144 Vorschau www Nachwuchsforum