Zerfällt die Weltordnung?
Was Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier in Händen halten, ist ein echtes Schwergewicht: Mit 224 Seiten Umfang soll diese Doppelausgabe der IP ausreichend Hirnfutter für zwei Sommermonate zur Verfügung stellen. Das Schwerpunktthema hat ebenfalls Gewicht – geht es doch um den Zustand der internationalen Ordnungsstrukturen. Nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen und bis heute dominiert vom Westen, wirken die wichtigsten Institutionen – die Vereinten Nationen mit dem Sicherheitsrat und die Bretton-Woods-Schwestern IWF und Weltbank – heute, 60 Jahre später, seltsam unzeitgemäß: schwerfällig, reformunwillig, den Realitäten des 21. Jahrhunderts kaum noch angemessen. Die alte Ordnung, da sind sich die Autoren dieser Ausgabe einig, erodiert. Sie tue dies, weil der Westen als wichtigster Garant dieser Strukturen zerstritten sei und weil vor allem die kollektive Sicherheitspolitik katastrophal versagt habe, argumentiert der Kieler Politologe Joachim Krause: „Infolge des Nichthandelns oder der mangelnden Ernsthaftigkeit und Konsequenz des Handelns des UN-Sicherheitsrats dürften in den neunziger Jahren ungefähr sechs Millionen Menschen ihr Leben verloren haben.“ Sie verliere rapide an Legitimität, hält der asiatische Forscher Kishore Mahbubani dagegen, weil der Westen in undemokratischer Weise auf seiner Dominanz beharre und so die dringende Neustrukturierung der Weltordnung verhindere: „Warum haben 15 Prozent der Weltbevölkerung 60 Prozent der Sitze im UN-Sicherheitsrat?“ Die Welt von 2007 ist nicht mehr die Welt von 1945. Räume begrenzter Staatlichkeit sind entstanden, neue Akteure spielen eine Rolle, der Souveränitätsbegriff wird unscharf, es entwickelt sich eine Art „institutionalisierte Ungleichheit“ (Michael Zürn), möglicherweise ein „asymmetrisches Völkerrecht“ (Ulrich Preuß); was unter diesen Umständen noch „legitim“ ist, muss neu definiert werden (Robert Keohane). Doch, so Peter Bender: „Ein Weltherrscher, der Weltfrieden schafft und eine Weltordnung stiftet, ist nicht zu sehen.“ Europa immerhin scheint sein Tief überwunden zu haben; es geht, auch dank der „Merkel-Methode“, wieder voran. Einige Europäer aus Ost, West, Nord und Süd bewerten in dieser Ausgabe die Fitness der Union nach sechs Monaten deutscher EU-Ratspräsidentschaft. Lesen Sie dazu die Seiten 134 bis 165.
SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
Inhalt
Zerfällt die Weltordnung? 8 Joachim Krause Die internationale Ordnung in der Krise
Warum die Uneinigkeit des Westens das gesamte System bedroht
Eine der am meisten beunruhigenden politischen Entwicklungen der Gegenwart ist die Erosion der internationalen Ordnung. Es ist ein schleichender, eher im Hintergrund ablaufender Prozess, der aber tiefgreifende Veränderungen der internationalen Politik mit sich bringen wird.
21 Michael Zürn Institutionalisierte Ungleichheit Wohin steuert die internationale Staatenwelt im 21. Jahrhundert?
Zwei disparate Entwicklungen prägen die heutige Weltordnung: Die unipolare Dominanz der USA einerseits, die wachsende Bedeutung globaler Normen andererseits. Zusammen betrachtet, ergibt sich das Bild eines rechtlich stratifizierten Mehrebenensystems, in dem das Grundprinzip des Rule of Law – souveräne Gleichheit – unterminiert wird.
32 Ulrich K. Preuß Asymmetrisches Völkerrecht?
Der Kosovo-Plan könnte das Ende des Systems souveräner Gleichheit einläuten
Der Kosovo-Plan der UN würde, wenn er sich umsetzen ließe, einen Staat minderer Souveränität schaffen und damit das Ende des UNSystems souveräner Gleichheit aller Staaten einläuten. Das könnte paradoxerweise auf eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts hinauslaufen – und der internationalen Gemeinschaft mehr Verantwortung aufbürden.
40 Thomas Risse Paradoxien der Souveränität
Was es heißt, wenn Staaten nicht mehr uneingeschränkt souverän sind
Fragile, zerfallen(d)e Staaten nehmen in der internationalen Politik zu: Mehr als zwei Drittel der heutigen Staatenwelt gehören zu Räumen begrenzter Staatlichkeit, ihre innere Souveränität ist eingeschränkt. Welche Konsequenzen hat das Auseinanderklaffen der verschiedenen Komponenten von Souveränität für die gegenwärtige Weltordnung?
48 Peter Bender Frieden muss erzwungen werden
… und was wir sonst noch aus der Geschichte lernen können
Das 20. Jahrhundert hat die Welt stärker verändert als alle Zeiten davor, doch der Mensch blieb, wie er immer war, und die Erfahrungen der Geschichte bleiben gültig. Für die Zukunft heißt das: Die Welt wird mehrere Machtzentren haben. So war es zu allen Zeiten, warum soll es in Zukunft anders sein?
54 Kishore Mahbubani Der Westen als Nadelöhr Amerika und Europa gefährden die Legitimität internationaler Institutionen
Es ist nicht nur der amerikanische Unilateralismus, es ist auch die Uneinsichtigkeit der Europäer, die die Glaubwürdigkeit und Effizienz der Weltordnung unterminiert. Aus asiatischer Perspektive blockiert die undemokratische westliche Dominanz die internationalen Strukturen. Denn sie entspricht nicht mehr den Realitäten der Welt von heute.
66 Henrik Schmiegelow Asiens künftige Rolle als Ordnungsmacht
Wie die dynamischste Region die Weltordnung prägen wird
Während Europäer und Amerikaner sich Sorgen über den Niedergang der – westlich dominierten – internationalen Ordnung machen, schickt Asien sich an, mit strategischem Pragmatismus zum neuen globalen Gestalter zu werden. Unbeachtet vom Westen schreiten die Prozesse funktionaler Integration und regionaler Gemeinschaftsbildung voran.
74 C. Raja Mohan und Klaus Julian Voll Schulterschluss der Rivalen
Erfüllt sich Nehrus Vision eines neuen Asiens mit Indien und China als Kern?
Der Aufstieg Chinas und Indiens verschiebt das globale Gleichgewicht von West nach Ost, ihre strategische Partnerschaft gibt der Entwicklung zusätzliches Gewicht. Will die EU nicht abseits stehen, muss sie beiden asiatischen Mächten als politische Einheit gegenübertreten – und sich zugleich von ihrer Fixiertheit auf Peking befreien.
80 Anatol Lieven Die verblendete Nation
Amerikas Parteien haben aus dem Irak-Debakel bisher nichts gelernt
Der tief verwurzelte amerikanische Exzeptionalismus und Messianismus machen es dem politischen Establishment Washingtons schwer, adäquate Lehren aus der gescheiterten Bush-Politik zu ziehen. Deshalb fangen Despoten aller Schattierungen an, dem Hegemon auf der Nase herumzutanzen – jeder weiß, dass Amerika seine Macht überdehnt hat.
90 Johannes Varwick Zwischen Mythos und „added value“
Das Prinzip der kollektiven Sicherheit, politisch bewertet
Kollektive Sicherheit muss keine Utopie bleiben, wenn sie als Zielwert internationaler Beziehungen aufgefasst wird. Ein entsprechendes Rahmenwerk könnte neue Ansätze der Konfliktbearbeitung bieten, indem Institutionen einbezogen werden, deren Entscheidungen auf Konsultationen und Kompromissen – und nicht auf Willkür – beruhen.
96 Robert O. Keohane
Unter Umständen legitim
Über die Rechtmäßigkeit von Herrschaft in Räumen begrenzter Staatlichkeit
Kann Governance, die Ausübung von Herrschaft durch Regierungen oder Institutionen, legitim sein, auch wenn sie nur in begrenztem Maße auf staatlichen Strukturen beruht? Die Antwort: Das kann sie – sofern eine Reihe von allgemeinen Standards für Legitimität erfüllt sind. – Internationale Politik 110 Weltbank | Thorsten Benner Hilfe für den Helfer gesucht
Nach Wolfowitz, vor Zoellick: Eine neue Ära?
Geldgeber der Armen, Manager internationaler Krisen, Finanzier globaler öffentlicher Güter: Nie war die Zeit für die Weltbank günstiger, nie die gesellschaftliche Akzeptanz von Entwicklungspolitik größer. Doch deren weltweit wichtigste Institution befindet sich in einer Krise, die tiefer reicht als die Kontroverse um ihren gescheiterten Chef Paul Wolfowitz.
120 Transatlantisches Verhältnis | Karl Kaiser Im Westen doch Neues
Die veränderten Konstellationen ermöglichen eine bessere Kooperation
Heiligendamm hat es gezeigt: Die transatlantischen Beziehungen haben sich aufgrund von Veränderungen sowohl in der Bush-Administration als auch in Europa verbessert. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die Rückkehr der USA zum Multilateralismus sowie die Einheit der Europäer.
122 Porträt | Henning Hoff Vom Pudel zur Bulldogge
Abschied von einer Dekade Blairismus: Machtwechsel in Großbritannien
Das britische Interregnum ist vorbei. Nach einer internationalen Abschiedstournee hat Tony Blair die Weltbühne verlassen. Im Amt folgt ihm nun sein politischer Zwilling und ewiger Rivale, Schatzkanzler Gordon Brown. Bei mancher Unklarheit über Browns Ziele: ein radikaler außenpolitischer Wechsel ist von dem bärbeißigen Schotten nicht zu erwarten.
128 Nahost| Margret Johannsen Dschihadistan in Palästina?
Wer den Gaza-Streifen sich selbst überlässt, spielt nur den Islamisten in die Hände
Palästinenser im Bruderkrieg, die politische Häutung der Hamas von einer Rebellenbewegung zur Partei gescheitert, Terror und Gewalt im „größten Freiluftgefängnis der Welt“: Doch wer den Gaza- Streifen sich selbst überlässt, wird auch Israel keinen Frieden bringen – und macht die palästinensische Sache zum Spielball der Dschihadisten.
168 USA | Stephan Bierling Aufstieg und Fall von King George
Ende einer neoimperialen Präsidentschaft
Die Machtfülle des amerikanischen Präsidenten George W. Bush war – nach dem Schock vom 11. September – so gewaltig, dass Kritiker schon die Rückkehr der „imperialen Präsidentschaft“ der Johnson- und Nixon-Jahre befürchteten. Doch wie gewonnen, so zerronnen: Seine letzten anderthalb Amtsjahre verbringt Bush jun. als ziemlich lahme Ente.
174 Lateinamerika | Carsten Wieland Kolumbiens Katharsis
Ein Land diskutiert über die Verbindungen zwischen Politik und Paramilitarismus
Kolumbiens Präsident Alvaro Uribe ist es gelungen, tausende Paramilitärs zu entwaffnen. Damit hat er die Rolle des Staates gestärkt und ist einem Ende des Konflikts zwischen Militär, paramilitärischen Todesschwadronen und der linken Guerilla näher gekommen. Doch Aussagen der ehemaligen Kämpfer vor Gericht belasten Verbündete Uribes.
182 Amerikabilder | Patrick Keller Hegemonialmacht im Stillstand
In den USA fehlen die politischen Köpfe für neue Ideen
Wie waren wir, Europa? 134 Jan Techau Neuanfang statt Nabelschau Auftrag erfüllt: Deutschland hat der EU den Weg aus der Krise gewiesen
138 Juri Andruchowytsch Hier bin ich, kritisiere mich! Warum Deutschland den ewigen EU-Ehrenvorsitz verdient hat
140 Hermann Tertsch Uninteressiert, unvorbereitet, unwissend Wie die Spanier die Europa-Kompetenz der eigenen Regierung einschätzen
141 Rolf Gustavsson Die Merkel-Methode ... hat das Projekt Europa gerettet. Zumindest fürs Erste
144 Sergio Romano Kein Herz für Bären Eine allzu schroffe Haltung gegenüber Russland trübt die deutsche EU-Bilanz
146 Anne-Marie Le Gloannec Annäherung ohne Wandel Vereint in Ohnmacht: Die EU und ihr Verhältnis zu Russland
148 György Dalos Quadratwurzel oder Quadratur des Kreises Müssen wir in allem so einheitlich wirken, wie wir es nie werden sein können?
150 Zdzislaw Krasnodebski Vergeigtes Vertrauen In Osteuropa schwindet die Akzeptanz für Deutschlands Führungsrolle
152 Ruth Lea Hello goodbye Bitte austreten: Wie man die EU verlässt und doch ihr Partner bleibt
155 Antonio Puri Purini Wider den Euroskeptizismus Warum Europa seine Erfolge besser verkaufen muss
158 Christian E. Rieck Europas Utopia? Von der Indienststellung des Nationalen fürs bonum comune europaeum
Kolumnen 108 Ökonomie | Helmut Reisen Schwächelnde Schwestern Verlieren Währungsfonds und Weltbank dauerhaft an Bedeutung?
132 Werkstatt Deutschland | Paul Nolte Gesinnungsethik, zum zweiten Moskitonetze gegen Mangel: Neues aus der Weltverbesserungsbranche
166 Kultur | Jens Jessen Bockwürste in einer Schlange Wie wir die Kunst unter dem Vorwand der Verehrung zum Event machen
180 Technologie | Tom Schimmeck Tod per Mausklick Aufrüstung: Die Waffen werden moderner, doch auch der digitale Krieg bleibt blutig Bücherschau 191 Rezensionen Die wichtigsten außenpolitischen Neuerscheinungen besprochen von Stephan Bierling, Claus Kreß, Andreas Eckert, Jörg Baberowski, Erich Weede, Joachim Fritz-Vannahme, Kurt-Jürgen Maaß und Hanns W. Maull
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