C. Haase u.a. (Hrsg.): »DIE ZEIT« und die Bonner Republik

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Titel
»DIE ZEIT« und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung


Herausgeber
Haase, Christian; Schildt, Axel
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Wirsching, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg

Seit zumindest einem Jahrzehnt ist der unbestritten dynamische sozio-kulturelle Wandel der Bundesrepublik zwischen ca. 1950 und 1970 ein bedeutsamer Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung geworden. Zwar mag man darüber diskutieren, wieweit der Impuls der „Liberalisierung“ reichte bzw. worin die Substanz einer „Demokratisierung“ der politischen Kultur bestand; aber daran, dass die „langen 1960er-Jahre“ das Gesicht der westdeutschen Gesellschaft fundamental verändert haben, besteht kein Zweifel. Zugleich gibt es wohl kein anderes Printmedium, das diesen Wandel deutlicher widerspiegelt als die Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Hervorgegangen aus einer Tagung, die im März 2007 in Hamburg stattfand 1, widmet sich der hier angezeigte Sammelband ihrer Geschichte. Seine Beiträge untersuchen diachrone Entwicklungslinien, verschiedene publizistische Themenfelder und personelle Konstellationen. An einer Fülle von Einzelbeispielen zeigen sie, in welch dynamischer Weise die ZEIT zum liberalen „Leitmedium“ der alten Bundesrepublik avancierte.

Die insgesamt fünfzehn Einzelbeiträge, die hier nicht alle ausführlich gewürdigt werden können, gruppieren sich um drei Leitthemen: „Aufbruch, Liberalisierung und soziale Modernisierung“, „Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit“ und „DIE ZEIT und die zwei deutschen Staaten“. Einleitend informiert ein Essay von Axel Schildt über die Geschichte der ZEIT in der „Bonner Republik“ im Allgemeinen. Vertiefte Einsichten bietet darüber hinaus der Beitrag von Christian Haase über die ZEIT und die Außenpolitik.

In diesen beiden Studien der Herausgeber, aber auch in den meisten anderen Beiträgen wird deutlich, in wie hohem Maße die ZEIT in dem genannten Wandlungsprozess Objekt und Akteur zugleich war. So wurde die wichtigste frühe Zäsur des Jahres 1955, die Trennung von dem nationalkonservativen Mitbegründer und Chefredakteur Richard Tüngel – dessen Amtszeit Alexander Gallus und Detlef Bald näher porträtieren –, aktiv von Gerd Bucerius und Marion Gräfin Dönhoff betrieben. Erst sie bereitete den Boden, auf dem sich die ZEIT vom publizistischen „Rechtsausleger“ zum liberalen „Leitmedium“ entwickeln konnte. Dabei war, wie Frank Bajohr und Karl Christian Führer zeigen, der Hamburger Hintergrund von Bedeutung. In der Hansestadt, die gleichsam eine „gaullistenfreien Zone“ bildete (S. 87), gehörte eine transatlantische Orientierung zu den politischen Kernbeständen. Unterstützt durch eine Vielzahl von politisch-intellektuellen Netzwerken ihrer Redakteure, verkörperte die ZEIT die atlantische Bindung der Bundesrepublik ebenso wie sie sie publizistisch prägte. Philipp Gassert skizziert diese „amerikanische Periode“ der ZEIT (S. 81), die erst gegen Ende der 1960er-Jahre, unter dem Eindruck des Vietnam-Krieges und der dynamischen Politik zuerst der Großen, dann der sozial-liberalen Koalition, ausfaserte.

Ein anderes wichtiges Thema wird in den Beiträgen von Werner Bührer und Alexander Nützenadel behandelt und betrifft die Wirtschaftspublizistik der ZEIT. Vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde sie aktiv ausgebaut. In dieser „Stunde der Ökonomen“ 2 förderte sie als bedeutendes nationales Medium die Verflechtung von Wirtschaftspolitik, Publizistik und wissenschaftlichem Expertentum. Unter der Leitung von Diether Stolze, der 1963 Chef des Wirtschaftsressorts wurde, nahm die ZEIT aktiv an der Hinwendung zu einem „moderaten Keynesianismus“ teil, moderierte aber auch Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre den Diskurs über seine Krise und die Kritik an den Experten. Eine angebotsorientierte, „neo-liberale“ Wende im Sinne Lambsdorffs und Teilen der Regierung Kohl, wie sie Stolze phasenweise anstrebte, war jedoch mit dem in der Zeitung dominierenden Hauptstrom nicht konsensfähig. Dieser lange schwelende Konflikt führte schließlich 1982 zum Ausscheiden des mittlerweile als Verleger und Mitherausgeber der ZEIT fungierenden Stolze.

Insofern blieb die ZEIT auch nach der „Wende“ von 1982/83 ein „sozial-liberales Leitorgan“ (S. 24), für dessen Orientierung die Herausgeber Dönhoff und Helmut Schmidt sowie der Chefredakteur Theo Sommer standen. Besonders deutlich wird diese Kontinuität auch in der „vergangenheitspolitischen“ Dimension, die durch mehrere Beiträge ausgeleuchtet wird. Parallel zu den dominanten Strömungen der alten Bundesrepublik vollzog die ZEIT einen allmählichen Wandel von der „postnationalsozialistischen zur postnationalen Identität“ (S. 199). Im Kern galt dies für den Umgang mit dem Nationalsozialismus im allgemeinen (Christina von Hodenberg) wie für die Rezeption des militärischen Widerstandes (Eckart Conze) und die Frage der Wiedergutmachung (Constantin Goschler). Auf allen diesen Feldern ist der Wechsel von der Orientierung an traditionell nationalen Kategorien zu einer letztlich universalistisch geprägten kritischen Aufarbeitung und Einordnung der verbrecherischen NS-Vergangenheit nachweisbar. In gewisser Weise gelang der ZEIT damit die für die politische Kultur der späten „alten“ Bundesrepublik insgesamt so kennzeichnende „Versöhnung von ‚Moralität‘ und westlicher ‚Liberalität‘“ (S. 185). Vor diesem Hintergrund ist auch der „Historikerstreit“ von 1986 zu begreifen, in dessen Verlauf die ZEIT bekanntlich eine publizistische Hauptrolle spielte. Deren Geschichte bereichert im vorliegenden Band Claudia Fröhlich durch Hintergrundrecherchen bei Robert Leicht und Jürgen Habermas um einige neue und interessante Aspekte.

Bleibt die Deutschlandpolitik, die vor allem in den Beiträgen von Christoph Kleßmann und Konrad Jarausch resümiert wird. Noch mehr als in den anderen Themenbereichen zeigt sich hier, in wie hohem Maße die ZEIT ein Leitmedium der Bonner, eben der „alten“ Bundesrepublik war. Geprägt durch die nachhaltige Unterstützung der neuen Ostpolitik, die ebenso nachhaltige Ablehnung Kohlscher Geschichtspolitik und die Hinwendung zu einer postnationalen Identität, war sie auf die Ereignisse des Jahres 1989 überaus schlecht vorbereitet. „Von der Geschichte belehrt“ – unter dieses Motto stellt Jarausch den hieraus entstehenden Konflikt, den die ZEIT unter ihrem Chefredakteur Theo Sommer freilich paradigmatisch für den Großteil der deutschen Intellektuellenkultur der 1970er- und 1980er-Jahre durchlitt. Hinzuzufügen ist allerdings sofort, dass sich die ZEIT auch an dem Diskurs über diese Belehrung und den damit verbundenen Lernprozessen selbst aktiv beteiligte und damit den kulturellen Übergang in das vereinigte Deutschland erleichterte.
Vielleicht ließe sich nachdrücklicher, als dies die Autoren des Bandes tun, nach der Zäsur von 1989/90 für die Geschichte der ZEIT und der publizistischen Landschaft insgesamt fragen. Zwar handeln Untersuchungszeitraum und Fragestellung dezidiert von der alten Bundesrepublik, aber ein etwas weiterer Ausblick auf die Epoche danach wäre interessant gewesen. Welche Rolle spielt die ZEIT in der seitdem unübersichtlicher gewordenen publizistischen Landschaft? Welche Elemente des alten Profils als liberales „Leitmedium“ sind unter den gewandelten Bedingungen der „neuen“ Bundesrepublik weiterhin tragfähig? Wie kann sich überhaupt eine Wochenzeitung im Zeitalter des Internet am Markt behaupten? Antworten auf solche Fragen werden angedeutet, unter anderem auch durch den nützlichen Anhang, der über die Auflagenhöhe bis 2006 informiert; eine weiterführende Diskussion hierüber findet aber nicht statt.

Insbesondere ließe sich in diesem Kontext über einen generationsgeschichtlichen Zugriff diskutieren. Denn wie Christina von Hodenberg in ihrem Beitrag zeigt, steht die ZEIT stellvertretend für den Einfluss der sogenannten „45“er in der Bundesrepublik, das heißt der etwa zwischen 1920 und 1933 geborenen Jahrgänge.3 Gefördert und unterstützt von einzelnen Vertretern der „Kriegsjugendgeneration“ – wie Gerd Bucerius und Marion Gräfin Dönhoff – bildeten sie Ende der fünfziger Jahre den generationellen Motor für die Liberalisierung der alten Bundesrepublik. Wieweit das Erbe dieser Generation – in der ZEIT maßgeblich vertreten etwa durch Theo Sommer oder Karl-Heinz Janßen – im vereinigten Deutschland reicht, bleibt freilich eine offene Frage.

Nun liegt es in der Natur eines Sammelbandes, dass entsprechende Analysekategorien nicht systematisch durchgeführt werden können. Stets deutlich wird aber, über welch starkes personelles Kapital die ZEIT verfügte. Die vielfältigen nationalen und internationalen „Elitenkontakte“ (S. 42) ihrer Herausgeber und Redakteure bildeten seinen Kernbestand. Auch wenn man nicht allzu viel genuin Biographisches erfährt, so sind doch die Protagonisten, allen voran natürlich Bucerius, Dönhoff und Sommer, – auch bildlich – allgegenwärtig, und man gewinnt einen guten Eindruck von Ausmaß, Stabilität und Bedeutung ihrer nationalen und internationalen Netzwerke.

Dies führt abschließend zur Quellenfrage. Der größte Teil der Beiträge beruht auf gedruckten Quellen, insbesondere den ZEIT-Artikeln selbst. Über ein eigentliches Archiv, das über die Sammlung ihrer Artikel hinausginge, scheint die ZEIT nicht zu verfügen; um so bedeutsamer sind die persönlichen Nachlässe ihrer Protagonisten, die hier insbesondere in den einleitenden Beitrag von Christian Haase eingeflossen sind. In ihrem Vorwort erwähnen die Herausgeber, dass die Erschließung der beiden umfangreichen Nachlässe von Bucerius und Dönhoff begonnen habe. In dem Maße, in dem dieser Band neugierig und „Lust auf mehr“ macht, ist zu wünschen, dass die Erschließungsarbeiten baldmöglichst beendet und die Materialien der Forschung zugänglich gemacht werden mögen.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht Die Wochenzeitung „Die Zeit“ und die Bonner Republik. 23.03.2007-24.03.2007, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 13.04.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1533>.
2 Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005; vgl. die Rezension von Tim Schanetzky, in: H-Soz-u-Kult, 26.01.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-059>.
3 Siehe auch: Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006; vgl. die Rezension von Marcus M. Payk, in: H-Soz-u-Kult, 15.08.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-114>.

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