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Titel
Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974


Autor(en)
Nützenadel, Alexander
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 166
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In seiner Kölner Habilitationsschrift hat sich Alexander Nützenadel ein Thema vorgenommen, von dem man annehmen sollte, dass es längst erforscht wäre. Denn was wäre nahe liegender, als eine Geschichte der Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik zwischen Nachkriegszeit und erster Ölkrise zu schreiben? Schließlich war der wirtschaftliche Erfolg einer der zentralen Anker für die Identität und Stabilität der Republik. Dennoch ist es um dieses Thema merkwürdig still geworden, seit die Debatten um „Rekonstruktion“ und „Strukturbruch“ beendet sind. Zugleich greift Nützenadels Studie eines der dominierenden Themen der kulturalistisch erweiterten Zeitgeschichte auf. Unter dem Blickwinkel von Wissenschaftsgeschichte und politischer Zeitgeschichte stellt auch sie die „Verwissenschaftlichung“ in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zu Gabriele Metzler1 wählt Nützenadel aber eine niedrigere Abstraktionsstufe: Ihm geht es weniger um die Rekonstruktion eines allgemeinen politischen oder wissenschaftlichen Diskurses. Seine Arbeit zielt vielmehr darauf, das Phänomen der „Verwissenschaftlichung“ in den Entscheidungsprozessen der Wirtschaftspolitik aufzuspüren, die zeitgenössischen Diskussionen also unmittelbar auf Akteure und konkrete politische Entscheidungen zu beziehen.

In einem ersten Schritt werden jene inhaltlichen und methodischen Entwicklungen der Nationalökonomie hervorgehoben, die sie für die wirtschaftspolitische Praxis unverzichtbar werden ließen. In einem knappen dogmenhistorischen Abriss schildert Nützenadel die Traditionen des Historismus und stuft den Ordoliberalismus als eine Art Übergangsphänomen ein. Dem stellt er die Rezeption der Neoklassischen Synthese und die Durchsetzung einer modelltheoretisch argumentierenden, mathematisierten Volkswirtschaftslehre gegenüber. Nützenadel ordnet diese Entwicklung in den Kontext zeitgenössischer Diskussionen über Wachstumszyklen ein und hebt dabei insbesondere die langfristige Wirkung der als Trauma empfundenen Weltwirtschaftskrise hervor. Nach einem finanzwissenschaftlichen Exkurs über die Durchsetzung der „Fiscal Theory“ sind damit die Voraussetzungen für das zentrale Kapitel dieses ersten Abschnitts geschaffen: Am Beispiel der empirischen Wirtschaftsforschung, der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der neuen prognostischen Möglichkeiten zeigt Nützenadel eindrucksvoll, wie der Prozess der „Verwissenschaftlichung“ in der Wirtschaftspolitik schon während der 1950er-Jahre seinen Anfang nahm und sich auf die Mechanismen der Informationsgewinnung und Entscheidungsvorbereitung richtete.

Der zweite Abschnitt steht folgerichtig unter der Überschrift „Verwissenschaftlichung der Politik“ und wendet sich ganz der Politikberatung zu. Nützenadel schildert zunächst die Debatten über das Problem der „normativen“ wissenschaftlichen Beratung. Anschließend konzentriert er sich ganz auf die Entstehung des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ und die damit verbundenen zeitgenössischen Debatten über Chancen und Gefahren der „Verwissenschaftlichung“. Im dritten Abschnitt lenkt Nützenadel den Blick über die Bundesrepublik hinaus und richtet sein Augenmerk zunächst auf die Systemkonkurrenz zwischen beiden deutschen Staaten. Er hebt den Aspekt der „Entideologisierung“ hervor, der in der Konvergenzdebatte ebenso greifbar war wie in den kybernetischen Planungskonzeptionen in Ost und West. Mangelnde Informationen führten dazu, dass die Leistungsfähigkeit der Zentralverwaltungswirtschaften dramatisch überschätzt wurde, und so gab der Wettstreit der Systeme dem Prozess der „Verwissenschaftlichung“ zusätzlichen Antrieb. Außerdem wurden die wirtschaftspolitischen Methoden der Bundesrepublik auch mit Blick nach Westen als immer rückständiger empfunden. Dies ist das zentrale Argument des zweiten Abschnitts, in dem die europäische Integration als Faktor der „Verwissenschaftlichung“ deutlich hervortritt. Nützenadel rekonstruiert die Defensivposition, in welche die Bundesregierung angesichts planungsbegeisterter Initiativen zur Europäischen Konjunkturpolitik geraten war – in einer Doppelstrategie aus Entgegenkommen beim statistischen Instrumentarium und strikter Ablehnung der „Planification“ trug auch dies zur Durchsetzung des neuen wirtschaftspolitischen Paradigmas bei.

Im vierten Abschnitt rekonstruiert Nützenadel schließlich die lange Vorgeschichte der keynesianischen Globalsteuerung. Auch wenn diese formell mit dem Amtsantritt der Großen Koalition verbunden war, gibt Nützenadel doch zahlreiche Hinweise, die eher für eine langsame, 1955 beginnende Hinwendung zur aktiven, keynesianisch inspirierten Wirtschaftspolitik sprechen. Er unterstreicht, wie in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre der Konflikt zwischen Adenauer und Erhard über konjunkturpolitische Fragen eskalierte, während sich die SPD gleichzeitig als wirtschaftspolitische Reformpartei profilieren konnte. Bereits am Anfang der 1960er-Jahre hatten sich die Steuerungsprobleme in der Hochkonjunktur soweit zugespitzt, dass auch im Bundeswirtschaftsministerium über ein erweitertes konjunkturpolitisches Instrumentarium nachgedacht wurde. Aber erst als die Minirezession von 1966/67 über die ersten Entwürfe des „Stabilitätsgesetzes“ hinwegfegte (und nach Erhards Demontage), war der Weg zur Globalsteuerung endgültig frei. Karl Schiller führte Regie, als das ursprünglich defensive Gesetz zum rechtlichen „Instrumentenkasten“ der neuen Wirtschaftspolitik ausgebaut wurde. Nützenadel geht auf Schillers Strategie der Krisenüberwindung ebenso ein wie auf die Konzertierte Aktion und den drastischen Schub für die politischen Planungskonzeptionen am Ausgang der 1960er-Jahre. Am Ende der Darstellung steht ein kurzer Ausblick auf die Überforderung der Globalsteuerung vor der ersten Ölkrise.

Kurzum: Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik werden mit guten Argumenten als Vorreiter der „Verwissenschaftlichung“ präsentiert. Aber bereits der Titel verdeutlicht, dass Nützenadel von einer Sonderrolle der Ökonomen ausgeht. Er nimmt an, dass sich die Volkswirtschaftslehre als gesellschaftliche Leitwissenschaft etabliert habe, seit den 1950er-Jahren die Politikberatung insgesamt „stark dominierte“ und sogar eine „besondere Form der Expertenkultur hervorbrachte, die sich von anderen Disziplinen grundlegend unterschied“ (S. 13). Allerdings bleibt undeutlich, worin denn die Besonderheiten der Volkswirtschaftslehre gegenüber all jenen Disziplinen gelegen haben mögen, die im Laufe der 1950er und 1960er-Jahre kaum weniger Anteil am Prozess der „Verwissenschaftlichung“ hatten. Mit gleichem Recht und ebenfalls auf der Basis der entsprechenden disziplinären Quellen könnte man beispielsweise auch die Soziologie ohne große Mühe zur „Leitwissenschaft“ erklären.2

Doch wiegt dieser Einwand längst nicht so schwer wie die unbestrittenen Verdienste des Buches. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Wirtschaftspolitik in den 1950er und 1960er-Jahren werden in bemerkenswerter Deutlichkeit herausgearbeitet – und zwar so vernehmlich, dass der noch immer verbreitete Mythos vom „Deutungsmonopol“ der Ordoliberalen3 nun langsam an sein Ende kommen dürfte. Zudem trägt Nützenadels Studie dazu bei, den gelegentlich etwas erregten Ton aus den Debatten über die „Verwissenschaftlichung der Politik“ in den 1960er-Jahren zu nehmen. Für den Fall der Wirtschaftspolitik kann er jedenfalls empirisch bestens belegen, dass die Etikettierung der 1960er-Jahre als vermeintlich scharf abgegrenzte Epoche der „Verwissenschaftlichung“ kaum weiterführt. Und im Verein mit der Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums4 ist die bundesrepublikanische Wirtschaftspolitik in der Ära Adenauer erst jetzt so gründlich erforscht, wie man dies eigentlich erwartet hätte.

Anmerkungen:
1 Metzler, Gabriele, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005.
2 Nolte, Paul, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 16.
3 So etwa: Metzler (wie Anm. 1), S. 52ff.
4 Löffler, Bernhard, Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, Stuttgart 2003.

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