S. Lokatis u.a. (Hrsg.): Heimliche Leser in der DDR

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Titel
Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur


Herausgeber
Lokatis, Siegfried; Sonntag, Ingrid
Erschienen
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Peitsch, Institut für Germanistik, Universität Potsdam

Siegfried Lokatis, der sich mit einer Fülle von Veröffentlichungen, insbesondere „Jedes Buch ein Abenteuer“, „Der rote Faden“, „Fenster zu Welt“ und „Zensurspiele“ 1, als Pionier der Erforschung von Zensur in der DDR ausgewiesen hat, erschließt in dem zusammen mit Ingrid Sonntag herausgegebenen Sammelband ein „neue[s] Forschungsfeld“ (S. 17). Während nicht nur in seinen Beiträgen zur „Zensurforschung“ (S. 13), sondern auch in denen anderer, die zum Teil in den Anmerkungen zu seinem einleitenden Aufsatz genannt werden 2, das so genannte Druckgenehmigungsverfahren im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gestanden hat, verlagert „Heimliche Leser“ das Interesse von der Produktion auf die Distribution und Rezeption von Literatur. Nicht mehr die staatliche Kontrolle der Beziehungen zwischen Autoren und Verlagen in der Hervorbringung von ‚erlaubten‘ Texten steht nun im Mittelpunkt, sondern Verbreitungsformen, die Lesern einen Zugang zu Literatur eröffneten, die nicht das Druckgenehmigungsverfahren durchlaufen hatte.

Der Titel des Bandes verändert leicht denjenigen der Leipziger Konferenz, auf die er zurückgeht 3: Auch wenn „Der heimliche Leser in der DDR“ nun durch „Heimliche Leser in der DDR“ ersetzt worden ist, „weil es den heimlichen Leser nicht gegeben hat“ (S. 14), bleibt der Bezug auf Harold Hurwitz‘ Untersuchung zur Lektüre des „Monat“ in der DDR im Jahre 1953 4, der es, wie der Autor in der Rolle des Zeitzeugen betont, „um die Förderung von geistiger Abwehr und passivem Widerstand ging“ (S. 129). Die Problematik der Übernahme des Begriffs ‚heimliche Leser‘ scheint auf, wenn Hurwitz sich durch Betonung der ethischen Motivation der Verteiler (in Rückbindung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus) um eine scharfe Abgrenzung der „geheimen Leserschaft“ (S. 132) von „geheimdienstlichem Missbrauch vom Monat“ (S. 136) bemüht.

Im Einleitungsaufsatz nennt Lokatis „das heimliche Lesen nur die Seite einer Medaille, deren andere Seite die Zensur war“ (S. 11), und ordnet seinen Gegenstand so in das „denkbar weite Feld“ einer „Zensurwirkungsforschung“ ein: „wie sich das vielsträhnige Zensursystem in seiner Gesamtheit auf den Leser ausgewirkt, ihn gedrückt und beschränkt, aber auch zur Notwehr angespornt hat“ (S. 12). Die „Zensurmaßnahmen“ der „Kontrollinstanzen, die den heimlichen Leser herausforderten“ (S. 12), sollen unter den beiden Aspekten der Distribution und Rezeption, nämlich durch die Erforschung von „alternative[n], systemfremde[n] Beschaffungsquellen“ und von „Lektüre-Strukturen“ auf „reale Wirkung“ (S. 13) einschätzbar werden.

Die „aktuelle öffentliche Relevanz“ (S. 15) des Untersuchungsgegenstandes Distribution und Rezeption ‚unerlaubter Literatur‘ deutet Lokatis an, wenn er ‚heimliches Lesen‘ als „einfachste[…] Form der Demonstration von ‚Eigensinn‘“ zum „Lackmus-Test“ „für den Grad von Durchherrschung wie den alltäglichen Umgang mit Diktatur“ erklärt (S.22). Er steigert den Anspruch des Bandes auf Innovation bis zur „Korrektur“ (S. 13) der bisherigen Zensurforschung durch ein komplexeres Bild, in dem „die zeitgenössischen Sichtweisen und Erfahrungen in ihrer perspektivischen Vielfalt […] kommunikativ in Beziehung gebracht“ (S. 23) werden sollen.

Dieser Absicht folgt die Auswahl der Beiträgerinnen und Beiträger für den Band. Unter Berufung auf die von Lokatis mitherausgegebenen Sammelbände zum innerdeutschen Literaturaustausch 5 und zu den Zeitschriften der DDR 6 präsentieren die Herausgeber eine „Mischung aus detailkundiger Anschauung und objektivierender Distanz […], die die Konfrontation von Täter- und Opferperspektiven nicht scheut“ (S. 15). Das quantitative Verhältnis von (im weiten Sinn, der auch fremde Verschriftlichung einbezieht) Erlebnisberichten von und Gesprächen mit Zeitzeugen auf der einen Seite und wissenschaftlichen Abhandlungen auf der anderen ist mit 25 zu 15 deutlich zugunsten der autobiographisch grundierten Beiträge ausgefallen.

Für beide Gruppen von Beiträgern gilt, dass ein erheblicher Teil (vier Wissenschaftler, sechs Zeitzeugen) auf bereits Publiziertes zurückgreift, aus dem Auszüge oder Zusammenfassungen geboten werden. Nicht immer wird dies wie im Falle des Nachdrucks von Mark Lehmstedts „grundlegende[r] Topographie“ der „Orte und Strategien bei der Beschaffung westlicher Literatur“ (S. 16) nachgewiesen, jedoch wird es meist aus den Anmerkungen erkennbar. Solche Hinweise fehlen allerdings bei Karl Corinos und Hans-Georg Soldats Rückgriffen auf den Konferenzband zum deutsch-deutschen Literaturaustausch in den 1970er-Jahren 7.

Der Aufbau des Bandes folgt weder der systematischen Unterscheidung von Untersuchungsebenen, die Lokatis in der Einleitung vornimmt, noch der von verschiedenen Beiträgern geforderten historischen Differenzierung, sondern verbindet beide. Der Nachteil dieser Flexibilität zeigt sich in dem einzigen Abschnitt, der einen historischen Begriff im Titel trägt: Die unter „Kalter Krieg, Schmutz und Schund“ zusammengestellten Beiträge beziehen sich – abgesehen von Soldats „Fragmenten“ zum Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) – ausschließlich auf die fünfziger Jahre. Auffälligerweise sind es gerade Zeitzeugen, die in ihren Beiträgen einen Bedarf an historischer Differenzierung anmelden. So betont Soldat, dass die Nachkriegsjahrzehnte „ganz und gar keine konsistente Epoche“ (S. 176) bildeten, Heinz Klunker spricht von „völlig verschiedene[n] Zeiten“ (S. 245), und Peter Schicketanz warnt: „Man darf die Verhältnisse, die in den fünfziger Jahren geherrscht haben, nicht ohne weiteres in die Honecker-Ära verpflanzen.“ (S. 298) Aber auch Lehmstedt macht mit der Betonung der Zäsuren, die um 1961 und 1975 (KSZE) lägen, auf die Möglichkeit einer historischen Gliederung nach Phasen aufmerksam (S. 26). Dem Nachteil der Beschränkung der expliziten Thematisierung der historischen Rahmenbedingungen auf die 1950er-Jahre steht der Vorzug der überwiegend systematischen Ordnung der Kapitel gegenüber.

Im Abschnitt „Instanzen der Literaturkontrolle“ werden Zoll und Post behandelt, die im Auftrag des MfS zwei zentrale Verbreitungskanäle überwachten: bücherschmuggelnde Reisende und Büchersendungen. Als „sensible[n] Grenzstellen“ (S. 16) innerhalb der DDR wird den wissenschaftlichen Allgemeinbibliotheken (Staatsbibliothek Berlin, Deutsche Bücherei und Universitätsbibliothek Leipzig, Zentralbibliothek Weimar) und der Leipziger Buchmesse jeweils ein Kapitel gewidmet. Als „wichtige Milieus“ (S. 17) der Rezeption werden, wiederum in je einem Kapitel, „Konfessionelle“ und „Politische Lesergemeinschaften“ unterschieden.

Sowohl die meist aus dem Bundesarchiv und dem BStU recherchierten wissenschaftlichen Abhandlungen als auch die Zeitzeugenberichte belegen insgesamt übereinstimmend eindrucksvoll einen „äußerst regen Konsum“ (S. 20) von nicht-‚druckgenehmigter‘ Literatur, für die der Postweg gegenüber dem Reiseverkehr, der Buchmesse und den wissenschaftlichen Allgemeinbibliotheken der quantitativ wichtigste Verbreitungskanal war. Unterschiedliche Antworten geben die Beiträge auf die Frage, die in dem Begriff ‚unerlaubter Literatur‘ steckt: Wie ist der Umgang der Kontrolleure mit dem Spielraum zu beschreiben und zu bewerten, der sich aus dem Fehlen von gesetzlichen Verboten ergeben konnte? Nicht zufällig durchzieht ein – leider niemals ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion gemachter – Begriff, der eigentlich eine Metapher ist, viele Beiträge: „Grauzone“ (S. 60, 80, 218, 271, 364, 374). Hier stehen denjenigen, die despotische Willkür oder „autoritäre Anarchie“ (S. 230) sehen, andere Stimmen entgegen, die zum einen nur einen „Kern politischer Verbotsliteratur“ ausmachen, der für die Bevölkerungsmehrheit „uninteressant“ (S. 14) gewesen sei, und zum anderen die Zugangsmöglichkeiten zu ‚unerlaubter Literatur‘ weit ansetzen, wie der Mitgründer des „Adorno-Kreises“ 1977 in Berlin-Pankow, Hans-J. Misselwitz. Er schreibt in seinem Rückblick, „dass wir fast alles, was wir wirklich lesen wollten, uns irgendwie beschaffen konnten“ (S.307). Der Gegensatz zeigt sich besonders schroff unter den Bibliothekaren als Zeitzeugen: Die einen erwecken den Anschein, beispielswiese Hermann Hesse (S. 224) sei verboten gewesen, die anderen betonen: „Der Großteil an Literatur aus der BRD, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz war über den normalen Ausleihvorgang zugänglich.“ (S. 205)

Bemerkenswert wenig thematisiert wird die Rolle bundesrepublikanischer Instanzen bei der Verbreitung ‚unerlaubter Literatur‘ im Nachbarland. Mit überraschender Selbstverständlichkeit wird eigentlich Erklärungsbedürftiges berichtet, etwa dass die evangelische Kirche „schätzungsweise 8,5 Mrd. DM“ für den Literaturtransfer aufwandte: „Ein Großteil der Gelder stammte aus Mitteln des westdeutschen Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen.“ (S. 263) Auch die Rolle bundesrepublikanischer „Diplomaten und Journalisten“ (S.323) beim Transport wird von den Zeitzeugen vom Hessischen Rundfunk, vom Deutschlandfunk und vom RIAS nur als uneigennütziger Einsatz für „mehr Toleranz Andersdenkenden gegenüber“ (S. 183) verklärt. Freilich wird man dies bei einem Band, der ein neues Forschungsfeld eröffnet, verschmerzen können.

Anmerkungen:
1 Simone Barck / Siegfried Lokatis / Martina Langermann, „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensursystem und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997; Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht (1956-1971), Berlin 2002, vgl. die Rezension von Andreas Malycha in: H-Soz-u-Kult, 23.07.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-061>; Simone Barck / Siegfried Lokatis (Hrsg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, Berlin 2003; Simone Barck / Siegfried Lokatis, Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR, Halle an der Saale 2008. Das neue Buch ist der langjährigen Mitverfasserin und -herausgeberin Simone Barck gewidmet, die am 17. Juli 2007 gestorben ist.
2 Merkwürdigerweise fehlt: Beate Müller, Stasi – Zensur – Machtdiskurse. Publikationsgeschichte und Materialien zu Jurek Beckers Werk, Tübingen 2006.
3 Vgl. Tagungsbericht Der heimliche Leser in der DDR. 26.09.2007-28.09.2007, Leipzig. In: H-Soz-u-Kult, 14.11.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1747>.
4 Harold Hurwitz, Der heimliche Leser. Zur Soziologie des geistigen Widerstandes, Köln 1966.
5 Mark Lehmstedt / Siegfried Lokatis (Hrsg.), Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden 1997.
6 Simone Barck u.a. (Hrsg.), Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“. Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999.
7 Monika Estermann / Edgar Lersch (Hrsg.), Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren, Wiesbaden 2006; vgl. die Rezension von Gerd Dietrich in: H-Soz-u-Kult, 26.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-065>.

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