Der heimliche Leser in der DDR

Der heimliche Leser in der DDR

Organisatoren
Buchwissenschaft der Leipziger Universität; Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Leipziger Arbeitskreis zur Geschichte des Buchwesens
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2007 - 28.09.2007
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Von
Berthold Petzinna, Berlin

In seiner Begrüßung erinnerte der Ausrichter der Tagung, SIEGFRIED LOKATIS, zunächst an die verstorbene Mitorganisatorin Simone Barck. Anschließend führte er in das Thema „Heimliches Lesen“ ein, dass in der DDR ein verbreitetes Phänomen gewesen sei. Die Zensur habe eine „unsichtbare geistige Grenze“ aufgerichtet, zugleich jedoch eine „systemtypische Gier“ nach dem verbotenen Gedruckten geweckt. Lokatis verwies auf den wandelbaren Charakter der Zensur und auf die vielfältigen Milieus des „heimlichen Lesens“. Im Fall der DDR bestehe die Chance einer zeitnahen Forschung, die einer allgemeinen „Zensurwirkungsforschung“ den Weg weisen könnte.

In einem Eröffnunsvortrag stellte MICHAEL MEYEN (München) das Thema „Öffentlichkeit(en) und heimliche Mediennutzung in der DDR“ vor. Ausgehend von einer Problematisierung des Öffentlichkeitsbegriffs hinsichtlich der DDR gelangte Meyen zu eigenen „Thesen zu Heimlichkeit“. Während technische Behinderungen des Empfangs von Westmedien oft fehl geschlagen seien, habe das Schwergewicht der Maßnahmen gegen unerwünschte Medien auf moralischem Druck gelegen. Mit der Zeit sei dieser Druck jedoch zurückgegangen, sodass selbst an öffentlichen Orten die Präsenz von Westmedien akzeptabel wurde. Auf Grund von Befragungen ehemaliger DDR-Bürgern stellte Meyen heraus, dass das Interesse an westlichen Druckerzeugnissen hauptsächlich bei trivialen Erzeugnissen lag; Belletristik-Interessierte bildeten eine Minderheit. In einer Typologie der Mediennutzer in der DDR unterschied der Referent Zufriedene, Distanzierte, Überzeugte und Engagierte von Frustrierten und Souveränen. Den beiden letzten Gruppen wurde eine Westmedienorientierung attestiert, wobei die Gruppe der Souveränen jedoch gleichermaßen Ostmedien nutzte. Meyen unterstrich, dass die Nutzung von Westliteratur im engeren Sinne ein Elitenphänomen gewesen sei.

JÖRN MICHAEL GOLL (Leipzig) widmete sich dem Thema „Zoll als Zensur-Praxis“. Absicht der Zollverwaltung der DDR sei die Kontrolle, nicht die Steuerung von Waren gewesen. Weite Befugnisse und enge MfS-Kontakte ließen DDR-Zöllner jedoch auch zu „kontrollierte(n) Kontrolleure(n)“ werden. Grenzzoll- und Postzollämter wurden Zensurstellen mit ausgeklügelten Kontrollpraktiken. Zu jeder Zeit verboten blieben so genannte „Hetzliteratur“, damit waren politische Literatur, Druckschriften von Landsmannschaften und religiösen Gruppen gemeint. Seit den 1960er-Jahren erarbeiteten Literaturkommissionen Vorgaben für die Kontrolle. Die Postzollämter bildeten den Schwerpunkt der Literaturausbeute des Zolls. Das dortige intensive Kontrollverfahren wurde von speziellem Personal durchgeführt. Dennoch fanden sich auch unter den Zöllnern „heimliche Leser“. Die Überwachung der Transitstrecken vervollständigte das Kontrollsystem.

Gleichfalls der Kontrollpraxis galt der Beitrag von GERD REINICKE (Gehmkendorf) unter dem Titel „Mitlesen für den Klassenkampf oder die Stasi als heimlicher Leser“. Der Referent hatte von 1975 bis zu seiner Kündigung 1985 dem MfS angehört. Reinicke schilderte die Funktionsabläufe im MfS bei Postzollämtern. Trotz der Leistungsnormen wurden nur drei bis fünf Prozent der Postsendungen kontrolliert. Konfisziert wurden Prospekte und so genannter „Schmutz und Schund“.

BERND LIPPMANN (Berlin) sprach über „Die Verwaltung illegaler Literatur durch die Stasi: Methoden und Kriterien“. Im Zentrum seines Vortrags stand die Bedeutung der Tätigkeit der Abteilungen XX/7 und IX/2 des MfS. Erstere war primär zuständig für die Literaturkontrolle. Für DDR-Bürger strafrechtlich relevant war die Arbeit der Abteilung IX/2. Sie befasste sich mit der Bewertung fraglicher Druckerzeugnisse. Auch dieser Beitrag vermittelte den Eindruck eines hohen Maßes an Deutungswillkür des MfS.

Auf der Basis von Zeitzeugeninterviews bot anschließend der von TINA STEPAN, ANIKA HEINTZE und GERALDINE VON GOGSWAARDT (Leipzig) realisierte Film „Gift für die Republik“ einen Einblick in die Verbreitung unterdrückter Literatur. In dem Film berichten neben dem Verleger Elmar Faber verschiedene Gewährsleute über den begrenzten Zugang zu Fachliteratur und zur Deutschen Bibliothek, über Schmuggelpraktiken und den Bücherklau auf der Messe. Letzterem wandte sich auch PATRICIA ZECKERT (Leipzig) in ihrem Beitrag „Aufgelöst in Wohlgefallen. Bücherklau bei Westverlagen auf der Leipziger Buchmesse“ zu. Wenngleich westdeutsche Literatur vor ihrer Zulassung zur Messe Kontrollen passieren musste, blieb die Buchmesse ein „Ausnahmeereignis“ für DDR-Leser. Ausführlich beschrieb die Referentin Manöver und Gegenmanöver von Besuchern und Kontrolleuren. Teils wurden Texte aus Büchern abgeschrieben oder eben ganze Bücher geklaut. Falls gefasst, drohte den Bücher-Dieben Polizeiverhöre, Ordnungsstrafen und Stasi-Ermittlungen. Dass die Buchmesse nicht einfach für die Öffentlichkeit abgesperrt wurde, wertete Zeckert als „informatorisches Zugeständnis“.

Die anschließende Podiumsdiskussion mit HELGARD ROST (Leipzig), FRITZ MIERAU (Berlin) und ROLAND LINKS (Leipzig) thematisierte die „Spielräume Leipziger Büchermacher“. Mierau verwies auf Möglichkeiten, die sich aus der Austarierung eines Programms für die Produktion bestimmter Autoren ergaben. Links legte den Schwerpunkt seiner Argumentation auf die Bedeutung persönlicher Beziehungen und den informellen Bereich der DDR-Kulturpolitik. Daran, dass die materiellen Verhältnisse die Buchproduktion in der DDR ebenfalls beeinflussten, erinnerte Rost.

Am zweiten Tagungstag galt der erste Themenblock der Verbreitung unerwünschter Literatur während des Kalten Krieges. HAROLD HURWITZ (Berlin) berichtete aus eigenem Miterleben über „Die heimlichen Leser des 'Monat'“. Hurwitz schilderte das Netzwerk von Organisationen, die den „Monat“ an den SBZ/DDR-Leser bringen sollten. So unterhielt die „Vereinigung für kulturelle Hilfe“ grenznahe Lesesäle am Potsdamer Platz. Das an der Freien Universität in Dahlem angesiedelte „Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen“ übernahm die Betreuung von „Monat“-Verteilern im Osten. Es wurden Ost-West-Netzwerke geschaffen, deren Mitglieder nicht selten von Verhaftungen bedroht waren. Innerhalb der Netzwerke war die Zusammenarbeit aber auch nicht immer unproblematisch. Beispielsweise wurde die Kooperation mit der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) im Nachhinein kritisiert. ENRICO HEITZER (Potsdam) hob die Bedeutung der KgU für die „heimlichen Leser“ in der frühen DDR jedoch hervor. Die KgU sei zum einen propagandistisch hervorgetreten und habe zum anderen in der DDR nachrichtendienstlich gearbeitet und Sabotage betrieben. Mehrheitlich handelte es sich bei den Druckschriften um Agitationsmaterial. In KgU-Bücherstuben in West-Berlin gab es eigens für den Schmuggel angefertigte Dünndruckausgaben. Wegen zahlreicher Verhaftungen ging die Gruppe ab 1952 zum Einsatz von Ballons für die Verbreitung ihrer Schriften über.

Unter dem Titel „Ein Phänomen wird entlarvt. Westdeutsche SBZ-Schriften und ihre Leser“ beleuchtete KLAUS KÖRNER (Hamburg) einen Aspekt bundesdeutscher literarischer Einflussnahme. Aus der westlichen Sicht wurde die DDR als ein „im Prinzip unterversorgter, abgeschotteter Meinungsmarkt“ auf den relativ einfach Einfluss genommen werden konnte, gewertet. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Materialien standen zwei Linien in Konkurrenz. Eine erste, so genannte „Berliner Linie“ setzte auf eine relativ sachliche, deutlich antistalinistische Textgestaltung. Eine zweite Linie verfolgte eine antirussische Orientierung und knüpfte dabei an tradierte, auch nationalsozialistische Topoi an. Der „Berliner Linie“ verpflichtet, wurde der Witsch-Verlag in Köln zum Zentrum der Schriftenproduktion. Insgesamt vertrieben rund 50 Organisationen diese Druckerzeugnisse. Sie wurden in dreierlei Form in die DDR eingeführt; entweder offen und ungetarnt oder mit verschleierter Herkunft oder aber im Gewand eines unbedenklichen Produkts.

Einen Erinnerungsbericht mit dem Titel „Verführt durch Schmutz und Schund: Mein Orwell“ bot BALDUR HAASE (Jena). Haase war als junger Offset-Drucker 1957von der Stasi beobachtet worden, als er mit einem westdeutschen Verlag in Briefkontakt trat. Der Literaturaustausch mit einem westdeutschen Brieffreund spielte dem ihm unter anderem das Buch „1984“ von George Orwell in die Hände. Haase korrespondierte darüber und verlieh Orwells Schrift an Bekannte. Daraufhin wurde er 1959 verhaftet und wegen staatsgefährdender Hetze blieb er drei Jahre in Haft.

HANS-GEORG SOLDAT (Berlin) arbeitete als Literatur-Redakteur beim RIAS in West-Berlin und referierte „Zur Rolle von Westpresse und Rundfunk“. Er berichtete, dass DDR-Autoren im RIAS-Literaturprogramm stark vertreten waren. In der DDR unzugängliche Bücher wurden in den RIAS-Besprechungen ausgiebig zitiert, um auf diese Weise die Literatursperre zu unterlaufen. Ein Indiz für die Wirkung dieser Vorgehensweise lieferte die Vorstellung einer DDR-Ausgabe einer sowjetischen Anthologie. Kurz nach der RIAS-Sendung avancierte das Buch vom Ladenhüter zur Bückware. Insgesamt sank jedoch der Stellenwert des Radios. In der Diskussion betonte Klaus Körner, dass seit den 1950er-Jahren eine Privatisierung der Dissidenz in der DDR eingesetzt habe, die erst mit den 1980er-Jahren durch den Aufbau von Organisationen abgelöst worden sei.

Konfessionelle Lesergemeinschaften standen im Blickpunkt der anschließenden Vortragsfolge. HEDWIG RICHTER (Berlin) berichtete über „Die frommen Schmuggler“ und die Probleme beim Transfer religiöser Literatur in die DDR. Auch in diesem Bereich erwies sich die Kontrollpraxis als konfus, da die Regelungen schwammig waren. Kirchenliteratur wurde zwar beargwöhnt, die Einfuhrerlaubnis jedoch aus Imagegründen gewährt. Die Behörden konfiszierten jedoch auch in diesem Bereich, worauf die Kirchenreaktion nur verhalten reagierte. An Rechtsklarheit bestand seitens des Staates kein Interesse. In den Beschlagnahmungen wurde vielmehr ein Instrument zur Abstrafung unliebsamer Theologen gesehen. Richter kritisierte das das lavierende Verhalten der Kirchen, dass dazu beigetragen hatte, das „Scheinbild“, „das die DDR von sich selbst entwickelt hatte“ zu bestätigen. Den Zeugen Jehovas galt der Beitrag von HANS-HERMANN DIRKSEN (Bad Camberg): „Warum hat die Stasi den 'Wachtturm' gelesen?“ Die Zeugen Jehovas waren in der DDR besonders intensiv verfolgt und ihre Zeitschrift „Wachtturm“ wurde vom MfS als gefährlich eingestuft. Insgesamt wurden rund 6.000 Zeugen Jehovas in der DDR verhaftet. Die Gruppierung an sich konnte trotzdem nicht zerschlagen werden. Wiederum aus eigenem Erleben berichtete PETER SCHICKETANZ (Garbsen) aus der Evangelische Kirche in der DDR: „'Nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch'. Ein Rückblick auf dienstliches und privates heimliches Lesen“. Schicketanz betonte die Bedeutung des Literaturimports aus dem Westen für die Ausbildung von Theologen in der DDR. Durch innerkirchliche Vervielfältigung von Schriften „nur für den Dienstgebrauch“, suchte man die Genehmigungspflicht zu unterlaufen. Wurde kirchliche Literatur in den 1950er-Jahren in West-Berlin noch einfach an West- und Ost-Mitarbeiter ausgegeben, musste nach dem Mauerbau die Mehrzahl der Schriften über den Postweg vertrieben werden. Ein Podiumsgespräch zu diesem Themenkreis führte mit SIEGFRIED BRÄUER (Berlin), WOLFGANG HINTZ (Münster) und KONRAD VON RABENAU (Berlin) drei Kirchenvertreter zusammen, die ihre Erfahrungen über die Problematik kirchlicher Literatur in der DDR austauschten. Die Uneinheitlichkeit der DDR-Zensurpraxis bestätigte sich erneut. Hinsichtlich des Begutachtungswesens betonte Bräuer für das Evangelische Verlagswerk, dass anonyme Gutachter bzw. nicht staatliche Stellen, die größten Probleme bereitet hätten.

In der Vortragsreihe „Arbeit am 'Giftschrank'“ wurde die Sekretierungspraxis in öffentlichen Bibliotheken der DDR beleuchtet. RAIMUND WALIGORA (Berlin) erläuterte in „Der 'Giftschrank' der Stabi“ die Entwicklung in der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin. Aufgrund eines Kontrollratsbefehls war diese Einrichtung 1946 zunächst für die Verwahrung von NS-Schriftgut bestimmt worden. In der Ausweitung der zu sekretierenden Titel nach stalinistischen Kriterien erblickte Waligora die „Ursünde“ des wissenschaftlichen Bibliothekswesens der DDR. Von 1946 bis 1989 gerieten rund 10.000 Bände in den „Giftschrank“ der Staatsbibliothek, was 0,2 Prozent des Buchbestandes entsprach. Auch hier öffneten die vagen Regelungen Spielräume für den Zugang.

ROLAND BÄRWINKEL (Weimar) berichtete über „Lesen nur mit Genehmigung. Benutzungsbeschränkung in der Weimarer Bibliothek von 1970 bis 1990“. Auch dort waren die Regelungen nur vage formuliert und führte zur Rechtsunsicherheit der Bibliothekare. Diese hatte zur Folge, dass die Zugangsbeschränkungen in wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR unterschiedlich gehandhabt wurden. Für die Weimarer Praxis folgte daraus beispielsweise, dass Westpublikationen zur Arbeiterbewegung nur eingeschränkt zugänglich waren. Ausgeweitet auf die Archive referierte CLAUDIA LEONORE TAESCHNER (Leipzig) über „Nutzungsbeschränkungen in Bibliotheken und Archiven“ der DDR. Taeschner gab einen Überblick über die „Säuberung" der Buchbestände an der Universität nach 1945. In der Praxis reichte jedoch oft die Unterschrift eines Professors, um den Studierenden den Zugang zu den Büchern zu ermöglichen. Trotzdem standen die Bibliotheksmitarbeiter unter Druck, was wiederum Verunsicherungen und Willkür zur Folge hatte. Gleichwohl waren auch die Bibliotheksangestellten gelegentlich als „heimliche Leser“ anzusehen. Der Ausblick auf das Archivwesen der DDR ergab ein einheitlicheres Bild: Archivpraxis war weithin Verhinderungspraxis. Restriktive Regelungen galten seit den 1970er-Jahren speziell für Bundesbürger, kompetente Beratung der Nutzer wurde gezielt verhindert, Findbücher wurden selbst Mitarbeitern vorenthalten. In einer Abendveranstaltung berichteten SIEGMAR FAUST und RAINER ECKERT (Leipzig) über ihre Erfahrungen mit verbotener Literatur und der Verfolgungspraxis in der DDR. Auch Faust betonte die Ermessensspielräume des Bibliothekspersonals. Eckert formulierte dagegen die These, dass man sich an Literatur vieles beschaffen konnte und listete Möglichkeiten auf: Postweg aus dem Westen, Schmuggel aus dem sozialistischen Ausland, Transport durch Westbesucher und Geschenke von Freunden.

Der dritte Tagungstag wurde mit einer Vortragsfolge zu Politischen Lesergemeinschaften in der DDR fortgesetzt. Eingangs referierte ANDREA GENEST (Potsdam) über „Der 'zweite Umlauf': Samisdat DDR und Polen“. Samisdat-Publikationen nahmen insgesamt seit den 1970er-Jahren zu. In Polen brachte der Arbeiterwiderstand 1976 Samisdat-Nachrichten hervor und ein eigenes Verlagswesen entstand. Diese Strukturen überdauerten das Kriegsrecht, zugleich existierte ein paralleler Samisdat weiter. Der Samisdat in der DDR wurde nur allgemein vom polnischen motiviert. Die ab Mitte der 1980er-Jahre zahlreicher erschienen Produktionen orientierten sich eher an der Bundesrepublik. Abschließend stellte Genest fest, dass eine Sozialgeschichte des Samisdat bislang sowohl für Polen als auch für die DDR fehlt. Deutschen Spuren im polnischen Samisdat ging MAREK RAJCH (Poznan) in „Ohne Zensur: Zur Funktion deutscher Literatur im polnischen Samisdat“ nach. Es ergab sich eine etwa gleich gewichtige Rezeption deutscher und britischer Druckerzeugnisse. Dabei war das Thema „Flucht und Vertreibung“ ebenso vertreten wie ein Buch über den 17. Juni 1953. Vor dem Hintergrund der Biermann-Ausbürgerung kamen Interviews mit deutschen Intellektuellen hinzu. Insgesamt wurde die politische Bewegung in der DDR einbezogen. Eine politisch-kommunikative Funktion nicht allein des Samisdat untersuchte THOMAS KLEIN (Potsdam) mit seinem Beitrag „Auf dem Weg zur Gegen-Öffentlichkeit“. Klein unterschied zwischen „heimlichem Lesen“ und dem Versuch, eine Gegen-Öffentlichkeit zu bilden. Eine solche sei als Reaktion auf die Zensur in der DDR entstanden. Gegenüber der „Kulturopposition“ in den 1970er-Jahren entstand in den 1980er-Jahren eine Politisierung des Gruppenspektrums mit dem ausdrücklichen Ziel vor, eine Gegen-Öffentlichkeit zu errichten.

Das Portrait eines politisch motivierten Lesezirkels im Ostteil Berlins entwarf als ehemaliger Teilnehmer desselben HANS MISSELWITZ (Berlin): „'Nachholen ohne Einzuholen?' - Erinnerungen an eine politisch-philosophische Lesergemeinschaft Ende der 70er Jahre“. Misselwitz skizzierte die Auseinandersetzung der Gruppe mit politischen Texten und ihr Selbstverständnis als Gegenöffentlichkeit. Der Akademikerkreis traf sich bis 1981 und war Ziel einer intensiven MfS-Beobachtung. Neben dem Einsatz von Informanten wurde eine Abhöraktion durchgeführt. Unter anderem wurde dort auch Rudolf Bahros Buch „Die Alternative“ gelesen, das als Kopie vorlag. Der Wirkung dieses Buches galt der Beitrag von GUNTOLF HERZBERG (Berlin) zu „Lektüren und Rezeption von Rudolf Bahro“. Herzberg rekonstruierte den Verbreitungsweg der „Alternative“. Bereits bevor das Typoskript einen Westleser fand, gehörte es zur Lektüre von MfS-Offizieren. Während Bahros Schrift weiter verbreitet wurde, waren in der DDR verschiedene Gutachten zur Vorbereitung eines Prozesses in Arbeit. Von den 70 als potentielle Reformer angesehen Adressaten hektographierter Exemplare in der DDR wandten sich die meisten an staatliche Stellen. In der DDR entfaltete die „Alternative“ nur beschränkte Wirkung. Einem parallelen Thema widmete sich BERND FLORATH (Berlin) „Zur Verbreitung und Rezeption von Robert Havemanns Schriften“. Havemanns Vorlesungsskripte wurden vor allem dadurch verbreitet, dass sie abgeschrieben wurden. Zudem sorgte er dafür, dass seine Schriften in gut zu schmuggelnden Westausgaben erschienen. Auch auf die multimediale Verbreitung seiner Texte legte der Systemkritiker großes Gewicht, da er sich davon eine breite Wirkungschance erhoffte.

KLAUS MICHAEL (Dresden) referierte zu „Auf der Suche nach dem Untergrund. Künstlerisch-literarischer Samisdat“. Michaels Interesse galt den Zielen inoffizieller Literaturzeitschriften und den Erwartungen ihrer Leser. Ausgehend von der Bemerkung Franz Fühmanns über fehlende Öffentlichkeit als Problem der DDR stellte der Michael Überlegungen zur Entwicklung des Begriffs literarischer Öffentlichkeit in der DDR auf. Im Zeitschriften-Samisdat unterschied er drei Phasen: Den kursierenden Typoskripten der 1960er- und 1970er-Jahre schloss sich eine Quasi-Professionalisierung in Form von Periodizität des Erscheinens und der Titelgebung an, der schließlich eine Spezialisierung auf bestimmte Genres folgte (zum Beispiel Essay oder Lyrik). Hinsichtlich einzelner Funktionen der Zeitschriften verwies Michael auf deren Rollen als Medien sozialer Kommunikation, künstlerischer Gruppierung, als Freiraum zur Diskussion ästhetischer Trends und Entwürfe sowie zur Bildung von Gegenöffentlichkeit. Die Zeitschriften wurden auf diese Weise Träger einer zweiten literarischen Öffentlichkeit. In der anschließenden Diskussion stand die Problematik des Begriffs „Öffentlichkeit“ für die Betrachtung der DDR im Vordergrund.

Auf eine noch nicht nachweisbare, jedoch wahrscheinliche Wirkung der Westlektüre auf einen DDR-Autor verwies THOMAS KRAMER (Berlin) in seinem Vortrag „Vom heimlichen Lesen und Schreiben Heiner Müllers in der DDR“. Berührungspunkte zwischen Müller und dem westdeutschen Schriftsteller Heinz Konsalik leiteten über zu einem Motivvergleich. Konsaliks „Der Arzt von Stalingrad“ und Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ wurden auf die Übernahme von Szenen durch Müller befragt. Motivähnlichkeiten erbrachte auch der Vergleich einer Episode aus Guareschis „Don Camillo und Peppone“ mit Müllers Stück „Die Umsiedlerin“. Einen anderen Einflussstrang untersuchte CORDULA GÜNTHER (Leipzig) mit „Verborgene Lektüre. Heftroman-Leser in den neuen Bundesländern nach 1990“. Heftromane waren in der DDR als „Schmutz und Schund“ deklassiert und wurden trotzdem heimlich gelesen. Rentner taten sich als engagierte Schmuggler hervor und wirkten als „Multiplikatoren“. Als wesentliche Attraktion der Hefte erwies sich die Anknüpfungsmöglichkeit an Erfahrungen aus der Zeit vor der DDR. Abschließend qualifizierte Günther die Heftlektüre als widerständiges Phänomen im Sinne der Wertung der Populärkultur im Rahmen der Cultural Studies.

Die vielfältige und interessante Tagung endete mit einem Podiumsgespräch zwischen SIEGFRIED LOKATIS, KARLHEINZ STEINMÜLLER (Berlin) und EGBERT PIETSCH über „Utopische und antiutopische Literatur“ sowie „Vom Schallplattenschmuggeln“. Die Seltenheit von SF-Literatur in der DDR bewirkte eine deutliche Wertsteigerung der Exemplare dieses Genres. Es entstanden Tauschzirkel und eine regelrechte Szene.


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