M. Estermann u.a. (Hrsg.): Deutsch-deutscher Literaturaustausch

Cover
Titel
Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren.


Herausgeber
Estermann, Monika; Lersch, Edgar
Reihe
Mediengeschichtliche Veröffentlichungen
Erschienen
Wiesbaden-Erbenheim 2007: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
186 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der inhaltsreiche Sammelband ging aus einer Tagung im Frühjahr 2004 im Deutschen Literaturarchiv Marbach hervor. Sein Anliegen ist es, den besonderen Anteil des Rundfunks am deutsch-deutschen Literaturtransfer herauszustellen. In zehn Beiträgen und einem Gespräch kommen – erfreulicherweise „paritätisch“ – ost- und westdeutsche Autoren mit ihren Erfahrungen und Bemühungen, Kenntnissen und Forschungsergebnissen zu Wort. Zeitzeugen, Mitwirkende und Wissenschaftler stehen nicht im Widerstreit, sondern ergänzen sich vorteilhaft. Folgen wir der Reihenfolge der Beiträge:

Karl Corino widmet sich in „Transit in beiden Richtungen“ dem Hörfunkmagazin Transit, das der Hessische Rundfunk vom Mai 1973 bis zum Dezember 1990 sendete und dessen Redakteur er war. Als einzige Reihe dieser Art im Hörfunk der ARD erreichte die einstündige Sendung rund 225 Ausgaben. Corino berichtet von der Vorstellung kritischer und subversiver Literatur aus der DDR, mit der er schnell in „ein kulturpolitisches Minenfeld geraten war“ (S. 10), insbesondere von Reiner Kunzes Wunderbaren Jahren, dem Gedichtband Wolfgang Hilbigs abwesenheit und Gert Neumanns Prosaband Die Schuld der Worte. Eine umfangreiche Liste von Autoren schließt sich an. Vor allem für junge Autoren wurde Transit im Lauf der Jahre zu einer festen Adresse.

Elmar Faber schildert in „Über die Unbilden und Glücksmomente deutsch-deutscher Zusammenarbeit“ die Anstrengungen des Aufbau-Verlags, in der DDR westdeutsche Literatur zu verlegen. Zwar waren die Möglichkeiten im Osten kleiner, doch von „provinzieller Enge“, wie sie der DDR-Rezeption von westdeutscher Literatur mitunter vorgeworfen wird, kann er „nur wenig erkennen“, weil er „bedenken will, unter welch anstrengenden strukturellen, materiellen und finanziellen Bedingungen dies zustande kam“ (S. 30). Leider hat er sein „abendfüllendes Material“ nicht ausgebreitet, das die „Einwände, Korrekturen und Vorschläge“ umfasst, die auch westdeutsche Lektoren gegenüber ostdeutschen Autoren machten. „Hätten wir uns aus ostdeutschen Verlagsstuben mit denselben, genau denselben Kritiken gemeldet, wären wir schnell als Wächter einer verbohrten Politik und Ideologie charakterisiert worden.“ (S. 32)

Werner Liersch geht in „Erkundung der Erkundungen“ vor allem auf den von ihm im Jahr 1964 herausgegebenen Band Erkundungen. 19 westdeutsche Erzähler ein, die erste westdeutsche Erzähleranthologie in der DDR. Sie gab dann auch der Reihe des Verlags Volk und Welt den Namen. Er vergleicht den Band mit analogen Anthologien in der Bundesrepublik zu ostdeutschen Erzählern von 1965 und 1967. Und er spricht von den Mühen, Problemen und Widrigkeiten, nach dem Mauerbau einen Band mit westdeutschen Erzählern in der DDR durchzusetzen, der dann immerhin in einer Auflage von 5.000 Exemplaren zum Preis von 5,80 (Ost-) Mark erschien, „Bückware“ sozusagen.

Siegfried Lokatis hat die Arbeit des Germanistik-Lektorats von Volk und Welt erforscht. In „’DDR-Literatur’ aus der Schweiz, aus Österreich und der Bundesrepublik“ beschreibt er die umfangreiche, zielstrebige und auch verschlagene Editionspolitik, Literatur aus der Schweiz, aus Österreich und aus der Bundesrepublik in der DDR herauszugeben. Aufschlussreich schildert er die Bestrebungen wie die Lerneffekte der ostdeutschen Lektoren, lange Zeit tabuisierte Autoren wie Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt, Robert Musil oder Siegmund Freud, Gottfried Benn oder Günter Grass gegen die Zensur durchzubringen. „Was für seltsame Schauspiele bietet der deutsch-deutsche Literaturkonflikt, er erweist sich als Billardspiel über Ecke und Bande!“ (S. 69)

Manfred Jäger kennzeichnet in der von ihm bekannten Weise die „Kulturpolitik der DDR während der 70er Jahre“. Er stellt diese 1970er-Jahre als ein bewegtes Jahrzehnt dar. Kurz gesagt und auf einen Satz gebracht: „Die erste Hälfte des Dezenniums aktivierte bei Intellektuellen, Literaten und Künstlern neue Hoffnungen, in der zweiten Hälfte führte die Enttäuschung darüber, dass man sich wieder einmal falschen optimistischen Vorstellungen hingegeben hatte, gleichsam auf höherer Enttäuschungsstufe, zu Rebellion und Aussteigermentalität.“ (S. 71)

Alfried Nehring spricht aus eigenen Erfahrungen und Erinnerungen „Zum Umgang mit westdeutscher Gegenwartsliteratur im Fernsehen der DDR“. An drei Fallstudien: der Verfilmung des Romans von Max von der Grün Irrlicht und Feuer 1966, dem Steckbrief eines Unerwünschten von Günter Wallraff 1975, basierend auf seinen Reportagen Ihr da oben, wir da unten, und des erfolgreichen Fernsehfilms Fleur Lafontaine von 1978 nach dem Buch von Dinah Nelken beschreibt er deutsch-deutsche Literaturbeziehungen. Allerdings irrt er darin, dass Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss nicht in der DDR erscheinen durfte. Es erschien in einer limitierten Auflage 1983 im Henschel-Verlag.

Hans-Georg Soldat berichtet von seiner Zeit als Literaturredakteur beim RIAS: „’Für uns, die wir noch hoffen…’ Literatur zwischen West und Ost – Fragmente einer unglaublichen Geschichte“. Er umreißt vier Hauptfelder der Literatursendungen des RIAS: Erstens waren sie stellvertretendes Forum für Themen, die in der DDR nicht diskutiert werden konnten; zweitens stand weniger das Reden über Bücher oder Gedichtbände, sondern das Lesen daraus im Vordergrund; drittens wurden zunehmend Bücher von Autoren vorgestellt, die in der DDR lebten, aber dort nicht veröffentlichen durften; viertens ging man auf die aktuellen literatur- und kulturpolitischen Debatten in Ost und West ein. Soldat benennt nicht nur die Überlegungen und Skrupel seinerseits hinsichtlich der möglichen Gefährdung von Autoren, sondern auch die Schwierigkeit, „Balance zu halten zwischen Pflicht zur Information über einen neuen Zensurversuch und der Tatsache, dass der zugrunde liegende Text tatsächlich keine große literarische Bedeutung hatte“ (S. 119).

Andrea Jäger analysiert Ausbürgerungen und Übersiedlungen von Schriftstellern in den 1970er-Jahren: „In einer Fremde die meine Sprache spricht“. Auf der Grundlage des von ihr 1995 herausgegebenen Autorenlexikons erörtert sie die zwei Ausreisewellen der 1970er-Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 sowie nach den zunehmenden öffentlichen Angriffen und den Ausschlüssen aus dem Berliner Schriftstellerverband 1979. Sie beschreibt sowohl die unterschiedlichen Haltungen der ausgereisten Schriftsteller gegenüber Bundesrepublik und DDR bzw. Nation und Sozialismus, als auch die durchaus gemischten Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Zuwanderer und deren Platz im literarischen Leben der Bundesrepublik.

Dietrich Löffler stellt in „Die Kulturpolitik der SED-Führung und der Literaturtransfer in die Bundesrepublik“ all die Maßnahmen dar, die die SED erfand, um das freie Veröffentlichen im Westen zu verhindern. Er geht auf die Differenz zwischen anerkannten und nicht etablierten Autoren ein. Während gegen erstere nicht eingeschritten wurde, waren letztere der Willkür der Strafbehörden ausgeliefert. Zugleich vertieften die Publikationen ostdeutscher Autoren im Westen die Differenzierung unter den DDR-Schriftstellern. „Resümierend kann man sagen, dass die verschärften strafrechtlichen Maßnahmen von 1979 zur Unterbindung der Westkontakte gegenüber anerkannten Autoren nur angekündigt blieben und nicht eingesetzt wurden.“ (S. 153)

Den Abschluss des Bandes bildet ein Gespräch Reinhold Viehoffs mit Fritz Pleitgen, der 1977-1982 Leiter des ARD-Büros in Ost-Berlin war, sein viel sagender Titel „Das könnte Ost-Berlin so passen, wenn wir die Segel streichen. Wir senden bis zum Geht-nicht-mehr!“

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