Titel der Ausgabe 
ÖZG 3/2002
Weiterer Titel 
Zeit->Geschichte

Erschienen
Erscheint 
vier Bände pro Jahr
Anzahl Seiten
155 S.
Preis
15,- €

 

Kontakt

Institution
Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften/Austrian Journal of Historical Studies (OeZG)
Land
Austria
c/o
Redaktionsanschrift: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Universität Wien Universitätsring 1 A-1010 Wien oezg.journal@univie.ac.at
Von
Eder, Franz X.

Neues Heft der ÖZG zum Thema "Zeit->Geschichte"

Inhaltsverzeichnis

Zeit->Geschichte

Gerhard Grössing
Warum etwas wird. Zur Selbstorganisation rekursiver Erprobungen im Möglichkeitsraum, ÖZG 13/2002/3, 9-49.

Karl H. Müller
Die Pfeile der geschichtlichen Zeit, ÖZG 13/2002/3, 50-83.

Albert Müller
Smoking / No smoking - Ereignis im Zeitverlauf, ÖZG 13/2002/3, 84-109.

Helmut Kramer
Wie Neues doch entstanden ist. Zur Gründung und zu den ersten Jahren des Instituts für Höhere Studien in Wien, ÖZG 13/2002/3, 110-132.

Gespräch

Georg G. Iggers / Albert Müller
... oder wir entwickeln uns weiter, ÖZG 13/2002/3, 135-144.

Forum

Florian Mildenberger
Überlegungen zu Jakob von Uexküll (1864-1944). Vorläufiger Forschungsbericht, ÖZG 13/2002/3, 145-149.

Mario Wimmer
Archive, Akten, Zettelkästen, ÖZG 13/2002/3, 150-154.

Editorial, ÖZG 13/2002/3

Zeit à Geschichte

Zu den Standard-Argumenten der Verteidigung der Geschichtswissenschaft - vor allem im Kontext einer French interpretation of history - gehörte unter anderem, dass sie zwar in vielen Punkten nicht von anderen Sozial- und Humanwissenschaften zu unterscheiden sei, dass sie sich aber als einzige dieses Clusters von wissenschaftlichen Disziplinen um Probleme der Zeit kümmere. In einer Ära, in der jede Disziplin genötigt wird, eine unique selling position zu behaupten und zu verteidigen, scheint dies zunächst unmittelbar einsichtig. Tatsächlich scheint die Geschichtswissenschaft die Kategorie Zeit - vielleicht mit Ausnahme des Spezialfalles der Chronologie - nicht allzu sehr zu beachten. Wer etwa das von André Burguière herausgegebene Dictionnaire de science historique aufschlägt, findet dort überraschenderweise keinen Eintrag zum Begriff Temps, in dem von Michel Serres und Nayla Farouki herausgegebenen Thesaurus der exakten Wissenschaften wird dagegen die Leserin, der Leser ausführlich informiert. Dieses kleine Beispiel ließe sich durch viele weitere ergänzen und bildet lediglich einen Hinweis darauf, dass die Diskussion auf der Seite der Naturwissenschaften sehr viel intensiver als unter Historiker/inne/n geführt wird.

Die ÖZG versucht, diesem Defizit mit einer mehrmaligen Thematisierung von Zeit zu begegnen. Schon 1999 erschien ein Themenheft, das sich mit Ereignis, Zeitmessung und apokalyptischen Zeitvorstellungen beschäftigte: Das Jahr 2000 findet nicht statt (1999/3). In etwa zwei Jahren werden zyklische Zeitkonzepte zum Thema gemacht werden. In diesem Heft nun steht die gerichtete Zeit, der Zeitpfeil, die Irreversibilität von Zeit in Kontexten wie Entropie und Selbstorganisation im Vordergrund. Die Überschrift Zeit -> Geschichte bringt dies zeichenhaft zum Ausdruck. Fragen der gerichteten Zeit spielten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine Hauptrolle und beschäftigen auch in diesem Jahrhundert eine große Zahl von Forscher/inne/n. Mit Albert Einsteins Relativitätstheorie, die Newtons Mechanik, in welcher Zeit eine umkehrbare Größe gewesen war, einer fundamentalen Revision unterzog und zum Begriff der Raumzeit führte, geriet die Zeit ins Zentrum der Diskussion.

Die Irreversibilität von Zeit, und - damit eng verbunden - die Beschäftigung mit Entropie wurde auch zu einem Hauptthema in der formalen Informations- und Kommunikationstheorie Claude E. Shannons, die weithin rezipiert wurde. In der nächsten wissenschaftlichen Verwandtschaft, bei jener Gruppe, die die Kybernetik erfand, spielte Zeit ebenfalls eine ganz bemerkenswerte Rolle: Schon in Norbert Wieners Kybernetik finden wir ein Kapitel über den Bergsonschen Zeitbegriff, und Theoretiker wie W. Ross Ashby oder Heinz von Foerster bauten Entropie an zentralen Stellen ihres Werks als Argument ein. Weitere - in vielem interdependente - Bereiche wie Selbstorganisationsforschung und wesentliche Teile der neueren Systemtheorie widmen der Kategorie Zeit viel Beachtung.

Gerhard Grössing eröffnet dieses Heft, indem er an ein früheres, nämlich Innovationen. Wie Neues entsteht (2000/1), thematisch anschließt. Die Frage, Warum etwas wird, ist noch einmal, allerdings weiter reichend gestellt. Grössings Artikel schlägt einen großen instruktiven Bogen von Lukrez’ Theorie zu den Atomen bis hin zu eigenen Experimenten mit Zellulären Automaten. Die Untersuchung von Selbstorganisation und Emergenz in evolutionären Prozessen führt zur Entwicklung von nichtlinearen Modellen für allgemeine Systeme, die auch auf historische Prozesse anwendbar sind. Die interessante Arbeit von Manuel de Landa A Thousand Years of Nonlinear History erfährt dabei eine ausführliche Diskussion. Die untersuchte Systemdynamik ist durch Irreversibilität und Zeit-Pfeil charakterisiert, wenn rekursive Prozesse und signifikante Fluktuationen um einen Mittelwert festgestellt werden können.

Karl H. Müller, ein den Leser/inne/n dieser Zeitschrift bereits wohlbekannter Autor, schreibt über die Pfeile der geschichtlichen Zeit. Auf der Basis von in letzter Zeit zunehmend thematisierten Parallelen kosmischer Geschichte und Evolutionsgeschichte verfolgt der Artikel zwei Ziele: die Entwicklung einer Interpretation von Evolution als Entropie und sodann die Formulierung der These, dass Historiographie durch neue Zugänge zu den Pfeilen evolutionärer und thermodynamischer Zeit profitieren könnte. Sieben Anwendungsfelder werden präsentiert, sieben entsprechende Heuristiken werden dargestellt.

Albert Müller widmet sich in einer Fallstudie dem Thema Ereignis im Zeitverlauf. Fragen und Hinweise, ob ein 'Ereignis' die Welt verändert oder nicht, stehen am Beginn der Diskussion. Alain Resnais’ Filme Smoking / No Smoking, die hier als 'Lehrstück' im Kontext wichtiger Grundfragen der Geschichtswissenschaften gesehen werden, dienen als Beispiel dafür, dass kleine, unbedeutende Ursachen große Auswirkungen zeitigen können. Denn eine einzelne Ausgangssituation erzeugt in diesem Film zwölf unterschiedliche Geschichten. Nachdem auf die besondere Struktur des Filmes eingegangen wurde, werden einige seiner Merkmale einer Diskussion unterzogen.

Auch Helmut Kramer greift Themen der ÖZG 2000/1 auf: Christian Fleck veröffentlichte dort einen Artikel zur - bisweilen skandalösen - Geschichte von der Gründung der bislang einzigen Einrichtung zur postgraduaten Ausbildung von Sozialwissenschaftler/inne/n in Österreich, dem Institut für höhere Studien. Fleck rekonstruierte dort eine Sphäre durchaus widersprüchlicher Interessen von philanthropisch geprägten amerikanischen Stiftungen, einer Gruppe aufklärerisch gesonnener Wissenschaftsemigranten, österreichischen Regierungsstellen, wienerischen local heroes, und einzelnen Profiteuren, die die wissenschaftlichen Intentionen der Stiftungen wie der Emigranten-Gruppe nicht zuletzt zu Gunsten eigener pekuniärer und Macht-Interessen preisgaben. Kramer nun, selbst einer der ersten Scholaren des IHS und der Position Flecks prima facie kritisch gegenüberstehend, erschloss weitere Dokumente, die Flecks Befund weitgehend bestätigen, zudem gibt seine Darstellung nun eine Antwort auf die Frage, wie eine jüngere Generation sich aus dieser 'prekären' Situation zu befreien suchte.

Historiographiegeschichte beschäftigt die ÖZG seit ihrer ersten Ausgabe. Georg Iggers, einer der ersten und bedeutendsten Initiatoren einer Selbstthematisierung der Geschichtswissenschaften und - nach wie vor - einer ihrer aufmerksamsten Beobachter spricht sich - unter anderem - dafür aus, die Perspektiven weiter zu entwickeln.

Florian Mildenberger präsentiert im Forum ein Forschungsprogramm zu Jakob von Uexküll, fern jener Idealisierungen, die in manchen 'Ganzheits-Diskursen' gang und gäbe geworden sind. Genaue biographische und werkgeschichtliche Erhebungen lassen in mehrfacher Hinsicht eine Revision gängiger Interpretationen erwarten. Mario Wimmer widmet sich abschließend einigen der Standardprobleme der institutionalisierten Praktiken des Konzerns Geschichtswissenschaft, Archiven, Akten, Zettelkästen nämlich, die im Rahmen neuer medienhistorischer Zugangsweisen fern der Konventionen thematisiert werden können.

Abstracts, ÖZG 13/2002/3, 133-134.

Gerhard Grössing: Why Things Develop: On the Self-Organization of Recursive »Probes« in Possibility Space, pp. 9-49.

Development and dissolution are basic characteristics of a wide variety of systems. The latter include biological ones, but also non-living systems as, for example, geological onesand, of course, also social systems. As we have known for a long time, processes of decay in the physical and biological domains are governed by the law of entropy. However, processes related to the emergence of new structures, or of organizational forms, have become an issue of broad scientific investigation only during the last third of the twentieth century.

Based on the studies of the phenomenon of self-organization (or emergence), new approaches to understanding the abstract machines behind structure generating and structure changing processes have emerged in recent years. This has led to the design of nonlinear models for general systems, which, among others, are also applicable to historical processes. (See, for example, M. de Landa, »A Thousand Years of Nonlinear History«.)

Some of the contemporary instruments used to simulate correspondingly complex systems on the computer are briefly reviewed, e. g., genetic algorithms and cellular automata. It is shown that there is a solid foundation for explaining the emergence of an »arrow of time« in biological, and even in social systems. Here, decisive roles are attributed to a) the presence of recursive processes (replications, for example) and b) significant fluctuations around mean values. Such systems can often be characterized by the self-organization of recursive »probes« in the space of potential forms of their organization. In sufficiently complex systems, the latter may emerge by means of their intrinsic dynamics, i. e., independent of any external control mechanisms.

Karl H. Müller: Arrows of Historical Time, pp. 50-83.

So far, the domains of thermodynamics, evolution and historiography have rarely found a common, coherent platform. Following a recent wave of literature on the parallelism between cosmic and evolutionary history, the present article follows two basic objectives. First, it attempts to show how the two seemingly contradictory arrows of time, namely the arrow of increasing order and complexity in evolutionary time and of decreasing order in thermodynamic time can be integrated into a new framework which views »evolution as entropy« (Daniel R. Brooks, E. O. Wiley) and affirms a strict parallelism between cosmic and evolutionary history. Second, the article tries to demonstrate that current historiography would profit enormously by using these new approaches to the arrows of evolutionary and thermodynamic time. To this end, seven different research fields are introduced which are directly connected to the new frameworks of cosmic evolution (Eric J. Chaisson) or, alternatively, cosmogenesis (David Layzer). In each of these seven areas, several heuristic devices will be offered by means of which research in these areas can yield highly promising and cognitively stimulating results that will clearly go beyond the available literature on nonlinear history or on the end in every sense of the word (e.g., Francis Fukuyama’s »end of history« or John Horgan’s «end of science«.)

Albert Müller: Smoking / No Smoking: The Event in the Course of Time, pp. 84-109.

This article reconsiders the 'category' of time in the light of current discussions that explore the question as to whether there are events that can be considered as changing or not changing »the world«. The films Smoking and No Smoking by the French film-maker Alain Resnais based on a play by Alan Ayckbourn are discussed at length. Both films start with the same episode, a highly insignificant, apparently meaning-less 'event' - one of the female protagonists either lights a cigarette or does not -, developing twelve entirely different stories spanning a period of five years. The insignificant but decisive event is also a main theme of chaos theory and the sciences of complexity. Problems of entropic irreversibility and the arrow of time may therefore be discussed in the context of a small social system. For such reasons Resnais’ films are viewed as a major didactic 'exemplum' that makes it possible to discuss theoretical problems of history.

Helmut Kramer: How New Things Emerge, though. On the founding and on the early years of the Institute of Advanced Studies in Vienna, pp. 110-132.

The Institute for Advanced Studies in Vienna (IAS), founded on the initiative of prominent Austrian emigrant social scientists in the USA in 1963 and financed in the early years by the Ford Foundation, was the first postgraduate institution in post-war Austria where new methods in sociology, political science and economics were taught and applied in research. The essay describes again the problems and the difficulties in establishing the Institute in the context of the political control exerted by the ruling coalition parties (ÖVP and SPÖ) in academe and the field of science as well against the fervent resistance of the University of Vienna which was dominated by a mixture of conservativism, clericalism and mediocrity. Based on further archival material and on the personal experience of the author who began his academic career in the IAS in the Sixties the analysis and the arguments put forward in this essay corroborate and partly expand the critical investigation of the founding years of the IAS published in the ÖZG two years ago by Christian Fleck (2000/1). In contrast to Christian Fleck, the author comes to a more positive evaluation of the innovative contribution the IAS has made to the development of a modern and critical social science in Austria.

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