Jahrbuch fuer Universitaetsgeschichte 4 (2001)

Titel der Ausgabe 
Jahrbuch fuer Universitaetsgeschichte 4 (2001)
Weiterer Titel 
Universitaetsgeschichte in Osteuropa

Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Erscheint 
Erscheinungsweise / jährlich
Preis
€ 39,00

 

Kontakt

Institution
Jahrbuch für Universitätsgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion: Prof. Dr. Martin Kintzinger, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster; E-Mail: <m.kintzinger@uni-muenster.de>
Von
Bott, Marie-Luise

Jahrbuch fuer Universitaetsgeschichte

Universitaetsgeschichte in Osteuropa

Gastherausgeberin: Marie-Luise Bott

______________________________________

EDITORIAL
Von Marie-Luise Bott

Es bestand schon frueh fuer das Jahrbuch der Wunsch, ein Fenster nach Osteuropa zu oeffnen und Mitarbeiter zur Universitaetsgeschichte in diesen Laendern zu gewinnen. Dabei meint "Osteuropa" hier alle Staaten des ehemaligen politischen Verbunds der Sowjetunion sowie des Ostblocks, also vom Baltikum bis nach Suedosteuropa.

Arbeiten westeuropaeischer Spezialisten zu diesem Themenbereich sind westlichen Lesern leicht zugaenglich in Publikationen zur Osteuropaeischen Geschichte. Allerdings wurde die Universitaetsgeschichte Osteuropas dort bisher nur vereinzelt in Zeitschriften oder Sammelbaenden beruecksichtigt(1) und nicht zu einem Schwerpunktthema gemacht.(2) Zudem scheint die Rezeptionsschwelle zwischen Osteuropaeischer und Allgemeiner Geschichte gerade fuer den Bereich der Universitaets- und Wissenschaftsgeschichte widersinnigerweise noch immer sehr hoch zu sein. So konstatierte 1999 etwa das Marburger Herder-Institut: "In den universitaetsgeschichtlichen Studien der beiden letzten Jahrzehnte sind die Universitaeten im oestlichen Mitteleuropa nicht oder doch nur sehr am Rande beruecksichtigt worden. Dies ist unter vielen Gesichtspunkten zu bedauern, da diese Region einen integralen Bestandteil der europaeischen Geschichte bildet und in ganz besonderer Weise mit der Kulturgeschichte der deutschen Territorien mittelbar oder unmittelbar verbunden ist." Deshalb veranstalteten Herder-Forschungsrat und Herder-Institut im April 1999 in Marburg auch eine Tagung ueber "Universitaeten zwischen Kirche, Staat und Nation. Sozialgeschichte und politische Entwicklungen im ostmitteleuropaeischen Raum." An ihr nahmen aber ausser je einem Referenten aus Prag und aus Krakau nur westliche Forscher teil.

Ziel des vorliegenden Jahrbuchs dagegen ist es, osteuropaeischen Autoren in deutscher Uebersetzung ein Forum zu geben und sie in den allgemeinen Dialog universitaetsgeschichtlicher Forschung zu integrieren. Konzeptionell gab es dabei zwei Vorentscheidungen: nach Moeglichkeit Beitraege zu allen wichtigen Universitaetszentren Osteuropas einzuwerben und auch das inoffizielle Wissenschaftsmilieu Osteuropas der 1970er/80er Jahre darzustellen.

Nicht alle Wuensche konnten verwirklicht werden. So ergaben sich trotz intensiver Bemuehungen keine Kontakte zu Bulgarien und der Slowakei. Auch gelang es leider nicht, Beitraege zur sowjetrussischen Universitaetsgeschichte der 1930er/40er Jahre bzw. der Nachkriegsepoche zu gewinnen. Hier besteht noch immer akuter Forschungsbedarf. Bezeichnend fuer die gegenwaertige Lage von Wissenschaft in Osteuropa ist, dass ausgewiesene Fachleute fuer die Universitaetsgeschichte Tartus wie Villu Tamul und Hain Tankler aus existentiellen Gruenden inzwischen in anderen Berufen arbeiten. Ein ausgezeichneter Aufsatz, der die Entwicklung der deutschen Universitaeten in Prag und Czernowitz bis 1914 im Vergleich betrachtet, konnte zuletzt aus Gruenden des Umfangs nicht mehr aufgenommen werden, es sei hier aber nachdruecklich auf ihn verwiesen: Trude Maurer, "National oder supranational? Prag und Czernowitz. Zwei deutsche Universitaeten in Ostmitteleuropa (1875/1882-1914)."(3) Zu fragen bleibt, ob Band 4 des Jahrbuchs unseren polnischen Rezensenten zufriedenstellt, der das Erscheinen der Zeitschrift begruesste, aber "synthetischere Darstellungen der Universitaetsproblematik weltweit", im internationalen Bezug, anmahnte.(4) Ich habe mich zumindest um Repraesentativitaet der Thematik bemueht.

Die in diesem Band versammelten Beitraege zeigen unterschiedliche Handschriften, dokumentieren aber zweifellos den aktuellen Forschungsstand und besondere Forschungsproblematiken ihres jeweiligen Landes. Witold Moliks Abhandlung eroeffnet ein noch wenig bekanntes Kapitel zum Thema Kulturtransfer: deutsche Universitaeten aus der Sicht polnischer Studenten vorwiegend des preussischen Teilungsgebietes nach der dritten Teilung Polens. Die Auswertung vor allem studentischer Zeitschriften und autobiographischer Erinnerungen verzichtet auf Erlaeuterungen zum allgemeinen Hintergrund des gespannten deutsch-polnischen Verhaeltnisses jener Zeit, dessen Kenntnis Molik fuer den polnischen Leser voraussetzen kann. Vor diesem Hintergrund erscheinen notorische Polenhasser wie der Breslauer Anatom Karl Hasse oder der Berliner Osteuropahistoriker Theodor Schiemann jedoch nur am Rande. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Wahrnehmungen zu Formen der Lehre, besonderen wissenschaftlichen Denkweisen und Arbeitsstilen. Offenbar waren die deutschen Universitaeten des 19. Jahrhunderts doch zu einem Teil in der Lage, nationale Antagonismen aufzufangen. Das insgesamt sehr positive Bild polnischer intellektueller Eliten vom deutschen Universitaetsmodell des 19. Jahrhunderts hatte Einfluss auf die Erneuerung des polnischen Hochschulwesens ab 1920. Das experimentierfreudige Spektrum neuer sozialistischer, aber auch kirchlicher Hochschulgruendungen in Polen unmittelbar nach 1945, das der Soziologe Piotr Huebner schildert, beeindruckt um so mehr, wenn man es mit der kurzen Phase "demokratischer Erneuerung" und der darauf folgenden zielstrebig eingleisigen, zentralstaatlich gelenkten Sowjetisierung der Hochschulen in der SBZ/DDR zusammendenkt. Mit diesen beiden Beitraegen korrespondiert der von Christoph Jahr ueber ein besonderes Kapitel aus der traumatischsten Phase deutsch-polnischer Beziehungen 1918-1945. Er befasst sich erstmals mit der 'geistigen Kriegsvorbereitung' im Bereich der "Wehrwissenschaft", die seit 1933 an der Berliner Universitaet gelehrt und 1936 dort auch mit dem Institut fuer Allgemeine Wehrlehre unter Oskar von Niedermayer institutionalisiert wurde. Dieses vor allem von der Wehrmacht finanzierte Institut erhielt 1937-1942 eine Aussenstelle im Institut fuer Heimatforschung in Schneidemuehl, das sich mit "Raum-" bzw. "Volkstumsforschung" vor allem in der Grenzmark Posen-Westpreussen im Dienst rassisch fundierter Neuordnungsplaene des NS-Staates beschaeftigte.

Das Thema von Franticek Õmahels neue Quellen erschliessendem Beitrag - welcher Wissenserwerb war Voraussetzung fuer das Magisterium an der Prager Artistenfakultaet um 1390? - wird von Martin Kintzinger aufgegriffen und in einen weiteren Kontext gestellt. Er fragt nach der Selbstdarstellung einer Wahrheitserkenntnis vermittelnden philosophischen Fakultaet gegenueber utilitaristischen gesellschaftlichen Anforderungen zwischen Mittelalter und Moderne. Mit der Geschichte der Institutionalisierung des Ungarischen bzw. finno-ugrischer Sprachwissenschaft an der Universitaet Pest im 19. Jahrhundert fuehrt Andras Cser in ein zentrales Thema osteuropaeischer Universitaetsgeschichte ein. Der Konflikt zwischen Nationalsprache(n), "Herrschaftssprache" und international anerkannter Wissenschaftssprache war virulent fuer alle Laender Osteuropas, deren Bevoelkerung sich aus mehreren Ethnien zusammensetzte und unter der Herrschaft einer anderen Nation mit international anerkannter Wissenschaftssprache - wie etwa dem Deutschen - stand. Die Etablierung der mehrheitlichen Nationalsprache als Sprache des Unterrichts und der Verwaltung und ihre Institutionalisierung als Universitaetsphilologie ist zugleich die Geschichte einer politischen Emanzipierung. Auch die beiden rumaenischen Beitraege widmen sich Problembereichen, die fuer andere osteuropaeische Laender aehnlich zu untersuchen waeren. Lucian Nastasa analysiert, aus welchen Gruenden und in welcher Form die rumaenischen Universitaeten nach dem Ersten Weltkrieg Austragungsort eines Antisemitismus wurden, der sich schon 1918 zur Forderung nach einem numerus nullus fuer juedische Studenten verstieg, ab 1922 die Einfuehrung eines numerus clausus fuer sie diskutierte und 1936 mit seinen diskriminierenden Praktiken erreicht hatte, dass der Anteil juedischer Studenten an den rumaenischen Universitaeten nur noch ca. 3% betrug. Marius Lazar untersucht fuer denselben Zeitraum, welchen Spannungen universitaere und ausseruniversitaere Philosophie unterworfen waren. Ihre Polemiken, die mit den politisch-ideologischen Tendenzen der Epoche - einem wachsenden antimodernistischen Nationalismus - korreliert waren, wurden in den philosophischen Zeitschriften ausgetragen. Dabei obsiegten zuletzt die irrationalen nationalistischen Diskurse der akademischen Eliten, die so zur Aufloesung jenes akademischen Systems beitrugen, in dem sich die Philosophie in Rumaenien eben erst als eigenstaendiges Fach etabliert hatte.

Nachdem waehrend der Sowjetzeit von einem nutzbringenden Einfluss deutscher Wissenschaftler auf das russische Hochschulwesen offiziell nicht die Rede gewesen war, berichtet Andrej Andreev nun aufgrund erstmals erschlossenen russischen Archivmaterials von der Ausbildung russischer Studenten 1802-1812 in Goettingen sowie von jenem Reformansatz unter Alexander I. 1803, als man vor allem Goettinger Gelehrte fuer die Universitaet Moskau anwarb. Eine andere Frage ist, was die deutschen Professoren in Lehre und Forschung an der Universitaet Moskau tatsaechlich ausrichten konnten.(5) Welche Diskrepanz zwischen dem Pathos der Anwerbung durch Universitaetskurator Murav'ev und der Realitaet an der Universitaet Moskau bestand, geht u. a. auch aus dem Brief des Strafrechtlers Christian J. Steltzer im Krisenjahr 1812 hervor, weshalb dieses sehr 'lebenspraktische' Dokument hier auch ediert wird. Steltzer, mit einer verschwindend kleinen Zahl von Studenten und ohne jede oeffentliche Resonanz seines Faches (der "Fakultaet unnuetzer Dinge") in Moskau auf verlorenem Posten, war als einziger des Lehrkoerpers waehrend der franzoesischen Okkupation in der Stadt geblieben, hatte Kraft und Leben fuer den Erhalt der Universitaet und ihrer Schaetze eingesetzt, fuer die Kurator und Rektor bei ihrer Evakuierung keine Vorsorge getroffen hatten, und wurde schliesslich der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt, womit seine Moskauer Lehrtaetigkeit endete. Doch gibt es noch einen weiteren Grund, der fuer Andreevs Quellenedition in diesem Jahrbuch sprach. Im Jahr 2000 erschien erstmals ein faszinierendes Dokument ueber die Zerstoerung Moskaus 1812. Der 1815 niedergeschriebene Bericht des deutschen Arztes Anton Wilhelm Nordhof(6) revidiert die bisher dominante sowjetrussische Sicht des Geschehens, die eine unklare Mischung aus Anschuldigung der Franzosen und Verherrlichung des Brandes als besonders heroischer Form von selbstaufopferndem russischem Patriotismus darstellt. Nordhof dagegen klagt Moskaus Generalgouverneur Rostopæin an als Hauptschuldigen einer systematisch vorbereiteten und durch bestuerzend fremdenfeindliche Massnahmen eingeleiteten Brandstiftung ohne jede strategische Notwendigkeit, die skrupellos die Bevoelkerung ins Elend stuerzte und unersetzliche Kulturgueter vernichtete, u. a. die Universitaet, die erst nach Abzug der Franzosen niederbrannte. Als Claus Scharf und Juergen Kessel diesen wichtigen Quellenfund herausgaben, kannten sie Steltzers Brief, den Andreev 1997 in russischer Uebersetzung in Moskau publiziert hatte, nicht, ebenso wie Andreev das Nordhof-Dokument noch nicht kannte. Beide Quellen ergaenzen aber einander und stuetzen sich in ihrer alternativen historischen Sichtweise gegenseitig. In dieser Hinsicht sind meine redaktionellen Ergaenzungen der Fussnoten zu Steltzers Brief nur ein erster brueckenschlagender Notbehelf. Im Grunde ist die Geschichte der Zerstoerung der Moskauer Universitaet jetzt noch einmal neu zu schreiben.

Dorpat war im 19. Jahrhundert zusammen mit seinem Professoren-Institut das bedeutendste Universitaetszentrum Nordosteuropas. Um so mehr freut es mich, dass es mit Sirje Tamuls Beitrag ueber die multiethnische Studentenschaft durch alle politischen Phasen zwischen 1802 und 1918 hindurch - von Dorpat ueber Jur'ev bis zu Tartu - hier vertreten ist. Eine besondere Korrespondenz ergibt sich zu dem Beitrag von Michail Karpaæev, da die Universitaet Voroneø 1918 mit dem Bestand der aus Jur'ev evakuierten russischen Professoren, Studenten und der Universitaetsausstattung gegruendet wurde. Zwischen dem Institut fuer Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universitaet und der Historischen Fakultaet der Staatlichen Universitaet Voroneø besteht seit 1998 auf Initiative von Dr. Dietmar Wulff ein Kooperationsprojekt im Rahmen des Alexander-Herzen-Programms des DAAD. Bislang ging es um die Reform des Studienganges Neueste Geschichte, Foerderung von Arbeiten zur Regionalgeschichte und gemeinsame Forschungsarbeit zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen sowie zu vergleichender Sozial- und Regionalgeschichte. Hier nun kooperieren wir auch im Bereich der Universitaetsgeschichte. Dabei ist die Gruendungsphase der Universitaet Voroneø beispielhaft fuer den Beginn des sowjetischen Hochschulwesens in der Ein-Parteien-Diktatur: Einer kurzen pathetischen Phase "revolutionaerer Umgestaltung" (Hochschulzugang fuer jeden, gleich welcher Vorbildung, Abschaffung "buergerlicher" Pruefungen und Abschlussexamen, Schliessung der Juristischen und der Historischen Fakultaet und Gruendung einer neuen Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultaet 1919, Aufloesung der Philologischen und Gruendung einer Paedagogischen Fakultaet 1921) folgt die Rueckkehr zu einem Mindestmass an Leistungsanforderungen, um die Ausbildung von Fachkraeften zu sichern (Einfuehrung von Aufnahmepruefungen und der Studienpflicht 1921, Schliessung der Gesellschaftswissenchaftlichen Fakultaet 1923, bis 1929 Fortfuehrung nur der Medizinischen und der Paedagogischen Fakultaet, Gruendung eines Forschungsinstituts fuer Chemie und Biologie bei der Universitaet 1925), und schliesslich die parteipolitische "Saeuberung" ab 1929 (Einfuehrung des Rechenschaftsberichtes der Professoren vor der proletarischen Studentenschaft u.a.). Interessant ist der Vergleich der Etablierung einer sowjetischen Hochschule an der Peripherie der RSFSR - Voroneø 1918 - mit der in einem anderen Land der Sowjetunion. Die Gruendung der Minsker Universitaet wurde schon 1918 in der Volksrepublik Weissrussland von weissrussischen Geisteswissenschaftlern initiiert, aber erst 1920/21 in der Sozialistischen Sowjetrepublik Weissrussland unter der Kontrolle der Moskauer Regierung mit Hilfe einer Gruppe von zwoelf Professoren aus Moskau umgesetzt. Dabei bleibt in der Darstellung von Oleg Janovski unklar, inwieweit die Gruendungskonzeption eine nationale war - zur Foerderung speziell der weissrussischen Geschichte, Sprache und Kultur - oder sich schon einer grossrussischen Sowjetisierung unterworfen sah. Naeheres dazu wie auch zur Gestalt des ersten Rektors Vladimir Piæeta, eines Historikers der Moskauer Schule um Kljuæevskij und bedeutenden Vertreters der Weissrusslandkunde, ist in der Tuebinger Dissertation von Rainer Lindner zu lesen.(7) Auch an der Minsker Universitaet kam der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultaet fuer die ideologische Schulung zunaechst die groesste Bedeutung zu. Daneben eroeffneten die Medizinische und eine vorbereitende Arbeiter-Fakultaet. Die Probleme bei der Rekrutierung von Studenten und von qualifizierten Lehrkraeften ebenso wie der Niedergang der Universitaet Ende der 20er Jahre stellen keine weissrussische Besonderheit dar, sondern sind allgemein typisch fuer die sowjetische Universitaetsgeschichte jener Zeit. Die darauffolgende Chronologie der Rektorenschicksale bis 1937 dokumentiert ohne jedes uebergeordnete Frageinteresse den noch ueberwiegend auf Faktenaufarbeitung ausgerichteten Forschungsstand zur weissrussischen Universitaetsgeschichte und traegt einer Besonderheit Rechnung, auf die auch Rainer Lindner(8) hinweist: Schon in den 20er Jahren war innerhalb der weissrussischen Bildungs- und Parteielite ein Denunziationssystem von einer solchen Dichte entstanden, die selbst im Moskauer Zentrum nicht ihresgleichen hatte.

Universitaetsgeschichte war immer auch ein Medium nationaler Geschichtsschreibung und ist es in Osteuropa heute, nach dem Wegfall der totalitaeren Staatsideologie und nach den einzelstaatlichen Neuordnungen, ganz besonders. Dabei sind auch nationalistische Tendenzen zu beobachten. Um so erfreulicher, wenn ihnen wie im Beitrag von Vladimir Kravæenko mit souveraener Kompetenz begegnet wird. Die Universitaet Char'kov wurde keineswegs auf Betreiben des Char'kover Adels - etwa im Sinne einer nationalen ukrainischen Bewegung - gegruendet, sondern durch Beschluss des aufgeklaerten russischen Zaren Alexander I.
Ihm hatte dies allerdings der Sekretaer des Komitees fuer Lehranstalten und Char'kover Lokalpatriot Vasilij Karazin nahegelegt, der dann den Char'kover Adel, dessen Wuensche lediglich auf eine Militaeranstalt abzielten, zur Finanzierung einer Universitaet ueberredete. Dass die Rueckprojizierung eines heute in der Ukraine dominierenden ethnisch-nationalen Denkens auf andere historische Epochen einer regionalgeschichtlichen und vergleichend sozialgeschichtlichen Forschung nur hinderlich waere, geht ueberzeugend auch aus Sergij Stel'machs Beitrag zur Kiever Professorenkorporation hervor.

Die Rubrik Miszellen ist ganz jenem Bereich gewidmet, ohne den ein Band zur Universitaetsgeschichte in Osteuropa unvollstaendig waere. Praegend fuer die Laender Osteuropas zwischen 1917 und 1989 war das Leben in zwei Kulturen. So gab es neben dem offiziellen, ideologisch bestimmten immer auch ein inoffizielles, anti-universitaeres Wissenschaftsmilieu.
Einzelne Vertreter der kritischen Intelligenz warteten nicht auf kleine Freiheiten und Zugestaendnisse, sondern nahmen sich selbst - in unterschiedlicher Form - die volle Freiheit zu Bildung und Diskussion. Dies mit darzustellen, war konzeptionell selbstverstaendlich.

Dabei sind die hier versammelten Berichte aus Polen, Ungarn und dem ehemaligen Sowjetrussland exemplarisch zu verstehen. Die Reihe liesse sich fortsetzen. Auch in der DDR gab es Aehnliches. Jens Reich veroeffentlichte 1991 einen kurzen Text "Der Jakobinerklub."(9) Den Titel will der Verfasser ironisch verstanden wissen, "wegen der absoluten Vorherrschaft des Wortes, wegen der Tatenarmut" des "Freitagskreises", wie er nuechtern hiess. Und doch muendete er 1989 in die Initiativgruppe fuer das Neue Forum. Begonnen hatte diese "Vorschule des gewaltlosen Aufstandes"(10) 1971 zwischen drei befreundeten Familien und deren Freunden als philosophisches Hausseminar ("Was heisst es, Marxist zu sein?", "Chancen der Demokratie", "Poppers Wissenschaftstheorie", Hegels "Wissenschaft der Logik" etc.). Schon im Jahr darauf kam es zu Parteibefragungen wegen "illegaler Zirkeltaetigkeit" und IM-Berichten. Aber der "Freitagskreis" traf sich weiter. Er beschaeftigte sich wie die Fliegenden Universitaeten mit allen Bereichen und Neuerscheinungen der Wissenschaft und Kunst, die offiziell nicht zur Sprache kamen. "Wir versuchten eine Art Gesamthistorie", doch "die Hauptaufgabe war Politik. Politik in Worten", die Analyse des "verrotteten Systems" und seines nahen wirtschaftlichen Zusammenbruchs, resuemiert Jens Reich.(11) Er erwaehnt die unvergleichliche "Erregung" bei Vortraegen in dieser Runde und auch ihre therapeutische Funktion: "Ins gemeinsame Wort, in den Diskurs, in 'den Kreis' flossen unsere Hoffnungen und Enttaeuschungen. Er (...) brach die Kleinfamilienzentriertheit, die tiefe Resignation ueber die gefesselte Oeffentlichkeit, unser Fernweh."(12) Zu den Besonderheiten des "Freitagskreises" gehoert, dass er nach der aktiven Wendezeit (Ortsgruppen der Buergerbewegung, Zentrale des Neuen Forums, Volkskammerfraktion, Gauck-Behoerde, Unabhaengiger Historikerverband, Buendnis 90) privat weiter existierte. Zur Feier seines 25jaehrigen Jubilaeums 1996 entstand eine Broschuere, die alle Veranstaltungen und Themen seit 1971 auflistet und Grundlage fuer eine kuenftige Darstellung dieser Insel in der offiziellen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte der DDR sein kann.

Ende der 1970er Jahre entstanden Untergrundseminare in Prag, spaeter auch in Bruenn. Zu den Initiatoren gehoerte der Philosoph Julius Tomin. Es gab Vorlesungen in seiner Privatwohnung, der von Ivan Dejmal, aber auch in der freien Natur. Begleitend zu den Untergrundseminaren erschien im Samizdat Lehrmaterial zu bislang ausgegrenzten Wissenschaftsbereichen wie "Psychoanalyse und Literatur I" von Jiði Pechar (1976), vor allem aber zur eigenen Nationalgeschichte: etwa Jan Patoækas "Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte" (1975), Jan Kðens Buch "Die Konfliktgemeinschaft: Tschechen und Deutsche 1780-1918" (Band 6 der "Historischen Studien", 1986), das als bisher bedeutendste Darstellung zum deutsch-tschechischen Verhaeltnis gilt, oder Karel Kaplans "Der Weg zur Macht: Wie wir es sahen" (o. J.), eine Analyse der tschechischen Geschichte zwischen Befreiung und kommunistischer Machtuebernahme anhand bisher unbekannten Quellenmaterials.(13)

Interessant sind vor allem auch die Differenzen zwischen den Fliegenden Universitaeten der verschiedenen Laender. Waehrend es in Ungarn eine Gruppe junger linkssozialistischer Studenten war, die sich unzensiert ueber die Geschichte der Kommunistischen Partei Ungarns informieren wollte, und in Moskau ein Kreis ausgewiesener, ueberwiegend an Akademie-Instituten angestellter Philologen, der sich mit ausgegrenzten russischen Autoren und innovativen methodischen Ansaetzen in der Tradition des russischen Formalismus und des Strukturalismus "rein" wissenschaftlich beschaeftigte, war es in Polen eine Bildungsarbeit, die vom Wort zur Tat ging und sich mit der Arbeiterbewegung zusammenschloss. Adam Michniks Wort "Kampf um die Bewahrung der Volksseele" klingt pathetisch. Aber tatsaechlich war es das. Und es nahm hier die phantasievollsten Formen an.

Gemeinsam ist all den Fliegenden Universitaeten unterschiedlicher Nation, dass sie zur Zeit der politischen Stagnation der 70er Jahre in ihren Laendern entstanden, sich in vielfaeltigem Pluralismus der Meinungen vor allem den ausgegrenzten Bereichen ihrer nationalen Geschichte und Kultur zuwandten und sich auch mit Wissenschaftsstroemungen Westeuropas auseinandersetzten. In ihren unterschiedlichen Formen und ihrer jeweiligen Geschichte liegt ein Erfahrungsreichtum, den es fuer kuenftige Zeiten von Wissenschaft und Bildung zu bergen gilt.(14)

Allen Kollegen, die bei der Autorenfindung halfen und zum Teil auch Gegenleser der Beitraege waren, sei herzlich gedankt: Dr. Mathias Niendorf (DHI Warschau) fuer Polen, Dr. Wolfgang E. Wagner (Humboldt-Universitaet Berlin) fuer Prag, Mihaly Riszovannij (Doktorand an der Technischen Universitaet Berlin und wahrer Wissenschaftsbotschafter seines Landes) fuer Ungarn, Dr. Wim van Meurs (Zentrum fuer Angewandte Politikforschung, Muenchen) fuer Rumaenien, Dr. Rainer Lindner (Universitaet Konstanz) fuer Weissrussland und Dr. Guido Hausmann (Universitaet Koeln) fuer die Ukraine. Die entscheidenden Hinweise, die schliesslich zum Beitrag von Ryszard Terlecki fuehrten, kamen von Prof. Klaus Zernack (Freie Universitaet Berlin), Prof. Hans Henning Hahn (Universitaet Oldenburg) und Dr. Andrzej Friszke (PAN Warschau). Obwohl ein no-budget-Unternehmen, wollten wir den Autoren aus Osteuropa fruehzeitig signalisieren, dass wir die Muehen der Uebersetzung und ihrer Finanzierung nicht scheuen. Dabei war es der besondere Ehrgeiz der Redaktion, dass jedes diakritische Zeichen in der rechten Form am rechten Platz stehe. Mein besonderer Dank gilt den Uebersetzern, die wie immer weit mehr waren als nur Uebersetzer: sachkundige Kritiker, Rechercheure, Redakteure. Dass wir ihre Arbeit zum groessten Teil auch honorieren konnten, verdanken wir dem Interesse und der grosszuegigen Unterstuetzung von Dr. Sìawomir Tryc (Polnisches Kulturinstitut Berlin), Prof. Andras Masat (Haus Ungarn und Collegium Hungaricum Berlin) und Dr. Heinz-Rudi Spiegel (Stifterverband fuer die Deutsche Wissenschaft). Sie haben den Dialog mit Wissenschaftlern aus Polen, Ungarn und Rumaenien ermoeglicht. Dank gebuehrt nicht zuletzt dem Herausgeber des Jahrbuchs, Prof. Ruediger vom Bruch, dessen Vertrauen diesen Band auf den Weg brachte.

Fuer das Schwerpunktthema Universitaet und Kunst in Band 5 des Jahrbuchs konnte Prof. Horst Bredekamp als Gastherausgeber gewonnen werden.

Anmerkungen:

(1) Vgl. juengst Dietrich Beyrau, Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Goettingen 2000; s. auch Charles McClelland, Stephan Merl, Hannes Siegrist (Hg.), Professionen im modernen Osteuropa, Berlin 1995.
(2) Ausgenommen jene drei universitaetsgeschichtlichen Monographien juengerer Osteuropahistoriker, ueber die ich in JbUG 3/1999, 259-264, berichtete.
(3) In: Zeitschrift fuer Ostmitteleuropa-Forschung, Heft 3/2000. Vgl. auch dies., "Eintracht der Nationalitaeten in der Bukowina? Ueberpruefung eines Mythos", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51/2000 (im Druck).
(4) Vgl. die Rezension des JbUG 1/1998 von Witold C. Kowalski in Przeglad geofizyczny 1/2 (1999).
(5) Vgl. dazu etwa James T. Flynn, "Russia's 'University Question': Origins to Great Reforms 1802-1863", in: History of Universities 7/1988, 1-35.
(6) Anton Wilhelm Nordhof, Die Geschichte der Zerstoerung Moskaus im Jahre 1812, hg. von Claus Scharf unter Mitwirkung von Juergen Kessel, Muenchen 2000.
(7) Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weissrussland im 19. und 20. Jahrhundert, Muenchen 1999, 217ff. ("Die Weissrussische Staatliche Universitaet") und 308ff. ("Die Historische Fakultaet der Staatsuniversitaet"). Lindner weist in seiner Einleitung darauf hin, dass seit der Wahl Lukaschenkos 1994 zum Praesidenten Weissrusslands "Nationalgeschichtsschreibung und Staatspolitik unterschiedliche Wege zu gehen" begannen. Sie stehen einander seit 1996 "in offenem Streit gegenueber": einerseits "die Verfechter der 'nationalen Konzeption der weissrussischen Geschichte'", andererseits neosowjetische bzw. "grossrussische Vergangenheitsdeutungen" (11). Oleg Janovski gehoert zu ersteren.
(8) Ebd., 20.
(9) In: Jens Reich, Rueckkehr nach Europa. Zur neuen Lage der deutschen Nation, Muenchen 1993 (zuerst Muenchen/Wien 1991), 171-175.
(10) Ebd., 174.
(11) Ebd., 172f.
(12) Ebd., 174.
(13) Ich beziehe mich hier auf Material der Ausstellung "Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa - die 60er bis 80er Jahre" der Forschungsstelle Osteuropa an der Universitaet Bremen in der Berliner Akademie der Kuenste vom 10. September bis zum 29. Oktober 2000.
(14) Ein Symposium in Zusammenarbeit mit dem Collegium Hungaricum Berlin ist geplant.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Editorial Marie-Luise Bott: Universitaetsgeschichte in Osteuropa

I. Abhandlungen

Witold Molik: Die deutschen Universitaeten aus der Sicht polnischer Studenten 1871-1914

Piotr Huebner: Neue Universitaeten in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg - ideelle und organisatorische Konzepte

Andras Cser: Language and linguistics at the University of Pest in the 19th century

Lucian Nastasa: Die Unmoeglichkeit des Andersseins. Ueberlegungen zum universitaeren Antisemitismus in Rumaenien 1920-1940

Marius Lazar: "Akademisches" und "nicht-akademisches" Denken. Die Philosophie in Rumaenien zwischen den beiden Weltkriegen

Andrej Ju. Andreev: Die "Goettinger Seele" der Universitaet Moskau. Zu den Wissenschaftsbeziehungen der Universitaeten Moskau und Goettingen im fruehen 19. Jahrhundert

Sirje Tamul: Zur Studentenschaft der russifizierten Universitaet Tartu 1883-1918

Michail D. Karpaæev: Die Universitaet Voronez in den Jahren ihrer Konstituierung 1918-1931

Oleg A. Janovski: Die Gruendung der Weissrussischen Staatsuniversitaet 1921 und ihre Rektoren bis 1937

Vladimir V. Kravæenko: Die Gruendung der Universitaet Charkov. Zu einigen historiographischen Mythen

Sergij Stelmach: Die Entstehung der Professorenkorporation an der Universitaet Kiev 1834-1917

Christoph Jahr: Die "geistige Verbindung von Wehrmacht, Wissenschaft und Politik": Wehrlehre und Heimatforschung an der Friedrich-Wilhelms-Universitaet zu Berlin 1933-1945

Martin Kintzinger: Die Artisten im Streit der Fakultaeten. Vom Nutzen der Wissenschaft zwischen Mittelalter und Moderne

II. Editionen

Franticek Õmahel: Zwei Vorlesungsverzeichnisse zum Magisterium an der Prager Artistenfakultaet aus deren Bluetezeit 1388-1390

Andrej Ju. Andreev: Im Dienst der Stadt, nicht des Feindes. Brief des Professors fuer Kriminalrecht an der Universitaet Moskau, Christian Julius Steltzer, an den Rektor Ivan A. Heim vom 25. - 27. Oktober 1812

III. Miszellen

Ryszard Terlecki: Die "Fliegenden Universitaeten" und unabhaengige Bildungsinitiativen in Polen unter kommunistischer Herrschaft

Sandor Szilagyi: "Ein unzensiertes Selbstbildungsforum." Die "Freie Montagsuniversitaet" in Budapest 1978-1985

Michail L. Gasparov: "Wissenschaft hat ein Recht auf groessere Oeffentlichkeit." Die Hausseminare bei A. K. Øolkovskij und E. M. Meletinskij: Aus der Geschichte der Philologie in Moskau 1976-1983

IV. Rezensionen

Hans-Christof Kraus: Rechtswissenschaftsgeschichte als Zeitgeschichte. Zu einigen neueren Veroeffentlichungen

Matthias Stickler: Neuerscheinungen zur Studentengeschichte seit 1994. Ein Forschungsbericht ueber ein bisweilen unterschaetztes Arbeitsfeld der Universitaetsgeschichte

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