Buchpreis: Essay Kategorie Neuere Geschichte (19. Jh.)

Von
Ewald Frie

Essay von Ewald Frie, Universität Trier

Preußen hat Deutschland geschlagen. Mit komfortablem Vorsprung gewinnt Christopher Clarks "Iron Kingdom" den H-Soz-u-Kult-Buchpreis in der Kategorie 19. Jahrhundert. Sebastian Conrads Globalisierungsgeschichte des Kaiserreichs und Martin Kohlrauschs Studie über Wilhelm II. und die Massenmedien folgen in respektvollem Abstand. Auf Platz vier sehen wir eine Aufsatzsammlung Gangolf Hübingers zur Intellektuellengeschichte, deren Schwerpunkt ebenfalls in der wilhelminischen Zeit liegt. Miloš Vecs Untersuchung der völkerrechtlichen, nationalrechtlichen und gesellschaftlichen Normsetzung in der Industriellen Revolution greift auf Platz fünf zeitlich und räumlich wieder weiter aus.

Der Siegertitel ist ein schönes Beispiel für Overseas History – nur anders herum. Christopher Clark ist Australier und hat seinen PhD in Harvard erworben. Er betrachtet die preußische Geschichte mit der Neugier des Hinzugekommenen. In die geradezu klassischen preußisch-deutschen Interpretationskontroversen ist er nicht involviert. Seine Interpretationen sind nicht unstrittig – Hartwin Spenkuch hat sich in einer H-Soz-u-Kult-Rezension intensiv mit ihnen auseinandergesetzt. Overseas History bedeutet auch, sich durch intensive Quellen- und Literaturstudien zu erarbeiten, was an quasinatürlichem Vorverständnis fehlt. Clarks Buch profitiert enorm von der Mischung aus quellenbasierter Detailschilderung, literaturgestützter Analyse und dem vorsichtigen Ziehen größerer Linien.

Clarks Buch hätte auch in der Frühen Neuzeit prämiert werden können. Denn seine Aufmerksamkeit gilt ebenso dem 18. wie dem 19. Jahrhundert. Preußen ist ihm das Muster frühneuzeitlichen Vorstellung des Staates als Kunstwerk und Produkt herrschaftlichen Willens. Das durch Krone, Militär und Bürokratie zusammengehaltene Staatskunstwerk war den Vergesellschaftungsformen des 19. Jahrhunderts, Religion und Nation, letztlich nicht gewachsen. Sein Aufgehen in Deutschland, 1848 von Friedrich Wilhelm IV. verkündet und 1871 von Bismarck vollzogen, war Rettung und Untergang zugleich. Das 20. Jahrhundert wird im letzten Kapitel "Endings" abgehandelt. Während deutsche Historiker dazu neigen, preußische Geschichte auf die Reichsgründung, den Ersten Weltkrieg oder den Nationalsozialismus zuzuschreiben, liegt für Clark das Eigentliche der preußischen Geschichte eher um 1800. Danach begann der Kunststaat Traditionen auszubilden, die seiner Zukunft mehr und mehr im Wege standen. Die Traditionen verselbständigten sich nach der Verschmelzung ("Merged into Germany" heißt das vorletzte Kapitel) Preußens mit Deutschland. Für die Verwendungszwecke dieser Traditionen im 20. Jahrhundert ist Preußen nach Clark nicht mehr verantwortlich zu machen.

Die Jury hat ein Buch auf den Spitzenplatz gesetzt, das alle Chancen hat, ein Klassiker zu werden. Bei der DVA ist es inzwischen auf Deutsch unter dem Titel „Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947“erschienen. Gut möglich, dass es die preußische Geschichte in die Arbeitszimmer der Geschichtslehrer und die Wohnzimmer der Geschichtsfreunde trägt. Die auf den Plätzen zwei bis fünf folgenden Titel sind von anderem Zuschnitt. Sie bedienen eher den historiographischen Binnendiskurs. Drei von ihnen sind akademische Qualifikationsarbeiten. Doch der erste Eindruck täuscht. Sebastian Conrad, Martin Kohlrausch, Gangolf Hübinger und Miloš Vec eröffnen nicht nur neue Perspektiven vor allem auf die deutsche Geschichte des letzten Jahrhundertdrittels als Teil einer transnationalen Geschichte der Moderne. Sie tun dies auch in einer menschenfreundlichen Sprache. Und wer glaubt, dass Schrauben- und Gewindestandardisierungen oder die Anwerbung chinesischer Arbeiter für die deutsche Landwirtschaft für die Geschichtswissenschaft unerheblich seien, kann sich in diesen Büchern eines Besseren belehren lassen.

Nachdenklich stimmt die chronologische Schwerpunktsetzung der preisgekrönten Bücher. Clark greift weit aus. Die anderen Preisträger konzentrieren sich auf die zweite Jahrhunderthälfte bzw. das letzte Jahrhundertdrittel. Ist es nach wie vor das Kaiserreich, das uns fasziniert – und sei es auch als Teil einer europäischen oder Weltgeschichte der Jahrhundertwende? Und wenn nicht, ist dann der Jahrhundertanfang wie bei Clark das eigentliche Faszinosum? Was aber war zwischen Anfang und Ende? Wo bleiben die deutschen Victorian Studies?

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2007“ wurden in der Kategorie Neuere Geschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Clark, Christopher: Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia, 1600 - 1947, London u.a. 2006. Rezension von Hartwin Spenkuch, H-Soz-u-Kult, 05.12.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-174>.
2. Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006. Rezension von Ulf Engel, H-Soz-u-Kult, 14.09.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-088>.
3. Kohlrausch, Martin: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Rezension von Michael Epkenhans, H-Soz-u-Kult, 17.01.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-036>.
4. Hübinger, Gangolf: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006. Rezension von Roland Ludwig, H-Soz-u-Kult, 01.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-093>.
5. Vec, Miloš: Recht und Normierung in der industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, Frankfurt am Main 2006. Rezension von Monika Dommann, H-Soz-u-Kult, 27.09.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-225>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Neuere Geschichte (19. Jh.), In: H-Soz-Kult, 18.07.2007, <www.hsozkult.de/text/id/texte-919>.
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Weitere Informationen
Sprache