G. Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit

Cover
Titel
Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte


Autor(en)
Hübinger, Gangolf
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Ludwig, Maintal

Gangolf Hübinger hat sich mehrfach und auf unterschiedliche Art und Weise mit der Verknüpfung von Intellektuellengeschichte und Wissenschaftsgeschichte beschäftigt. Diese Aufsätze sind in dem vorliegenden Band zusammengefasst und um eine Einleitung und zwei Kapitel ergänzt worden. Hübingers Ansatz ist biografisch wie auch problemgeschichtlich.

Nicht der in der deutschen kulturgeschichtlichen Tradition vorhandene Gegensatz von Gelehrten und Intellektuellen interessiert Hübinger, sondern er stellt in seinem Aufsatzband die Figur des „politischen Professors“, des „Gelehrtenpolitikers“, den er als Typus mit der Bezeichnung „Gelehrten-Intellektueller“ als weniger ideologisch verbraucht und deswegen besser getroffen sieht, in den Fokus seiner Erörterungen. Vor dem Hintergrund des Umbaus der Universitäten im 19. Jahrhundert, zu dem die Umwandlung des ordentlichen Professors zum Staatsbeamten gehörte, bildete sich dieser neue Typus eines zum Konflikt mit dem Staat bereiten deutschen Professors heraus. Der politische Professor zeichnete sich nicht nur durch politisches Engagement, sondern auch durch ein Streben nach Öffentlichkeit aus. Trotz aller Restriktionen und Disziplinierungsmaßnahmen war im 19. Jahrhundert das politische Engagement vieler Professoren unübersehbar – hier seien als Stichworte nur genannt der Protest der Göttinger Sieben von 1837 gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover und das politische Eingreifen einer Reihe Professoren in den Landtagen und der deutschen Nationalversammlung 1848.

Hübinger wirft in seinem einleitenden Beitrag grundsätzliche Fragen zum Gelehrten-Intellektuellen, den er vom rein gouvernementalen und vom revolutionären Typus abgrenzt, auf. Hübingers Hinweis zum spezifischen Intellektuellen, der in der Spannung zwischen Wissenschaft als Beruf und Politik als zivilbürgerlicher Verpflichtung steht, deutet bereits auf Hübingers Prototyp der Verbindung von Wissenschaft und Politik – Max Weber – hin. Der Gelehrtentypus, der seine akademische und wissenschaftliche Autorität in politisch-gesellschaftliche Debatten miteinbrachte, fand in 1) Johann Gottlieb Fichte, 2) Friedrich Christoph Dahlmann und Heinrich von Treitschke, 3) Gustav Schmoller und eben Max Weber, 4) Friedrich Meinecke typische Vertreter aufeinanderfolgender Generationen, wobei letzterer bereits ein gestörtes Verhältnis zur aktiven Politik hatte.

Hübingers Aufsätze zu Georg Gottfried Gervinus, Theodor Mommsen, Max Weber, Ernst Troeltsch, Rudolf Hilferding und Gustav Radbruch, aber auch zur politischen Wissenschaft im Historismus, zur Kulturgeschichtsschreibung Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, zu den Geschichtsmythen im völkischen Spektrum der deutschen Gesellschaft und bei revolutionär-konservativen Intellektuellen im oben genannten Zeitraum werden durch ein für die Neupublikation geschriebenes Schlusskapitel über Gelehrten-Intellektuelle im Strukturwandel der Öffentlichkeit ergänzt. Dort heißt es: „Eine Aufwertung erfuhr die Figur des Gelehrten-Intellektuellen durch die Erhebung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, der Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno, in den Rang einer intellektuellen Gründungsinstanz der Bundesrepublik Deutschland“(S. 245). Die Konjunktur der öffentlichkeitswirksamen Rolle der Gelehrten mag auch nach 1945 angedauert haben, Hübingers Thema ist die Nachkriegszeit allerdings nicht.

Sein Schwerpunkt liegt beim Historismus des 19. Jahrhunderts und bei dem Umbruch um 1900. Es war der Typus des Gelehrten-Intellektuellen der „Achsenzeit moderner Wissenschaft“ (1880-1930), eines Zeitraums, in dem „Erfahrung und Deutung der Moderne wissenschaftlich reflexiv und intellektuell selbstkritisch geworden“ (S. 19) ist, der eine ausgesprochen bedeutungsvolle Rolle für die Öffentlichkeitswirksamkeit von Wissenschaft und Politik spielte. Hübinger, der bereits in seiner Dissertation über Politik und Geschichte bei Gervinus dem Problemfeld des öffentlichen Engagements des Gelehrten seine Aufmerksamkeit widmete, hat das Spannungsverhältnis von intellektueller Tätigkeit und politischem Engagement, auch zwischen „Kritik und Mandat“, so der Titel eines von ihm mitherausgegebenen Buches, immer wieder ins Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit gestellt. 1 Hübinger erklärt seine These einer Genealogie „Mommsen-Weber“; Theodor Mommsen und Max Weber hatten offensichtlich mehr gemeinsam als dieselbe Wohnstrasse und die Verbindung über politische Geselligkeiten beider Familien. Es ist der gleiche intellektuelle Habitus, den Hübinger betont.

„Massendemokratisierung“, Leserevolution, Expansion des Lesemarktes, Expansion der Universitäten und neue Intellektuellenkarrieren sind Stichworte, in denen der Umbruch des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht werden. Nicht nur, dass zum Gelehrten und Schriftsteller der Journalist und freie Publizist trat, sondern der Intellektuelle wurde zu einer alltäglichen Erscheinung. Der strukturelle Wandel bedeutete für den Typus des Gelehrten-Intellektuellen, dass nach dem Ersten Weltkrieg die „öffentliche Deutungs- und Sprecherrolle“ (S. 239) vom etablierten Wissenschaftler auf den freien Publizisten und Literaten überging – noch Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke hatten als Gelehrten-Intellektuelle Ende des 19. Jahrhunderts die öffentliche Meinungsführerschaft mit zweifellos gegensätzlichen Identifikationsmöglichkeiten eingenommen. Im Endstadium des Historismus markierten sie in ihrer Polarisierung – die allein in ihrer Einschätzung Bismarcks überaus deutlich hervortrat – „zum letzten Mal eine derartige öffentliche Konzentration auf Universitätseliten“ (S. 239). Die Krise des Historismus bestand nicht nur aus einer wissenschaftsinternen Komponente, sondern bedeutete auch für eine breitere Öffentlichkeit eine Veränderung. Sie brachte „die Verlagerung des öffentlichen Geschichtsdiskurses in den außerwissenschaftlichen Raum“ (S. 239), die die heute alltägliche Präsenz der Gelehrten-Intellektuellen in den Medien vorbereitete, mit sich.

Die Kreation und Zirkulation von Ideen wird von Intellektuellen betrieben, sie sind es, die Europa als einen „politischen Kommunikations- und Erfahrungsraum“ (S. 24) schufen, aber ohne die Expansion der Massenmedien im Kontext der Demokratisierung und Ausdehnung von Bildung und Kultur, wäre die Ideenproduktion kaum in dieser Form möglich geworden.

Was Hübinger ausspart, ist die Vorgeschichte, zu der die Medienrevolution der Reformation, aber auch der Intellektuelle als Ideengeber und –vermittler des Absolutismus zählt. Ein Manko scheint die weitgehende Vernachlässigung der Forschungsliteratur zum politischen Professor des 19. Jahrhunderts zu sein, die Hübinger aber durch seinen problemorientierten Zugriff und durch kenntnisreiche biografische Beiträge ausgleicht.

Anmerkung:
1 Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen seien hier genannt: Hübinger, Gangolf, Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und Politische Kritik, Göttingen 1984; ders.; Hertfelder, Thomas (Hgg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Politik, Stuttgart 2000.

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