E. Bünz u.a. (Hrsg.): Klerus, Kirche und Frömmigkeit

Cover
Titel
Klerus, Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Schleswig-Holstein.


Herausgeber
Bünz, Enno; Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim
Reihe
Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 41
Erschienen
Neumünster 2006: Wachholtz Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Rüdiger, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die mittelalterliche Kirchengeschichte hat einen schweren Stand in diesen Zeiten. Auf der einen Seite hat sie stets mit dem Attraktivitätsdefizit zu kämpfen, das ihr aus der deutschen mediävistischen Tradition katholisch-ultramontaner Reserve gegenüber den Zumutungen des protestantischen Machtstaates anhaftet und sie jeder neuen Historiker/innengeneration zuerst als ein staubiger Wirrwarr fern jeder Lebensweltlichkeit erscheinen lässt. Auf der anderen Seite wird neuerdings ihr Gegenstand von den Säkularisierungsgewinnern in Wirtschaft, Politik und Medien zunehmend in den Generalverdacht obskurantistischer Unappetitlichkeit gerückt und für alle möglichen Übel dieser Welt verantwortlich gemacht. Kein Wunder, dass die attraktivsten und trendigsten Themen seit Jahrzehnten in der Laiengesellschaft gefunden werden. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die zunehmende Bedeutung der Religiosität in unserer Gegenwart der Mediävistik die Chance eröffnet, durch entsprechende Schwerpunktsetzung ihre ureigenen Kompetenzen zum Einsatz zu bringen und damit – wenn sie es denn überhaupt will – den Weg zurück aus der (heute auch nicht mehr allzu behaglichen) Nische ins Zentrum der Debatte zu finden.

In den nordeuropäischen Ländern mit ihrer raschen, tief greifenden und umfassenden Lutherisierung sind die Wege der Forschung besonders mühevoll. Die in letzter Zeit unternommenen Vorhaben stehen einer soliden antiklerikalen Tradition gegenüber, die den Stand der Grundlagen- und der Detailforschung ebenso beeinträchtigt wie die Empfänglichkeit der Forschungslandschaften für kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Ansätze.1 In dieser Lage sahen sich auch der Leipziger Landeshistoriker Enno Bünz und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt vom hamburgischen Staatsarchiv als Organisatoren einer Tagung im Herbst 2003 über Klerus, Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Schleswig-Holstein, die den Aufbruch zu einer vom ‚Verfallsparadigma’ gelösten Untersuchung insbesondere des spätmittelalterlichen Niederklerus markieren sollte und deren Ergebnisse jetzt im Druck vorliegen.2

Eröffnend beschreibt Wolfgang Petke die mittelalterliche Pfarrei als „ein Institut und eine Forschungsaufgabe von langer Dauer“, charakterisiert in einiger Ausführlichkeit die Forschungsgeschichte und den Forschungsstand und benennt unter Verwendung der nordelbischen Ergebnisse der an seinem Göttinger Forschungsschwerpunkt entstandenen Untersuchungen einige hauptsächliche künftige Felder. Lars Bisgaard von der Universität Odense, der mit seinen Forschungen zu den spätmittelalterlichen Gilden und Bruderschaften 3 für die dänische Mediävistik Bahnbrechendes geleistet hat, schildert die wissenschaftsgeschichtlichen Konjunkturen, unter denen sich die Kirchengeschichte in Dänemark aus der älteren, eingangs für alle lutherischen Länder konstatierten Marginalität und intellektuellen Schwerfälligkeit hat lösen können. Während die Beziehungen zur Kurie aufgrund intensiver Auswertung neuer Quellenbestände seit einiger Zeit mit großem Nachdruck erforscht werden 4, ist auf lokal-regionaler Ebene die seit den 1970er-Jahren verbreitete Vorstellung von einer nur teilweise von der Amtskirche erfassten populären Religiosität auf christlich-magischer Grundlage 5 nunmehr nicht zuletzt aufgrund von Impulsen aus der deutschen Mediävistik durch das Bild einer ‚schichtenübergreifenden’ Vielzahl von Gruppierungen städtischer und ländlicher, klerikaler und laikaler Mitglieder ersetzt worden, das eine so dezentrale wie umfassende Durchdringung von Religion und Gesellschaft zeigt, wodurch der reformatorische Bruch deutlich relativiert wird.

Den Einzeluntersuchungen, die grob zwei Drittel des Bandes umfassen, sind zwei als Überblickskapitel konzipierte Darstellungen des Verhältnisses von „Stadt und Kirche“ in Holstein beziehungsweise Schleswig vorangestellt. Jürgen Sarnowsky konzentriert sich auf die beiden Großstädte Lübeck und Hamburg mit ihrem reichen Material und gewinnt durch ihre Einfügung in den holsteinischen Zusammenhang, der vor dem hansischen oft vernachlässigt wird, einige sehr interessante vergleichende Perspektiven. Abgesehen davon, dass der schiere Größenunterschied (an einer einzigen hamburgischen oder lübischen Pfarrkirche taten dreimal so viele Geistliche Dienst, wie es in anderen holsteinischen Städten insgesamt gab) das Verhältnis Stadt-Kirche schwer modellhaft darstellbar macht, führte die Verflechtung städtischer Eliten mit dem Domklerus beider Großstädte, der den Patronat über die meisten holsteinischen Kirchen besaß, zusätzlich zu gegenläufigen Interessenlinien. Christian Radtke wählt für Schleswig eine andere Herangehensweise und untersucht die wichtigsten Problemfelder – neben der personalen Verflechtung sind dies vor allem die Gilden und die Reformation – anhand je einer Stadt exemplarisch unter exzellenter Verbindung quellennaher Einzelbefunde mit problemorientierter Pointierung.

Die sich anschließenden Studien tragen überwiegend entweder Detail- oder Skizzencharakter, was dem Umstand geschuldet ist, dass sich die umfassend angelegte Erforschung des nordelbischen Niederklerus erst in ihren Anfängen befindet. Dies verdeutlicht einer der beiden Initiatoren, Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, in seinen „Anmerkungen“ zur in Arbeit befindlichen Prosopografie, in denen er Rahmenbedingungen und Material umreißt. Insbesondere der nominell erzbischöflich-bremischen, faktisch selbständigen großbäuerlichen Landschaft Dithmarschen, deren Beschreibung als „Marienland“ jüngst das Bild dieser eigentümlichen Politeia in ein neues Licht gestellt hat6, wendet sich Enno Bünz zu, der seine Darstellung, die Züge einer Projektskizze trägt, über weite Strecken bereits als nuanciertes Bild pfarrklerikaler Lebenswelten zwischen ökonomisch hoch stehender Bauernschaft und fernem Domkapitel zeichnen kann.

Die Aufsätze der Initiatoren sind umgeben von Ergebnisstudien, die zum Teil bereits denselben Forschungsinteressen entstammen, so etwa dem hochinteressanten Schlaglicht, das Stefan Petersen aufgrund des Materials seiner Göttinger Dissertation über die Benefizientaxierung im Bistum Ratzeburg auf die Schreibfähigkeit von Geistlichen dieser kleinen Diözese südöstlich von Lübeck um 1300 werfen kann. Ein klassisches Thema, die materielle Ausstattung der Pfarrstellen, untersucht Günther Bock anhand einiger gut gewählter kontrastierender holsteinischer Beispiele, wodurch die beträchtlichen Unterschiede zwischen Kirchspielen in unmittelbarer Stadtnähe (Eppendorf bei Hamburg), den extrem großen holsteinischen „Urkirchspielen“ und den eher kleinen Kirchspielen im altslawischen Expansionsland greifbar werden. Auf der Suche nach den immateriellen Aspekten dies- und jenseitiger Lebenswelten nutzt Klaus Krüger seine Kenntnisse spätmittelalterlicher Grabdenkmäler zu ikonografischen Schlüssen über Selbstdarstellung der Kleriker und Selbstdarstellung des Klerus auf Grundlage eines großen Corpus, während Heinrich Dormeier, von einem Grabdenkmal in der Lübecker Ratskirche St. Marien ausgehend, die Stiftungen eines „Bankiers und Großkaufmanns“ um 1500 untersucht.7 Da es sich bei dem aus Westfalen nach Lübeck eingewanderten Kaufmann, dessen Stiftungen südliche (Renaissance-)Einflüsse aufweisen, um den „Leit[er] der Fuggerfiliale in Lübeck“ (S. 280) handelt, gewinnt die Untersuchung einige Bedeutung für die Frage nach den Modalitäten des spätmittelalterlichen Kulturkontakts zwischen Niedersachsen und Oberdeutschland.

Eine andere Facette dieser Frage beleuchtet in dem einzigen Beitrag über das Pilgerwesen Andreas Röpcke, der bereits durch seine Studien zum bremischen Diözesanheiligen Willehad hervorgetreten ist 8, mit seinen Anmerkungen zu nordelbischen Wallfahrern zum heiligen Theobald (nordeuropäisch: Ewald/Enevold) ins elsässische Thann und betont damit zu Recht die Vielfalt spätmittelalterlichen Pilgerns auf der Ebene zwischen den lokalen und den „großen“ Zielen. Die reiche Überlieferung ermöglicht Wolfgang Prange in seiner Studie über den lübischen Domgeistlichen Johannes Gadeking eine so plastische Darstellung eines „ganz gewöhnliche[n]“ (S. 191) Vikars, seines Bildungswegs, seiner Hoffnung auf eine Dauerstelle, seiner Sorge um die Eintreibung des Einkommens, der körperlichen Belastung durch den täglichen Chordienst und der Verhältnisse am Arbeitsort Domkirche mit ihren nahezu hundert geistlichen Dienstleistern, dass sie an dieser Stelle zum Gebrauch in der Lehre empfohlen sei.

Sind die bereits gewonnen Punktergebnisse also teilweise sehr befriedigend, so ist insgesamt doch zu vermerken, dass die Vorbehalte der Herausgeber – die sich von diesem Band vor allem „Impulse“ für die künftige Forschung erhoffen (S. 14) – zu Recht bestehen. Brigide Schwarz schließt ihren reich dokumentierten Überblick über Nordelbiens Anteil am spätmittelalterlichen Pfründenmarkt, der die einschlägigen Einzelheiten aus einer gesamtdeutschen Schau versammelt, mit einem Abriss der elektronisch verbesserten Quellenlage und dem Aufruf: „Machen Sie sich ans Werk!“ (S. 150) Die Arbeit hätte demnach kaum begonnen. Es muss sich also noch erweisen, ob Enno Bünz’ forschungsstrategisch richtige Einschätzung, neue Erkenntnisse zum mittelalterlichen Pfarrklerus seien in erster Linie auf landesgeschichtlicher Basis zu gewinnen, sich forschungspraktisch umsetzen lässt. Handelt es sich lediglich um das Ansammeln von Befundmengen, mit denen Forschungslücken aufgefüllt werden sollen – oder wird sich die notwendige Quellenarbeit von theoretisch fundierten Fragestellungen leiten lassen, so dass durch geschickte Kontextualisierung die Frage nach „Geschichtsräumen“, nach regionaler Eigenart und transregionaler Gemeinsamkeit beantwortet werden kann? Und kann nicht gerade die landesgeschichtlich-bodennahe Forschung den Blick schärfen für das Funktionieren einer zutiefst von Religiositätsformen durchdrungenen europäischen Gesellschaft? Der Fortgang der Forschung muss dies zeigen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Bisgaard, Lars, Tjenesteideal og fromhedsideal. Studier i adelens tænkemåde i dansk senmiddelalder, København 1988; Imsen, Steinar (Hg.), Ecclesia Nidrosiensis 1153-1537. Søkelys på Nidaroskirkens og Nidarosprovinsens historie, Trondheim 2003.
2 Tagung des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, Koppelsberg bei Plön, 31.10.-2.11.2003; vgl. den Tagungsbericht von Bünz, Enno; Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim, in: H-Soz-u-Kult, 12.11.2003 (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=324>), und dies., Zu den geistlichen Lebenswelten in Holstein, Lauenburg und Lübeck zwischen 1450 und 1510, in: Jakubowski-Tiessen, Manfred (Hg.), Geistliche Lebenswelten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Neumünster 2005, S. 11-57.
3 Bisgaard, Lars, De glemte altre. Gildernes religiøse rolle i senmiddelalderens Danmark, Odense 2001; ders.; Søndergaard, Leif (Hgg.), Gilder, lav og broderskaber i senmiddelalderens Danmark, Odense 2002.
4 Vgl. Ingesman, Per, Provisioner og processer. Den romerske Rota og dens behandling af danske sager i middelalderen, Århus 2003, sowie zahlreiche Aufsätze desselben Verfassers.
5 Vgl. einflussreich: Wittendorff, Alex, På Guds og herskabs nåde, København 1990, 2. Aufl. 2003.
6 Hansen, Reimer, Marienland Dithmarschen. Die Mutter Gottes als Schutzheilige der Bauernrepublik, in: ders., Aus einem Jahrtausend historischer Nachbarschaft. Studien zur Geschichte Schleswigs, Holsteins und Dithmarschens, hgg. von Uwe Danker u. a., Malente 2005, S. 73-92.
7 Vgl. schon: Dormeier, Heinrich, Immigration und Integration, Laienfrömmigkeit und Kunst in Lübeck um 1500: Der Großkaufmann und Bankier Godert Wiggerinck († 1518 April 24), in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 85 (2005), S. 93-165.
8 Röpcke, Andreas, Willehad. Das Leben des hl. Willehad, Bischof von Bremen, und die Beschreibung der Wunder an seinem Grabe, Bremen 1982.

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