Klerus, Kirche, Frömmigkeit im mittelalterlichen Schleswig-Holstein

Klerus, Kirche, Frömmigkeit im mittelalterlichen Schleswig-Holstein

Organisatoren
Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins; Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte der Universität Leipzig
Ort
Koppelsberg (bei Plön)
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.10.2003 - 02.11.2003
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Von
Enno Bünz und Klaus-J. Lorenzen-Schmidt

Auf Einladung des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins (Dr. Klaus-J. Lorenzen-Schmidt) und des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte der Universität Leipzig (Prof. Dr. Enno Bünz) traf sich eine Reihe namhafter Forscher aus Deutschland und Dänemark zu einer Tagung über Klerus, Kirche und Frömmigkeit im mittelalterlichen Schleswig-Holstein. Im Mittelpunkt standen dabei die vorreformatorischen Verhältnisse, die von der kirchenhistorischen und der landesgeschichtlichen Forschung Schleswig-Holsteins bislang weitgehend vernachlässigt worden sind. Die Tagungsorganisatoren erhofften sich von dieser Zusammenkunft thematische Anstöße und methodische Neuansätze für die weitere Forschung im Lande und sind in ihren Erwartungen nicht enttäuscht worden.

Begrüßt wurden die Teilnehmer von Prof. Dr. Enno Bünz (Leipzig), der die desolate Forschungssituation nördlich der Elbe hervorhob und darauf hinwies, daß auch die relativ neue mehrbändige Kirchengeschichte des Landes den Zuständen vor der Reformation nicht einmal im Ansatz gerecht wird. Grund dafür sind in Schleswig-Holstein wie auch in anderen protestantisch geprägten Regionen die besonderen kirchengeschichtlichen Forschungstraditionen, die von einer weithin ablehnenden Haltung gegenüber den kirchlichen Verhältnissen des Mittelalters geprägt sind. Bünz wies aber auch darauf hin, dass die angesprochene Thematik mittlerweile jenseits aller konfessionellen Positionen behandelt werden kann und seit geraumer Zeit ein wichtiges Arbeitsfeld der Mittelalterforschung darstellt. Neue Einsichten sind vor allem von der landesgeschichtlichen Forschung zu erwarten.

Der Eröffnungsvortrag in der ersten Tagungssektion "Der niedere Klerus als Forschungsaufgabe" von Prof. Dr. Wolfgang Petke (Göttingen) behandelte das Thema: "Die Pfarrei - ein Institut und eine Forschungsaufgabe von langer Dauer". In einem fundierten und problemorientierten Überblick skizzierte er die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen und verwies auf die vielfältigen besonderen Formen und regionalen Ausprägungen, die für die auf Dauer eingerichtete und für die Seelsorge bestimmte Institution der Pfarrei kennzeichnend sind. Während beispielsweise für Frankreich und Italien erste Synthesen vorliegen, ist die Erforschung der mittelalterlichen Pfarrei in Deutschland durch eine kaum noch überschaubare Fülle von Einzelstudien bestimmt. Dabei konnte der Referent auf eine Reihe von Untersuchungen zu verschiedenen deutschen Regionen und Städten (z.B. Bistum Ratzeburg und Stadt Hamburg) zurückgreifen, die u.a. von ihm in Göttingen angeregt worden sind. Die bisherige Forschung in Deutschland hat sich vor allem auf vier Themenbereiche konzentriert: die Kirchenorganisation (Anzahl und Wert der Benefizien), die Sozialgeschichte des Klerus, die vielfältigen Formen der Frömmigkeit (Stadt und Kirche, Einfluss der Laien, u.a. auf die Kirchenfabrik, Ablasswesen) und die Bedeutung von Pfarrkirche und Friedhof für die Kommunikation. Problematisiert wurde u.a. der Terminus "Niederklerus", gab es doch beispielsweise zahlreiche Pfarrgeistliche, die zugleich Domherren waren. Den zweiten Vortrag hielt Ph. D. Lars Bisgaard (Odense) über "Niederklerus und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Dänemark". Er bemängelte das nur geringe Interesse der dänischen Geschichtswissenschaft an diesem Thema und machte dafür die bereits eingangs von Enno Bünz angeführte Distanz der protestantischen Kirchengeschichte zu Erscheinungsformen der vorreformatorischen Kirche verantwortlich. Seit einigen Jahren ist aber ein Wandel der Forschungsinteressen erkennbar. Beispielsweise wurden durch Ingesman die Beziehungen Dänemarks zur päpstlichen Kurie im späten Mittelalter erforscht, und Bisgaard selbst hat sich vor allem mit den Gilden, Bruderschaften und Zünften beschäftigt. Welche herausragende Rolle diese im Zusammenhang mit Vikariestiftungen in Dänemark gespielt haben, machte der Referent deutlich.

In der zweiten Sektion über "Stadt und Kirche" sprach Prof. Dr. Jürgen Sarnowsky (Hamburg) über "Stadt und Kirche in den spätmittelalterlichen Städten Holsteins", wobei er sich vor allem auf die Städte Hamburg und Lübeck konzentrierte. Neben den dortigen Domkapiteln wurden auch die Pfarreien, städtischen Klöster und Hospitäler behandelt. Besonderes Augenmerk galt den sozialgeschichtlichen Aspekten, indem nach der Herkunft der Kleriker und ihrer Verflechtung mit der städtischen Gesellschaft gefragt wurde und die Konflikte zwischen städtischer Obrigkeit (Rat) und kirchlichen Institutionen (oftmals ging es um Schulfragen) thematisiert wurden. - Christian Radtke M.A. (Schleswig) behandelte "Stadt und Kirche in den spätmittelalterlichen Städten Schleswigs". Er führte kurz in die kirchliche Organisation ein und widmete sich dann insbesondere den Fragen der Laienfrömmigkeit, die sich in Altarstiftungen und Bruderschaften äußerte. An den Beispielen Flensburg und Schleswig konnte er anschaulich die Struktur und Funktion geistlicher Gemeinschaften für die Religiosität der Zeit beleuchten, vor allem am Beispiel der in Schleswig um 1500 bedeutenden "Rosenkranzbruderschaft" mit ihren mehreren hundert Mitgliedern. Ein Ausblick auf den Verlauf der Frühreformation in den Städten des Herzogtums Schleswigs beschloss den Überblick.

Die dritte Tagungssektion stand unter dem Rahmenthema "Sozialgeschichte der Geistlichkeit" und wurde mit einem Vortrag von Prof. Dr. Brigide Schwarz (Berlin) zum Thema "Weltgeistliche zwischen Ortskirche und päpstlicher Kurie: Nordelbiens Anteil am spätmittelalterlichen Pfründenmarkt" eröffnet. Aufgrund der im "Repertorium Germanicum" gesammelten Informationen über deutsche Kleriker, die sich an der Kurie um Expektanzen, Provisionen und Dispense bemühten, arbeitete sie heraus, daß - im Vergleich zu den Kirchenprovinzen Köln und Mainz - die norddeutschen Diözesen weniger stark am kurialen Pfründenmarkt beteiligt waren. Gleichwohl ist die Auswertung der Registerserien der päpstlichen Kanzlei und der Pönitentiarie von hoher Aussagekraft für die Erforschung der regionalen kirchlichen Verhältnisse, wie u.a. am Beispiel eines "Netzwerks" von Kurialen im Lübecker Domkapitel 1449 herausgearbeitet wurde. - Dr. Klaus-J. Lorenzen-Schmidt (Hamburg) berichtete in seinem Beitrag über "Die Prosopographie des schleswig-holsteinischen Niederklerus im Mittelalter. Stand - Probleme - Perspektiven" über seine Erfassung des nordelbischen Klerus und erste Resultate, die sich aus der Betrachtung der bisher aufgenommenen ca. 8.000 Personen ergeben. Angesprochen wurden u.a. die Praxis bei der Besetzung der Benefizien, die Herkunft der Kleriker, das Problem der Residenzpflicht und die verschiedenen Tätigkeitsfelder der Geistlichen (z.B. Notariat und Kanzleidienst). - Der Vortrag von PD Dr. Klaus Krüger (Halle) behandelte unter dem Titel "Selbstdarstellung der Kleriker und Selbstverständnis des Klerus. Eine Quellenkritik spätmittelalterlicher Grabdenkmäler" die Aussagekraft von Darstellungen auf Kleriker-Grabplatten in Schleswig-Holstein und Mecklenburg. Dabei spielte einerseits die Frage eine Rolle, welche standestypischen Merkmale diese Grabsteine aufweisen. Auf der anderen Seite konnte auch wahrscheinlich gemacht werden, dass bei der Gestaltung einiger Grabsteine die Standesgrenzen bewusst überschritten wurden. Dabei spielte offenbar die Zugehörigkeit der Geistlichen zum Kleriker- und zum Adelsstand eine Rolle. - Einblicke in den Alltag eines Niederklerikers bot Prof. Dr. Wolfgang Prange (Schleswig) in seinem Vortrag "Johannes Gadeking (+ 1521). Lebensverhältnisse eines Lübecker Vikars". Gadekings Biographie läßt sich aufgrund der recht guten Überlieferung des Lübecker Domkapitels, aber auch durch den Fund eines Rechnungsbuches des Geistlichen, in das dieser auch verschiedene persönliche Aufzeichnungen eintrug, in ungewöhnlich umfassender Weise darstellen. Eindrucksvoll wurde deutlich, wie schwierig es für einen Vikar sein konnte, seine Pfründeneinkünfte einzutreiben. Während sich der äußere Lebensgang Gadekings anhand der reichhaltigen Lübecker Überlieferung nachzeichnen lässt, ist seine Persönlichkeit allerdings, wie die vieler seiner Standesgenossen, nur ansatzweise greifbar. - Dr. Stefan Petersen (Würzburg) stützte sich bei der Frage nach der "Schreibfähigkeit von Pfarrern im spätmittelalterlichen Bistum Ratzeburg" auf einen einzigartigen Quellenfundus: anlässlich einer päpstlichen Steuererhebung mussten die Geistlichen des Bistums Ratzeburg 1319 ihre Pfründeneinkünfte taxieren. Die 54 erhaltenen Aufzeichnungen zeigen, dass offenbar viele, gleichwohl nicht alle Pfarrer schreiben konnten. Die Frage, ob es sich bei diesen Dokumenten tatsächlich um Autographen handelt, lässt sich nicht in jedem Fall entscheiden. Mit Überlegungen über die Normen der Klerikerbildung im späten Mittelalter beschloss der Referent seine Ausführungen. - Prof. Dr. Enno Bünz (Leipzig) stellte in seinem Vortrag "Zwischen Landgemeinde und Domkapitel. Der niedere Klerus im spätmittelalterlichen Dithmarschen" die besondere kirchliche Situation dieser Landschaft im späten Mittelalter in den Vordergrund. Obwohl die 20 Pfarreien des Landes wohl durchweg von den bäuerlichen Landgemeinden oder den Geschlechterverbänden gestiftet worden waren, konnte das Hamburger Domkapitel sein Patronatsrecht bis 1523 behaupten. Die Folge war, dass ein Großteil der Pfarrkirchen von Vikaren, Vizerektoren und Vizeplebanen geleitet wurden, wie eine Urkunde von 1513 belegt. Ausführungen zur Herkunft und Bildung dieser Pfarrgeistlichen schlossen sich an. Außerdem wurde herausgearbeitet, welchen Anteil Weltgeistliche an der Verwaltung der Kirchspiele und der Bauernrepublik vor der Reformation hatten. Zur Sozialgeschichte des spätmittelalterlichen Niederklerus in Dithmarschen, die noch weitgehend unerforscht ist, kündigte der Referent eine Untersuchung an.

Am Freitag ermöglichte eine längere Mittagspause den Tagungsteilnehmern, unter der sachkundigen Führung von Christian Radtke die Pfarrkirche in Bosau am Plöner See zu besichtigen. Das Bauwerk, im Kern aus dem 12. Jahrhundert, vermittelt noch eine Vorstellung von der Wirkungsstätte des Pfarrers Helmold, der dort um 1170 seine "Slawenchronik" verfasst hat. Der Besuch der Kirche und der archäologisch-historisch gut erforschten Siedlungskammer Bosau bot eine willkommene Bereicherung des Tagungsprogramms.

Die vierte Sektion stand unter der Überschrift "Geistliche und Laien zwischen Kirche und Welt". Hier referierte zunächst Prof. Dr. Heinrich Dormeier (Kiel) über "Pest, Laienfrömmigkeit und Bruderschaftswesen in Lübeck um 1500: Die Stiftungen des Kaufmanns Godart Wiggeringk". Die prachtvolle Grabplatte aus der Werkstatt Peter Vischers in Nürnberg und zahlreiche Ausstattungsstücke, die z.T. Kriegsverlust sind, zeigen, dass der aus Westfalen stammende Wiggeringk der Marienkirche im ausgehenden Mittelalter seinen Stempel aufgedrückt hat. Seine Handelsbeziehungen nach Nürnberg erklären, warum Wiggeringk 1511 eine der treibenden Kräfte bei der Gründung der St. Rochus-Bruderschaft in Lübeck gewesen ist. Damit hat er in der Hansestadt am Ende des 15. Jahrhunderts der Verehrung des Pestheiligen zum Durchbruch verholfen. - Dr. Andreas Röpcke (Schwerin) berichtete über "Den Heiligen Theobald und die Wallfahrt nach Thann - norddeutsche Aspekte". Die Verehrung des hl. Theobald (auch Enewald, Ewald u.ä. genannt) war in Norddeutschland besonders weit verbreitet; Bruderschaften, Altarstiftungen und Wallfahrten (meistens mit den Stationen Aachen - Thann - Einsiedeln) sind allenthalben (bis auf Bremen) zu verzeichnen. Von den Wunderberichten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts im Mirakelbuch von Thann bezieht sich gut ein Viertel auf Pilger aus Schleswig-Holstein. Die Aufzeichnungen vermitteln ein lebendiges Bild von den Bedrängnissen der Menschen, die sich Hilfe von St. Theobald erhofften und verdeutlichen den überregionalen Einzugsbereich der Wallfahrt. Das mittelalterliche Wallfahrtswesen Schleswig-Holsteins und die damit verbundenen Formen der Laienfrömmigkeit sind erst ansatzweise erforscht. - Schließlich konnte Günther Bock (Schmalenbeck) aufgrund umfassender Kenntnis der regionalen Überlieferung vor allem Stormarns ein bisher wenig erforschtes, aber grundlegendes Problem der kirchlichen Zustände einer Lösung näherbringen. Unter dem Titel "Pfarrei und Wirtschaft: Zur materiellen Versorgung von Pfarrstellen in Holstein und Stormarn" berichtete er über die drei ganz unterschiedlich ausgestatteten Pfarreien Eppendorf, Nortorf und Kuddewörde anhand von Quellen des 14. bis 16. Jahrhunderts. Manche Pfarrer verfügten über einen landwirtschaftlichen Großbetrieb, andere hingegen nur über eine Hufe, die sie möglicherweise selbst bestellen mussten. Der Referent verdeutlichte in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis von geistlichem Amt und Einbindung des Pfarrers in die bäuerlichen Lebensverhältnisse.

Insgesamt zeigte die in angenehmster Atmosphäre verlaufende Tagung auf hohem Niveau, welche vielfältigen Defizite bisher in der Erforschung der spätmittelalterlichen Kirche und ihrer Kleriker für Schleswig-Holstein noch bestehen. Daß dies nicht in erster Linie auf Quellenmangel zurückzuführen ist, wurde deutlich. Die Aufnahme der in anderen Teilen Deutschlands (und seit neuem auch Dänemarks) gegebenen Impulse sollte auch im Land zwischen den Meeren und der "vielfältigen Horizonte" verstärkt geschehen. Mit der Herausgabe eines Tagungsbandes, den beide Veranstalter ankündigten, sollen die Anregungen dieser Veranstaltung auch einer breiteren landeshistorischen Öffentlichkeit zuteil werden.


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