Titel
L'aristocratie médiévale. La domination sociale en Occident (Ve - XVe siècle)


Autor(en)
Morsel, Joseph
Erschienen
Paris 2004: Armand Colin
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ludolf Kuchenbuch, Berlin

Mit diesem Großessay ist eine ausgesprochen innovative und provokative Geschichtswerkstatt zu besichtigen. Da viele Dimensionen des historischen Denk- und Darstellungsgewerbes berührt sind, ist Ausführlichkeit geboten.

Joseph Morsel, Mediävist an der Sorbonne, Autor einer exemplarischen Studie über mittelalterliche Sozialräumlichkeit am Fall der Thüngen, einer fränkischen Adelsherrschaft (13.-16. Jahrhundert), und viel diskutierter Arbeiten über die kritische Neukonzipierung des Bildes vom spätmittelalterlichen Adel (‚noblesse’), über die Genese sozialer Räume und Terminologien und über die Formen und Wirkungen schriftlicher Kommunikation im Mittelalter zieht eine kühne Summe über den grundlegend herrschaftlichen Charakter des christlichen Jahrtausends, mit der er zur kritischen Reflexion über gängige adelsgeschichtliche Konzepte und die vielförmige Einheit der sozialen Macht in Alteuropa einlädt.

Eine standeszentrierte Tatenerzählung ist also nicht zu erwarten. Es geht vielmehr um forschungsrelevantes Raisonnement zur sozialen Synthesis und Transformation der Aristokratie. Nicht um materialer Panoramen willen, sondern zur exemplarischen Beschreibung von Regelhaftem, zur vergleichenden Einordnung der Varianten, zur Kennzeichnung entscheidender Wandlungen und zur Abarbeitung problematischer Lehrmeinungen über bekannte Fälle wird das mediävistische Wissensgut über die Aristokratie breit genutzt. Und zwar mittels eines präzisen Raumkonzepts. Keine Region (oder namhafte Gestalt bzw. Dynastie in ihr) wird monografisch ‚überbelichtet’ und damit zum raumenthobenen Maßstab für andere gemacht, sondern die LeserInnen werden mit Verhältnissen und Wandlungen der Aristokratien von Irland und Portugal bis Ungarn, Norwegen und Polen bis Sizilien konfrontiert. Diese Reichweite illustriert eine Überblickskarte (S. 12f.) und erschließt das Ortsnamenverzeichnis (S. 327-333). Sie bezeugt nicht nur eine immense vielsprachige Lesearbeit (neben sechs lebenden europäischen Sprachen und dem mittelalterlichen Latein auch diverse vernakuläre Regionalidiome), sondern auch eine theoriegeleitete Auswahlleistung. Die ‚bibliographie indicative’ (S. 313-326) bringt dies indirekt zum Ausdruck. Jeder, der die Forschung auch nur eines Autors, über eine Region, über ein Teilproblem kennt, sieht schnell, wie viel Einschlägiges weggelassen werden musste, um die Liste nicht ins Uferlose wachsen zu lassen. Nur das Nötige, nicht das Mögliche, ist aufgeführt – trotzdem eine Fundgrube für ganz verschiedene Prüf- und Vertiefungsinteressen.

Mit dieser räumlichen Verteilung des Wissens folgt Morsel keiner Europa-Konvention, die einer der bestimmenden modernen Wissensdisziplinen, etwa der geografischen, politischen oder sprachlichen, bzw. einem aktuellen politischen oder kulturellen Diskursstrang verpflichtet ist. Vielmehr nimmt er den Okzident als historisch sich wandelnden sozialräumlichen Rahmen ernst, und das kann für ihn nur heißen: als lateinische Christenheit. Die Konsequenz: Zum Okzident gehört, was seit dem 5. Jahrhundert kirchlich eingerichtet ist und bis ins 15. Jahrhundert inkorporiert wird. Der Okzident wird damit doppelt gedacht – Struktur und Wandel sind integriert. In der gröbsten raumzeitlichen Gliederung – Morsel nennt dies „zonation hétérogène, mais structurée“ (S. 9) – heißt dies: Aus den diversifizierten und multiformen spätantiken Wandlungsvorgängen erwächst die vom 7.-9. Jahrhundert dominante Kernregion des Karolingerreiches (zwischen Rhein und Loire), um die herum im 10.-11. Jahrhundert ein erster mehrgliedriger Ring von Regionen an Macht und Wirkung gewinnt (Sachsen und Bayern, Norditalien, Südfrankreich und Nordspanien, Wessex, Dänemark). Seit dem 12. Jahrhundert wird er zu einem großräumigeren Ring erweitert, in dem die ersten Ausprägungen monarchischer Herrschaft im strengen Sinne entstehen (England, Skandinavien, Zentraleuropa, Rom, Süditalien und Sizilien, Spanien und Portugal), die den alten Kernraum (Frankreich, deutsches Reich, Norditalien) bis zum 14. Jahrhundert als Zentrum des Machtgefüges relativieren bzw. herausfordern. Als Anhänger des Le Goffschen Postulats eines langen, bis ins 17./18. währenden Mittelalters kann Morsel den Zeitrahmen seines Essays zur frühen Neuzeit hin offen lassen, ohne sich bei aporetischen Rechtfertigungen eines präzis chronologischen Epochenendes im 15./16. Jahrhundert aufhalten zu müssen – im Übrigen auch eine Konzession an die institutionellen Vorgaben des akademischen Lehr- und Forschungsbetriebs.

Geleitet haben Morsel drei zentrale Prämissen (S. 4-10):

1. Zwischen den traditionellen substantialistischen Konventionen der Zunft, die der beständigen Verwechslung oder Ineinssetzung des Inhalts bzw. Sinns der überlieferten Zeugnisse mit der vergangenen Realität erliegen, aus der sie stammen bzw. von der sie handeln, und den nominalistischen Risiken, die im Fahrwasser neuester medialer ‚turns’ produziert werden, sucht er einen konstruktivistischen Weg. Sein prägnantes Credo: „Die soziale Wirklichkeit, die in sozialen Beziehungen besteht, existiert nicht außerhalb ihrer ideellen Konstruktion, zu der die Sprache und die sozialen Diskurse beitragen und die die sozialen Praktiken aktualisieren.“ (S. 8) Er weiß sich dabei im Grundsatz mit John Wycliff (1373/74) einig. Dessen Einsicht in den relationalen Charakter der Herrschaftsrealität seiner Zeit dient Morsels Buch als Gesamtmotto. Dies zur epistemologischen Positionierung.

2. Allen teleologischen bzw. retrospektiven Sichtweisen aufs Mittelalter, seien sie romantisierender Beschönigung oder aufgeklärter Pejorisierung entsprungen, wird eine radikale Absage erteilt. Hierzu ist die terminologische Opposition von ‚médiéval’ und ‚moyenâgeux’ hilfreich; fachsprachlich einzudeutschen als ‚mittelalterlich’ bzw. ‚mediävali(sti)sch’. Morsel setzt sich kategorisch von allen mediävalisierenden Attitüden ab, die Leitfigurationen wie die ‚Burg’, den ‚Ritter’, das ‚Geschlecht’ oder eben auch den ‚Adel’ als – allein durch die selektive Überlieferung von Folgezeiten prämierte – Traditionsbestände der Gegenwartskultur aufgreifen, um von ihnen aus Herleitungsaufgaben für die Forschung abzuleiten. Die Wissenschaftlichkeit der Mediävistik – und damit das Prädikat ‚mittelalterlich’ – steht und fällt mit der Vorstellung von einem radikal anderen Zeitalter, dem „christianisme médiéval“ als „formation des bases de la domination sociale en Occident“ (S. 8). Diese Basishypothese, die ständig zu diskutieren bleibt, ist den Forschungsfragen, wollen sie streng wissenschaftlich sein, notwendig vorgelagert. Aus ihnen ergibt sich dann die Methodik ihrer Beantwortung. Dies zur fachlichen Rigidität.

3. Schließlich zur Begrifflichkeit. Der Leitterminus Aristokratie ist wissenschaftliches Programm. Das historische, herkömmliche Vokabular – wie Adel, noblesse/nobility, Geschlecht, Herrenstand – wird als zu partikular erkannt. Denn jedes dieser Wörter hat – über seinen besonderen zeitgenössischen Ausgangssinn hinaus – eine nachmittelalterliche „Karriere“ hinter sich, die den Versuch gefährdet, den besonderen Charakter der mittelalterlichen „domination sociale“ adäquat zu fassen. Das griechisch-römische Wort Aristokratie (= Herrschaft der Wenigen, Besten) dagegen war im Mittelalter so gut wie unbekannt. Gerade deshalb lässt es sich nutzen als moderner historischer Allgemeinbegriff („terme global“) zur Bezeichnung der „wenigen Besseren (Großen), die, in ständiger Anpassung an die Zeitläufte, fraglos und kontinuierlich in Land und Stadt herrschen“. Mit dieser Begriffswahl ist die Möglichkeit gegeben, sowohl die funktionalen Spaltungen der Herrschenden (Klerus und Laien in Land und Stadt), ihre internen Rang-, Status-, Besitz- und Dienstunterschiede (vom Erzbischof/Papst zum Mönch, vom rex zum miles) und deren Spannungen und Konflikte um Aufstieg und Abstieg, als auch ihre Gemeinsamkeiten als Herren gegenüber allen Beherrschten als ein Phänomen, wenn nicht das Phänomen spezifisch mittelalterlicher Vergesellschaftung zu beschreiben. Globalbegriffliche Grundlegung und streng empirische Deskription sind aufeinander bezogen.

4. Bevor ich zum Ertrag und zur Gewichtung komme, nur wenige Bemerkungen zur Machart. Neben wirklich hohen Anforderungen an Vorwissen, Abstraktionskraft und Erfahrung der LeserInnen: Es geht Morsel auch um propädeutische Initiation ins mediävistische Fach in seiner Ganzheit, also als multidisziplinärem Gefüge. Dementsprechend gilt jeder Zeugnisart und seiner spezifischen Erschließungsweise gleiche Aufmerksamkeit. Und jeder Überlieferungsbereich hat nahezu paritätischen Anteil am Ganzen. Es wäre grob missverständlich, hier noch von ‚Hilfswissenschaften’ der Mediävistik zu sprechen. Die neuerlich mit Recht gescholtene Schriftzentriertheit der Historie ist klar überwunden. Es wird exemplarisch die Nähe zur Überlieferung gehalten, indem ständig prägnante (übersetzte) Passagen und Ausschnitte aus ganz verschiedenen Dokumenten präsentiert, editorisch nachgewiesen und kommentiert werden: sprachliche Zeugnisse wie Personen- und Ortsnamen, Sachbezeichnungen und Sinnfelder von Sozialtermini, schriftliche und bildliche wie Urkunden, Briefe, Edikte, Verse, Inschriften, Berichte, Listen, Figurationen, szenische Malereien, Schemata usf., dingliche wie Grabplatten, Skulpturen, Siegel, Wappen, Kleidung, Waffen, Bauten usf., und natürlich auch fachwissenschaftliche Rohstoffe wie numerisch aufbereitete Daten oder archäologische Zeichnungen, Rekonstruktionen usf. Jedes der sieben Kapitel endet mit einem 3-4-seitigen Porträt eines besonders aufschlussreichen Zeugnisses, mit dem in die gattungseigenen Methodenfragen eingeführt wird – gleich ob Traktat, Sozialdiagramm, Diplom, Siegel, Wappen oder Bild. So liefert Morsel den LeserInnen eine breit gefächerte Überlieferungspropädeutik und zeigt zugleich, wie man als Historiker zentrale Zeugnisse wirkungsvoll im Text platzieren kann.

Ebenso präsent ist auch die Forschung – aber nicht in kleinschrittiger Auseinandersetzung und Beleghuberei, sondern im zugespitzten Meinungszitat oder in der begrifflichen Reprise. So wird man beim Lesen und Mitdenken nicht ständig aufs klein gedruckte Fußende der Seite verwiesen – in der Bibliografie benennen im Übrigen Ziffern hinter dem Titel das Kapitel, in dem er relevant ist. Wer sich auskennt, merkt schnell, wie versiert Morsel die vielen Diskussionsfronten überblickt, die das Thema umgeben und durchziehen. All das wird aber nicht abstrakt grundsätzlich, sondern am gegebenen Ort besprochen, kritisch bewertet und wenn möglich um eine eigene Lösung bzw. Hypothese bereichert.

Nun endlich zum Ertrag: Mit der Gliederung in sieben Kapitel ist die konventionelle Dreiteilung des Mittelalters umgangen. Alle Kapitel gleichen sich insofern, als sie jeweils um ein Begriffspaar (binôme) organisiert sind, das im Titel präsent ist. Jedes bezieht sich entweder auf einander folgende oder auf auch relativ deckungsgleiche Zeiträume mehrerer Jahrhunderte und soll das Essenzielle treffen, also exponieren, um welche Konstellation und Transformation der sozialen Macht es jeweils geht. Genau diese Problemstellung aber führt zu jeweils anderen Schwerpunkten und Argumentationen pro Kapitel. Gehen wir sie daraufhin zusammenfassend durch:

Kapitel 1: „Sénateurs et guerriers“ (S. 15-49). Im 5. bis 7. Jahrhundert sind die Beziehungen von romanischen Senatoren zu germanischen Kriegern für die Formierung der mittelalterlichen Aristokratie ausschlaggebend. Drei neuartige Machtphänomene tragen dazu bei: eine Klerikalisierung, die entweder als Bischofs- oder als Klosterherrschaft omnipräsent wird und zunehmend Kontrolle über die nun christlichen Lebensgewohnheiten der Herrschenden gewinnt; eine Funktionalisierung der Krieger, die sich als Waffendienst um rivalisierende Könige herum ausprägt, und eine Seigneurialisierung der Reichtumsquellen, die in der Verschiebung der dominanten Einkommensart von der Steuer zur Rente zum Ausdruck kommt. Unter dem Einfluss dieser Phänomene entsteht eine neue Gemeinsamkeit für alle Beteiligten: die ‚Verdauerung’ ihrer sozialen Vorzugsstellung gegenüber der Instabilität persönlicher Rang-verhältnisse. Sie wird gewährleistet durch namhafte Geburt, kognatische Solidarität, vielfältiges Konnubium und Erblichkeit der Nutzung von Landgütern und des Kommandos über diverse abhängige Leute.

Kapitel 2: „Maîtres et fidèles“ (S. 50-87). Im 8. und 9. Jahrhundert profiliert sich das neue aristokratische Machtkonglomerat durch drei Vorgänge. Im Zuge der Ausweitung und Steigerung königlicher und geistlicher Macht durch interne Ausscheidungskämpfe, Eroberung und Mission nehmen zum einen die weltlichen und geistlichen Dienstformen als militia analogen Sinn an, werden sowohl in ihrer Beziehungsnorm (fides) als auch in ihrer Belohnungsform (beneficium, honor) homogenisiert und verallgemeinert. Die Erbaristokratie gewinnt hiermit an hierarchischer Kohärenz; zugleich wird ein edukativer Kode für alle ausgearbeitet und verbindlich gemacht. Zweitens propagiert die Kirche parallel hierzu, angelehnt an die ihr eigenen Bindungsformen (spirituelle und rituelle Verwandtschaft), die Stärkung der Taufpatenschaft, die Aufwertung der Monogamie und die Ausweitung des Endogamieverbots. Beide Vorgänge wirken zwar schwächend auf die geburtsverwandtschaftlichen Reproduktionsstrategien der Mächtigen, bereichern aber zugleich ihr Beziehungsrepertoire. Die Grundtendenz also: Geburtsfiliierte nobiles, magnates, proceres, optimates usf. lernen sich als baptismal, edukativ, nuptial und amikal Alliierte sowie als senior bzw. vasallus zu verstehen und zu verhalten. Zu dieser Homogenisierung des Dienstes und durch Dienst sowie der Flexibilisierung der Beziehungen tritt drittens die Akkumulation und Umstrukturierung der Einkommen ein. Zwei Erscheinungen sind prägend: die zunehmende multilokale Begüterung der hohen Aristokratie (so genannte Streuung der Güter und Renten tragenden Privilegien: je höher die Position, desto verzweigter und komplexer) und die Ausbildung und Verbreitung der frondienstbetriebenen bipartiten Domäne als neuartiger Verschränkung von Ackersklaverei und Zinskolonat. Eingelassen in diesen seigneurialen Vorgang ist ein langfristiger Formwechsel der Servilität. Die rechtsständisch konzipierten servi wandeln sich vom domanialen Zubehör zu seigneurialen ‚Leuten’ (homines, familia), die auf konzedierten Kleingütern (mansus) wirtschaften und ihren Herren (domini, seniores) Zins und Dienst schulden.

Auf diese zweischrittige Exposition (Formierung und Profilierung), die sich gegen jede Ursprungsideologie stellt, folgt eine in zwei Kapitel ‚aufgespaltete’ Darstellung der inneraristokratischen Verhältnisse und Ausdifferenzierungen vom 10. zum 13. Jahrhundert. Beide betreffen zentrale Kohärenzfragen, die Morsels Konzept der Einheit der Aristokratie aufwirft: deren sozialräumliche Verankerung und ideologische Homogenität (Kap. 3) sowie die gegenseitige Verwiesenheit von Klerus und Laien und das Problem der Hegemonie (Kap. 4).

Kapitel 3: „Châtelains et chevaliers“ (S. 88-128). Erst die Archäologie des vergangenen halben Jahrhunderts hat den Tatbestand ans Licht gebracht, dass es in fast allen Großräumen der okzidentalen Christenheit während des 10. bis 12. Jahrhunderts zu einer Umorganisation der Machträume kommt. Die früheren, weit gestreuten Fluchtburgringe machen einem engmaschigen Netz von Wehrbauten Platz, der von Reiterkriegern betriebenen Wohnfestung, von der aus die nähere und weitere Umgebung kontrolliert und zur Versorgung genutzt wird, und zwar mit ganz verschiedenen Mitteln, Methoden und Zielen.1 Durch diese räumliche Verdichtung (spatialisation), d.h. örtlich fixierte Vergegenständlichung und siedlungsterritoriale Ausgestaltung der Dominanzbeziehungen sowohl zu den beherrschten Leuten als auch zu den nachbarlich Herrschenden verwurzelt sich die Aristokratie. Die Burg – als steinernes Zeichen seigneurialer Drohung und rivalisierenden Prestiges – ist Sache der laikalen und auch klerikalen Aristokratie als solcher, nicht einzelner lokaler Reiterkrieger. Zwei andere, nicht minder wichtige Vorgänge geben der Burg als aristokratischer Elementarzelle zusätzliche Bedeutung. Zum einen wird sie zum wesentlichen Gratifikations- und Verfügungsobjekt (Herkunftsort- und -name, Erbgut, ökonomische Nutzung) für alle oben angesprochenen sozialen Bindungen – der feudovasallitische Nexus ist nur eine von ihnen. Ausschlaggebend ist die Treue (fidelitas). Die Ortsverankerung der Machtbeziehungen bedeutet eine weitere Abschwächung der geburtsverwandtschaftlichen Solidaritäten, aber keine prinzipielle Verengung zur agnatischen ‚Linie’. Zum anderen wird in diskursiven Auseinandersetzungen die soziale Nomenklatur restrukturiert. Unter dem „euphemisierenden“ Dach einer verallgemeinerten, für alle Aristokraten bis hinauf zum König geltenden Ritterschaft (militia) wird eine dreistufige Binnenhierarchie etabliert, deren Bezug auf die Burg deutlich bleibt: die Magnaten (König, Bischof, Herzog, Graf usf.) verfügen über eine Vielzahl von Burgen, die Barone (nobiles, capitani) herrschen über Burgen, die Krieger wachen in ihnen – aber alle sind Ritter (milites, chevaliers).

Kapitel 4: „Prêtres et hommes d’armes“ (S. 129-169). Morsel schwenkt nun zur geistlichen Seite der Aristokratie, d.h. zu den besonderen Beziehungen des Klerus zu den Laien. Es geht ihm um viererlei: um den Eintritt in den Klerus, die Kontrolle der wichtigsten Übergangsriten, die Regulierung der Gewaltpraxis und die Ansprüche der Laien auf Autonomie im Rahmen der kirchlich dominierten christianitas. Trotz mancher empirischer Schwierigkeiten – man kann davon ausgehen, dass während des Mittelalters etwa 20 Prozent der laikalen Adligen zum Klerus konvertieren. Dies geschieht entlang der gesamten aristokratischen Vertikalachse, in gewissermaßen osmotisch sickernder Form. Man wechselt die Seite auf gleichem Niveau (Herzogssöhne werden Bischöfe und Äbte, Ritterkinder werden Priester, Konventualen und Nonnen). Dies aber eben nicht in dem adelsgeschichtlich üblichen Sinne, dass die aristokratischen Laien die Kirche als einen ergänzenden Versorgungsraum benutzen, sondern umgekehrt: Die Kirche sortiert gewissermaßen ihren Nachwuchs für sich aus. Weiter sucht der Klerus die entscheidenden Übergangsriten der Laien mitzubestimmen. Taufe und Heirat werden sakramentalisiert; die Paten und Zieheltern werden mitbestimmt; Lust und Liebe vor und in der Ehe werden zensiert und ‚höfisch’ eingedämmt (Minnesang und Epik). Schwierig bleibt das Verhältnis zu Ritterschlag und Turnier. Den Waffengebrauch, in den der Klerus teilweise selber involviert ist, sucht er durch schrittweise Ausdehnung und Sakralisierung der Waffenruhe, Stiftung von Eintracht (concordia) sowie durch Ablenkung gegen Heiden und Ketzer zu regulieren. Mit der Übertragung der laikalen Herrenterminologie (herr, lord, seigneur usf.) ins Gottesvokabular – Morsel spricht von einer „seigneurialisation divine“ – behält der Klerus semantisch die Oberhand: „Le seigneur est à son homme ce que dieu est aux hommes.“ (S. 162) Binome Ordnungen der Christenheit (Gott – Mensch, Herr – Vasall, Mann – Frau, Priester – Gläubiger) haben und behalten gegenüber Dreigliederungen (Beter, Krieger, Bauern) das Übergewicht.

In den Teilungen der Aristokratie, selbst in der Opposition von Klerus und Laien, das sollen die beiden Kapitel lehren, drücken sich instabile Wandlungen, rivalisierende Fraktionierungen und Konflikte um Bestand bzw. Vorherrschaft aus. Verglichen mit den Beziehungen aller Aristokraten zu den Beherrschten aber sind sie sekundärer Art.

Diesen nun gilt das längste, zentral positionierte Kapitel 5: „Seigneurs et vilains“ (S. 170-223). Im Leitterminus ‚Kontrolle’ hat Morsel einen überraschend tragfähigen Ausgangspunkt für die Beschreibung des Wandels der seigneurialen Beziehungen der Aristokratie zu den Dörflern 2 vom 10.-15. Jahrhundert gefunden. Was in der deutschen Forschung als ‚Grundherrschaft’ (seigneurie foncière, lordship/manor usf.) gilt, wird hier unter drei zeitorientierten Kontrolltypen entfaltet: der generationsübergreifenden Kontrolle des Zugangs zur Erde (A), des am Jahreszyklus haftenden Arbeitsprozesses (B) und der vom Prestigekonsum regierten Ertragsverteilung (C).

A. Da römische und moderne Eigentumsvorstellungen verhindern, das Spezifische der mittelalterlichen Verfügungen über die Erde (und alle ihre naturräumlichen und sozialen Komponenten) zu beschreiben, ermittelt Morsel das (gewissermaßen vorbegriffliche) Sinnfeld anhand der gebräuchlichsten Verben (am Fall des Deutschen): Inne- und handhaben, halten, nutzen, nießen, brauchen, be-sitzen, bauen – so wird die dauerhafte, gewohnheitliche Macht über die Erde verstanden und ausgedrückt. Dieser Wortbestand erfasst aber nicht nur die Beziehung zwischen den Herren und Beherrschten, sondern ebenso die zwischen den Herren selbst. Hieraus ergibt sich der viel zu wenig beachtete Grundsatz, dass sich mehrere Herren (nahezu) jedes Dorf als ‚Habe’ und ‚Nutz’ teilen (und nicht ein Herr viele Bauern regiert). Genauso wichtig ist es für Morsel zu erweisen, dass nach der Dekomposition der karolingischen Domanialstruktur (Aufgabe der direkten Bewirtschaftung des Sallandes, Schrumpfung der Frondienste) und mit der Verbreitung der Bodenpachtformen (Festzins, Teilbau) die Herren mitnichten zu inaktiven Bodenrentiers (so genannte Rentengrundherrschaft) verkümmern, sondern ihre Realpräsenz im Dorf mittels Zentralbauten (Herrenhöfen), Bann-, Gerichts- und Jagdrechten ausbauen und zugleich ihre Bindungsmittel elaborieren (Eid, Verschuldung, Zinsentrichtungsriten, Schriftgebrauch, Rechtsweisung).

B. An der Ertrag steigernden Restrukturierung des Landes, zu der nicht nur die europaweite Rodung und Kolonisation gehört, sondern ebenso das (oben erwähnte) Burgennetz, der Nahmarkt und die (Klein-)Stadt, das immer kleinräumiger parzellierte Pfarrnetz, die dörfliche Verdichtung der Siedlungsweise und die kommunitäre Verschränkung der agrikolen Arbeitsprozesse in Feld und Flur (Dreifelderwirtschaft), Wald und Weide (Allmende) sowie das Verschwinden der alten Statusopposition liber – servus und eine neue oligarchische Arbeitsverteilung zwischen Vollbauern und Kätnern im Dorf – an all dem haben die Herren aktiven, wenn auch jeweils ganz verschiedenen Anteil. (Man denke nur an die alten Abteien im Gegensatz zu den neuen Orden.) Unübersehbar sind hier die Ertragskalküle der Pachtformen, die Vorteile der Weiterverpachtung, die Begründung neuer Zinsformen aus gewerblichen Einrichtungen (also der zunehmenden innerdörflichen Arbeitsteilung), Nutzungsrechten und lebenszyklischen Einschnitten (Heirats-, Sterbfälle), unübersehbar auch die Befreiungsrhetorik bei allen Gründungs- und Verschriftungsaktionen, die Skandalisierung der am Leib der Abhängigen festgemachten Unfreiheiten (Leibeigenschaft/servage, Abzugsverbote bzw. -lizenzen) und schließlich die Abwertungspolemik gegen alle dörflichen ‚Aufsteiger’, ja die soziale Diffamierung der Bauen insgesamt. Also auch hier gilt, dass es die Herren vielfältig verstehen, auf die sich verändernden Arbeitsumstände und -formen ihrer Abhängigen stimulierend und kontrollierend einzuwirken.

C. Schließlich der dritte, nicht leicht zu ordnende Kontrollbereich. Auch hier war ohne begriffskritische Vorarbeit nicht auszukommen: Morsel bietet zunächst wichtige Klärungen zu den so verwirrenden fachbegrifflichen Konventionen (und Parteilichkeiten) über das Einkommen der Herren: der Rente, den Abgaben, Einkünften, Einkommen usf. Auch hier bietet er wiederum systematische Abgrenzungen (von der Steuer) und bild- und wortsemantische Auswege mittels der Überlieferung selbst (Sachsenspiegel, neue Forschungen zur mittelalterlichen Rentensprache). Es ergibt sich eine rein reziprozitäts-ideologische Verknüpfung der ‚Empfangs’-Ansprüche der Herren mit den Arbeitsverhältnissen der Dörfler, die die Herren beständig als deren Schuld und Gabepflicht ausdrücken, auf die sie selber aber mit Gnade bzw. Milde (Zinsstundung) reagieren. Zieht man diesen herrschaftseuphemisierenden Vorhang beiseite, dann bleiben Leitverben wie nehmen, einziehen, erheben, fallen usf. als Ausdruckskern der Aneignung übrig. Genauso komplex fallen Morsels Bemerkungen zur Fülle und Varianz, zur Disparatheit, Höhe und Wertigkeit der Rentenformen aus. Wichtig ist hier die Erkenntnis, wie wenig abstrakte Typologien – etwa die Trias von Arbeits-, Produkt- und Geldrente – taugen. Vielmehr müssen die Rentenkonglomerate als Ausdruck einer konkreten dörflichen Situation bzw. in ihrem Gebrauchswert für den aristokratischen Haushalt beschrieben werden. Nur dann erschließt sich die „logique de dispersion“ der Rentenstruktur (S. 211), die von der Forschung viel zu häufig als ineffektive Wirrnis dargestellt wird. Nur so werden Berechnungen der Rentenvolumen sinnvoll. Und nur so wird auch verständlich, warum die normale, am Jahreszyklus haftende Aneignung der Zinse und die Inanspruchnahme der Dienste trotz niedriger Realisierungsniveaus so wenig, die Einforderung irregulärer Abgaben aber gerade so viel Widerstand bei den Dörflern hervorrief. Wieder ergibt sich ein nahezu analoger Ertrag: Auch ihre seigneurialen Einkünfte kontrolliert die Aristokratie aktiv; von parasitären Einstellungen kann keine die Rede sein.

Auf das Herzstück der seigneurialen Domination folgen schließlich zwei Kapitel, in denen Morsel die Fragen der inneraristokratischen Kohärenz wieder aufnimmt – nun mit dem Schwerpunkt in den spätmittelalterlichen Jahrhunderten. Wiederum geht es – wie in den Kapiteln 3 und 4 – um Phänomene der Ausdifferenzierung und Transformation: um die stadtbürgerliche Aristokratie und um die Monarchie.

Kapitel 6: „Nobles et bourgeois“ (S. 223-263). Drei Denkgewohnheiten zur Herleitung moderner Bürgerlichkeit stehen laut Morsel einem angemessenen Verständnis der Beziehungen zwischen Stadtbürgern und Aristokraten im Mittelalter im Wege: die Lehre vom kommunalen Ursprung und demokratischen Regiment der Bürgerstadt, vom Antagonismus der bürgerlichen zur feudaladligen Lebenswelt und vom exklusiven Geblütsadel. Gegen diese in der Mediävistik immer noch kolportierten Vorstellungen (und forschungsleitenden Fragestellungen!) arbeitet Morsel in vier Schritten an. Zuerst liefert er die Rahmendaten dafür, wie nah, vor- und übergeordnet die Aristokratie den mittelalterlichen Städten stets war. Sie hat sie gegründet (seigneuriale Polynuklearität der Städte) und privilegiert (Stadterhebung, Stadtrechtskonzession); sie war in ihnen sesshaft und präsent (80 Prozent der deutschen Städte haben eine Burg); sie hat sie beständig aufgesucht (zu Versammlungen, Turnieren), ist zugezogen („implantation urbaine de l’aristocratie“); und sie hat als urbaner ‚Gruppenaristokrat’ (Patriziat) das Umland beherrscht. So kann es – zweitens – kaum richtig sein, wenn die urbane Schichtungsforschung die Aristokratie beharrlich als eine stadtfremde ‚quantité négligeable’ behandelt. Hochrangige Herrschaftsdiener (Ministeriale und Vögte) und weiträumig privilegierte Kaufleute nehmen die Spitzenposition in allen großen Städten von Danzig bis Barcelona, von bis York bis Ragusa ein. Und auch die innerstädtischen Konflikte sollte man nicht weiter als antifeudale kommunale Revolten verstehen; es geht um Machtverwerfungen innerhalb der Oligarchie (Patriziat, Neureiche). Drittens gehört die höfische Lebensart genauso zur Stadt wie zur Burg und Residenz. Die „besten van der stat“ (meliores, honestiores) gebärden sich genuin, nicht imitativ als Ritter, befehden sich blutig. Und viertens organisieren sie ihre soziale Reproduktion als mächtige Geschlechter und sichern ihren Fortbestand mittels Namens- und Bildtradition, Hausideologie, Memoria und komplexer Heirats- und Erbstrategien. Demgegenüber sind die Abgrenzungs-, Anpassungs- und Integrationsaktivitäten und -diskurse, die sich aus dem Aufstieg der gelehrten Juristen, den Provokationen des Landadels und dem Erstarken der Fürsten ergeben, als Manifestationen der intra-aristokratischen Beziehungsvielfalt und -dynamik zu verstehen.

Kapitel 7: „Princes et gentilshommes“ (S. 264-310). Morsel argumentiert nun vom ‚Ende’ der europäischen Ancien Régimes her. Alle vormodernen Monarchien fördern die Herrschaft des Adels. Sie statten ihn aus mit Privilegien und Ideen, die ihn als soziale Kategorie mit erbständischer Qualität etablieren und so ‚naturalisieren’. Von einem Niedergang des Adels kann keine Rede sein – außer für diejenigen, die seine ‚politische’ Mediatisierung mit sozialem Abstieg verwechseln.3 Von hier aus werden drei weit reichende Fragen gestellt.

A. Die nach der Genese der monarchischen Suprematie beantwortet Morsel in vier Schritten. Er verortet sie in der Vorbildfunktion der kirchlichen Hierarchisierungserfolge (nicht nur des Papsttums, sondern auch der Position der Bischöfe in den verschiedenen Typen der okzidentalen Reiche) sowie der gelehrten antikisierenden Monokratie-Diskurse, diskutiert die Konzentrationsgewinne der Könige und Fürsten in den entscheidenden Funktionsbereichen der Rechtssprechung, des Kriegs und des Handels, rückt die grundlegende Konfliktstruktur zurecht (die eben nicht als Adelsfronde gegen den Monarchen als solchen, sondern in der Parteiung für oder gegen ihn besteht) und bestimmt den Fürstenhof als Magneten einer Machtverteilung, der den Seigneurs Rangerhöhungen (Edelmann) zu bieten vermag.

B. Wie aber kam es zur Sicherung und Erweiterung der aristokratischen Macht im Wege der Bindung an die Monarchen? Nicht konjunkturbedingte Einkommenseinbrüche (so genannte Adelskrise), sondern die Steigerung der Ausgabenniveaus war es, die die Noblen an die wachsenden Steuereinnahmen der Könige, Landesfürsten, Territorialherren verwies; deren Löwenanteil ging an sie in den Formen von Treue-Pensionen, Dienst-Gagen und Militär-Besoldungen. Zugleich verfestigten die Monarchen die Dauerhaftigkeit der Adelsqualitäten, indem sie die Sozialfiktion des Geschlechts (Name, Stamm, Haus, Genealogie, Linie) gegen die Gefahren des Erbausfalls promovierten; so gewannen die Prinzipien der Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit und Sukzessionskontinuität an Geltung. Bei all dem wirkte die Kirche regulierend mit.

C. Zwar haben mittelalterliche Monarchen ihre Definitionsmacht darüber, wer zur Aristokratie ‚gehörte’, immer ausgeübt, die Formierung zu festen Nobilitierungsregeln gelang aber erst im späteren Mittelalter, beeinflusst von schriftkulturell ausgefeilten Diskursen über entscheidende Adelskriterien wie Erblichkeit, Blut, Verdienst, Tugend, Gnade usf. Das Modell des Ritterlichen (militia) – Morsel spricht von „équestre“ – überdauerte aber deshalb als das bestimmende, weil es die ewig streitenden Aristokraten am effektivsten aneinander band und zugleich die Distanz zum Monarchen verschleierte (vgl. Kap. 3). Aber trotz aller monarchischer Bindungserfolge, Morsel insistiert darauf, dass die monarchische Herrschaftsweise „un mode de domination sociale par l’aristocratie“ blieb (S. 305).

Ich hoffe mit meinem ausführlichen Referat der Erträge erwiesen zu haben, wie ernsthaft Morsel seine Hauptpostulate – soziale Relationalität als geschichtswissenschaftliches Konstruktionsprinzip, Kritik und Vermeidung epochenfremder Vorstellungen, Fokussierung auf einen weiten Aristokratiebegriff – einzulösen versucht hat. Am klarsten spiegelt sich sein Erfolg im Bestand und in der Sequenz der Sekundärbegriffe der Aristokratie, deren jeder Epochenspezifisches zum Ausdruck bringt. Immer ging es um die Beschreibung der historisch gegebenen Situationslogik aristokratischer Machtbeziehungen jenseits aller biologisch-anthropologischen Naturalisierungen, realitätsideologischen Verdinglichungen und politischen Verengungen, immer schließlich auch um die Kohärenz der distinkten Phänomene, die Zusammenhänge zwischen funktionaler Spaltung, Spitze und Basis, Zentrum und Peripherie innerhalb der Aristokratie und gegenüber den Beherrschten.

Die Legitimität und das Provokative des oberflächlich so neutral erscheinenden Gesamttitels ergibt sich somit aus dem Begriffsbestand der sieben Kapitel. Durch sie wird er zur wirklichen Groß-These. Hier liegt ein Buch über das Mittelalter vor – aber bitte nicht als ‚Wesen’, sondern als radikal soziale Geschichte! Ein Buch auch, in dem die viel beschworene Forderung nach Inter- bzw. Transdisziplinarität beherzigt ist, eine hochkarätige synthetische Einzelleistung, die nach Diskussion buchstäblich schreit.

Um damit – nur in wenigen Andeutungen - anzufangen:

1. Was fehlt? Auf jeden Fall die Musik. Ich frage mich, was die Einbeziehung der Klangformen – sowohl der geistlich-liturgischen Gesänge als auch der höfischen Signale, Lieder und Tänze – für die Klärung der aristokratischen Machtbeziehungen – intern und extern – erbringen könnte. Ich verspreche mir hier doch mehr als Lückenfüllung bzw. sachliche Abrundung – was aber noch in transdisziplinärer Mühsal zu beweisen wäre.

2. Was wäre stärker zu gewichten? Ich frage mich, ob mit der Konzentration auf Rente und Steuer die (Eroberungs-)Beute und der (Zirkulations-)Profit nicht zu kurz gekommen sind. Diese beiden Einkommensformen haben als Rand- und Überlagerungsphänomene während des gesamten Jahrtausends immer wieder hohe Bedeutung für die Aus- und Umprägung der Machthierarchie, besonders aber der großräumigen Machtverteilung gehabt.

3. Was wäre stringenter ins Konzept zu nehmen? Hier habe ich zwei Anfragen. Wie steht es mit der aristokratischen Qualität des ‚niederen’ Klerus in den Pfarrkirchen? Wäre er nicht, in Analogie zu den Reiterkriegern in den Burgen, grundsätzlich auf die Seite des herrschenden Klerus zu schlagen? Zehrt diese Mehrheit des Klerus nicht von Herrschaftsmitteln wie dem Besitz des Heilswissens und der Handhabung der Liturgie analog zu Rüstung und Kampftechnik der Reiterkrieger? Und schließlich: Welche Bedeutung hat das Totsein für die Gestaltung der sozialen Macht? Ich meine nicht die Erinnerung an die ehemals Lebenden, sondern die Sorge um die Zukunft der Gestorbenen. Morsel hat es hier eher mit Streubemerkungen bewenden lassen. Vielleicht wäre die Frage nach der Herrschaft über die Gestorbenen für eine genauere Ausarbeitung des von ihm selbst verfochtenen zentralen Arguments zu gebrauchen, dass während des christlichen Jahrtausends insgesamt die kirchliche Aristokratie die Vormacht über die Laien, aristokratisch oder nicht, und auch in den Zeiten monarchischer Superiorität und sozialer Säkularisierungen behält. Die Beweislast hierfür gehört aber auf viele Schultern.

Zum guten Schluss noch ein Bekenntnis: Wer in neueste Veröffentlichungen zum mittelalterlichen Adel schaut, wird dort auf eine ziemlich andere Sicht stoßen, die sich weitgehend den Konventionen der Standes- und Verfassungsgeschichte fügt.4 Auch ich habe, zwar epochenübergreifend, einer Geschichte des Adels gehuldigt, die in vielem noch im Dunstkreis substantialistischer Gesellschaftsschichtung verbleibt.5 Nach dem Lesen und Durchdenken von Morsels „Aristocratie médiévale“ hat dieser modus historicus für mich viel von seinem Sog und Sinn verloren. Eine gelungene Überraschung! Morsels Essay kann ich nur heftigste Aufmerksamkeit wünschen.

Anmerkungen:
1 Die sachliche Reichweite und soziale Bedeutung dieser neuen Erscheinung ist alles andere als geklärt. Es kursieren verschiedene Forschungsbegriffe (encellulement, encastellamento, castellisation u.a.), die jeweils eine andere (und kontroverse) Sinnausrichtung haben. Morsel schließt sich terminologisch dem von Anita Guerreau-Jalabert vorgeschlagenen Begriff ‚topoligée’ an, mit dem das Prinzip der Ortsverankerung der Herrenreproduktion ausgedrückt ist (dies in kritischer Absetzung vom Konzept der agnatischen ‚Stammburg’). Die deutsche Forschung ist an dieser großen Debatte konzeptionell kaum beteiligt, hat bislang aber empirisch mit Studien zur lokalen Bannherrschaft sowie burgen- und pfarrgeschichtlichen Forschungen dazu beigetragen.
2 Mit dieser terminologischen Entscheidung distanziert sich Morsel vom ‚paysan’ (peasant, Bauern usf.) als begrifflicher Opposition zum Herren. Der ‚vilain’ bringt den ihm zentral wichtigen Bezug auf das Dorf (village, ville aus lateinisch villa) lokalisiertem Kollektiv, der Einwohnergemeinde, zum Ausdruck.
3 Die terminologische Entscheidung für den monarchisch regulierten Adel als sozialer Kategorie entlastet Morsel davon, die staatsgenetisch-politischen Handlungsformen und -normen mitzubehandeln.
4 So z.B. Hechberger, Werner, Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter, München 2004 ; vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-134>.
5 Kuchenbuch, Ludolf, Art. Aristokratie/Adel, in: van Dülmen, Richard (Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 2003, S. 122-132, 521f.

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