D. O'Sullivan: Stalins 'cordon sanitaire'

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Titel
Stalins 'cordon sanitaire'. Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939-1949


Autor(en)
O'Sullivan, Donal
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Wulff, Staatliche Universität Woronesch, Russische Föderation

Die vorliegende Arbeit, eine an der Katholischen Universität Eichstätt angenommene Habilitationsschrift, stellt sich ehrgeizige Ziele. Der am Claremont McKenna College lehrende Autor will nicht weniger, als die in der Historiografie fehlende „sowjetische“ Dimension des Zweiten Weltkrieges präsentieren. Ihm geht es dabei um so ambitionierte Fragen, wie die nach dem Anteil der UdSSR am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nach den Expansionsplänen Stalins und den taktischen Mitteln ihrer Umsetzung sowie nach dem Verhältnis zwischen der UdSSR und ihren Satelliten in Mittel- und Osteuropa. Es gehört zum methodischen Ansatz O’Sullivans, immer auch die westlichen Reaktionen und ihre Wirkungsmacht auf die sowjetische Politik in seine Betrachtung einzubeziehen. Die Darstellung folgt der traditionellen Diplomatie- und Politikgeschichte. Im Mittelpunkt stehen die Akteure der Außenpolitik – Stalin, die sowjetischen Funktionäre und Diplomaten sowie die Kontrahenten in Paris, London und Washington -, deren Denken, Trachten und Tun. Den Fixpunkt in diesem Gravitationssystem bildet I.V. Stalin. Um ihn und seine Intentionen kreisen die Mit- und Gegenspieler. Selbst so bedeutende Staatsmänner wie Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, so O’Sullivan, vermochten sich dem Intrigenspiel des Diktators nicht zu entziehen. Diese Herangehensweise ist auch in Zeiten des dominierenden kulturgeschichtlichen Ansatzes alles andere als verwerflich. Allerdings wirkt die Suche nach den Motiven der sowjetischen Expansion in Osteuropa ausschließlich im Bereich der politisch-strategischen Überlegungen und der Ideologie doch etwas antiquiert.

O’Sullivan geht von der Grundannahme aus, dass Stalins strategisches Ziel darin bestanden habe, den im Resultat des Ersten Weltkrieges entstandenen, gegen die Expansionsbestrebungen der Sowjetunion gerichteten „cordon sanitaire“ umzukehren und zu seiner uneingeschränkten Einflusssphäre zu verwandeln. Dieser schließlich auch realisierte „cordon sanitaire“ bestand aus drei Gürteln: der unmittelbar angrenzenden Region (Polen, Rumänien, Bulgarien), dann Ungarn, die Tschechoslowakei, Finnland, Jugoslawien und Albanien, die schon aufgrund der räumlichen Distanz schwieriger unter Kontrolle zu bringen waren, und schließlich das von den Alliierten besetzte Deutschland. Die Expansion der Sowjetunion in diesen Räumen wird in drei chronologischen Etappen untersucht. Einem einführenden Kapitel über die Entscheidungsmechanismen in der sowjetischen Außenpolitik folgen Abschnitte über die stille Allianz mit Hitlerdeutschland (1939-1941), die militärische und politische Kooperation mit den Westmächten (1942-1944) sowie die Anfangsphase des Kalten Krieges (1945-1949). Diese etwas artifizielle Konstruktion und die Neigung O’Sullivans zu Exkursen bedingen die starke Untergliederung der Arbeit, die zehn Kapitel mit insgesamt nahezu siebzig Unterkapiteln umfasst. Dies schränkt den Lesefluss erheblich ein.

Den Befunden Donal O’Sullivans kann im Wesentlichen zugestimmt werden. Der sowjetische Diktator handelte ohne langfristigen, abgestimmten Plan, sondern ließ sich von Analyse, taktischer Berechnung und außenpolitischem Kalkül leiten. Die Expansionspolitik der UdSSR sei freilich vom Verhalten Großbritanniens und der Vereinigten Staaten erheblich begünstigt worden. Diese hätten sich kaum dagegen gewehrt, dass zunächst Ostpolen, dann die baltischen Staaten und Bessarabien dem sowjetischen Einflussbereich einverleibt wurden. Diese Aussagen wirken vor dem Hintergrund der umfangreichen Forschungsliteratur nicht neu. Erstaunlich mutet lediglich an, wie streng O’Sullivan mit der britischen und amerikanischen Russlandpolitik ins Gericht geht. Die Expansion in Osteuropa 1944-1945 sei von diesen Mächten durch demonstratives, geradezu schicksalergebenes Desinteresse gefördert worden. Man habe sich vor allem vom Wunschdenken leiten lassen und sich Selbsttäuschungen hingegeben. Churchill und Roosevelt hätten den skrupellosen Charakter der sowjetischen Außenpolitik und die diktatorischen Züge des Regimes sträflich unterschätzt, was sich in der Nachkriegszeit bitter gerächt habe. Insgesamt, so Donal O’Sullivan, habe das kurzfristige britische und amerikanische Interesse an einer Schwächung Deutschlands die Erweiterung der sowjetischen Machtsphäre in Osteuropa begünstigt. Dies kann kaum bezweifelt werden, wenngleich die Schwächung Deutschlands während des Krieges wohl eher zu den langfristigen Ambitionen der Alliierten gehörte. Überhaupt irritiert der oft vorwurfsvolle Ton, mit dem O’Sullivan die britische und amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion bedenkt. Gelegentlich entsteht der Eindruck, als habe es für deren sowjetfreundliche Haltung im Krieg keine handfesten Gründe gegeben.

Der zweite Teil der Monografie befasst sich mit der Sowjetisierung Osteuropas unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Nach Auffassung O’Sullivans begann sich zunächst die Öffentlichkeit, dann in zunehmendem Maße auch die Regierungen Großbritanniens und der USA von der sowjetischen Expansionspolitik abzukehren, nachdem die Rote Armee im August 1944 den Warschauer Aufständischen ihre Hilfe verweigert hatte. Erst nach dem Fortfall der deutschen Gefahr empfanden die westlichen Regierungen den Machtgewinn der UdSSR als Bedrohung, der sie mit einer weltweiten Eindämmungsstrategie begegneten. O’Sullivan charakterisiert Stalins Osteuropapolitik überzeugend als kompliziert und widersprüchlich. Ideologisch begründete Hoffnungen, die Erwartung, dass der Westen Widerstand leisten würde, und die Einschätzung der jeweiligen Kräftekonstellation in den osteuropäischen Ländern führten zu einem schwer durchschaubaren Motivgemenge, das die sowjetische Diplomatie in tiefe Konflikte riss. Die sowjetische Osteuropapolitik folgte dem strategischen Ziel, einen stabilen „cordon sanitaire“ um das Land zu errichten, sie besaß indes keinen konsistenten Plan. Letztlich handelte es sich um eine opportunistische Ad-hoc-Politik. Dieser Befund entspricht im Wesentlichen den Aussagen des unlängst von Stefan Creuzberger und Manfred Görtemaker herausgegebenen Bandes über die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944-1949, an dem auch Donal O’Sullivan mitgewirkt hatte. 1 Insgesamt bietet die Monografie Donal O’Sullivans wenig Innovatives. Ihre beachtliche Stärke liegt in der viele Facetten umfassenden, und gleichzeitig kompakten Zusammenschau des Forschungsstandes zu diesem komplexen und schwierigen Thema.

Gelegentlich ruft die Darstellung auch Widerspruch hervor. Nicht immer kann O’Sullivan Behauptungen auch belegen. So schließt er aus der Ablehnung des Litvinov-Memorandums vom April 1939 durch Stalin, dieser habe mit einer solchen Entscheidung Hitler zum Krieg ermuntern wollen. Diese These passt zwar gut in die Konzeption des Autors und scheint auf der Hand zu liegen. Dennoch bedarf sie eines Beweises. Reichlich vereinfacht wirkt auch die Aussage, mit dem Überschreiten der 1921 festgelegten Staatsgrenze zwischen Sowjetrussland und Polen habe sich der „Große Vaterländische Krieg“ in einen Expansionsfeldzug verwandelt. Dies mag mit Kenntnis der nachfolgenden Geschichte zutreffen. Allerdings provoziert eine solche Feststellung die Frage, ob die Rote Armee im Januar 1944 hätte innehalten sollen, um sich nicht dem Vorwurf der vorsätzlichen und völkerrechtswidrigen Expansion auszusetzen. Störend wirkt auch die von O’Sullivan extensiv betriebene Praxis, den aus dem Russischen übersetzten Zitaten das russische Originalzitat nachzustellen. Dies sollte ausschließlich Fällen vorbehalten bleiben, in denen eine adäquate Übersetzung Schwierigkeiten bereitet.

Abschließend sei dem Rezensenten noch eine kritische Bemerkung gestattet, die sich ausdrücklich nicht an den Verfasser, sondern an den Verlag richtet. In letzter Zeit gehört es zu den üblichen Verfahren, Bücher zur Geschichte der Sowjetunion, so auch dieses, mit Einbandtexten zu versehen, in denen aus vordergründigen Werbegründen auf Quellenfunde in den nach 1991 geöffneten russischen Archiven und die dadurch ermöglichten neuen Sichtweisen auf die russischen Geschichte verwiesen wird. Der tatsächliche Erkenntnisgewinn rechtfertigt solche hehren Ankündigungen nur in seltenen Fällen. In der Realität kann O’Sullivan nur wenig Neues aus den einschlägigen russischen Archiven vorweisen. In seiner Einleitung macht er zu Recht auf die nach wie vor restriktiven Nutzungsbestimmungen im Archiv des russischen Außenministeriums und in anderen für die Außen- und Sicherheitspolitik relevanten Archiven aufmerksam, die systematisches und wissenschaftliches Recherchieren unmöglich machen. Die Kluft zwischen den Ankündigungen des Verlages und der akademischen Realität ist ärgerlich.

1 Creuzberger, Stefan; Görtemaker, Manfred (Hgg.), Gleichschaltung unter Stalin?. Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944-1949, Paderborn 2002. Vgl. auch meine Rezension in H-Soz-u-Kult, 28.08.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-127>.

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