H. Danuser u.a. (Hgg.): Amerikanismus - Americanism - Weill

Cover
Titel
Amerikanismus - Americanism - Weill. Die Suche nach kultureller Identität in der Moderne


Herausgeber
Danuser, Hermann; Gottschewski, Hermann
Erschienen
Schliegen 2002: Edition Argus
Anzahl Seiten
335 S., 21 Abb.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Viktor Otto, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin

Als sich der hundertste Geburtstag des Komponisten Kurt Weill näherte, überlegten Musikwissenschaftler diesseits und jenseits des Atlantik, unter welches Schwerpunktthema eine wissenschaftliche Zentenarfeier zu stellen sei. Aus Weills eigener Biografie und der Forschungsgeschichte ergab sich bald die nahe liegende Idee, Leben und Werk des nur fünfzigjährig in den USA gestorbenen Musikers unter dem Fokus des Schlagwortes vom Amerikanismus zu betrachten: Da Weills Schaffen sich zu ähnlich großen Teilen auf deutsche und amerikanische Bühnen erstreckte (der Komponist war 1935 in die USA emigriert) und sich dementsprechend sowohl eine US-amerikanische wie auch eine deutsche Weill-Forschung entwickelt hat, entschlossen sich die Organisatoren, das Symposion vor den Hintergrund europäischer wie amerikanischer Debatten um den Amerikanismus bzw. den Americanism zu stellen, wie der Musikwissenschaftler Kim H. Kowalke (Rochester/USA) in seinem einleitenden Beitrag zum Tagungsband erläutert: „It didn’t take us long to hit upon the binary theme of Amerikanismus/Americanism, a two-way metaphorical mirror reflecting the geographical dislocation which bisected Weill’s own mature career and the aesthetic and sociological agendas which shaped his output for the quarter century between 1925 and 1950.“ (S. 14f.) Als zentrales Anliegen formuliert Kowalke die Überwindung einer gängigen Formel in der Weill-Forschung: die Rede von den „two Weills“, einem deutschen und einem amerikanischen. In dem zweiten Einführungsbeitrag von Hermann Danuser (HU Berlin) steht zur akademischen Einbettung von Konferenz und Sammelband nicht eben bescheiden notiert, dass „Kurt Weill als ein Paradigma von Kulturwissenschaft“ verstanden werden könne. Da auf dem Symposion vor drei Jahren kaum von kulturwissenschaftlichen Ansätzen die Rede war und Danuser in seinen methodologischen Ausführungen zur kulturwissenschaftlichen Eignung Weills auch recht vage bleibt, darf hinter diesem Anschlussversuch an eine Mode-Disziplin mehr ein nachträgliches Lifting als ein konzeptioneller Kern vermutet werden. Allerdings markiert der Untertitel des Bandes ein Themenfeld, das als Gegenstand der guten alten, durchaus interdisziplinären Kulturgeschichte verstanden werden kann. Erhellend aber sind Danusers konstruktivistische Ausführungen zu der Geschichte einer „Doppelkategorie“: „Die ‚objektivistische‘ Vorstellung, ‚Amerikanismus‘ und ‚Americanism‘ bezeichneten einen Gegenstand, das eine Mal von einer Außen-, das andere Mal von einer Innenperspektive aus gesehen, wäre irreführend; einen solchen Gegenstand gibt es nicht.“ (S. 18)

Die erste Abteilung des Bandes, „Perspektiven in Ökonomie, Gesellschaft und Kultur“, eröffnet mit einer umfassenden und wohlunterrichteten Darstellung der „ethnicity“-Diskussion in den sozialen Wissenschaften der USA. Der Amerikanist Michael Hoenisch (FU Berlin) reflektiert die großen Definitionsprobleme, die diesen Term seit einigen Jahrzehnten begleiten. Hoenischs forschungsgeschichtlicher Beitrag eröffnet einen Problemhorizont, dem auch seine eigenen Klärungsvorschläge letztlich nicht beikommen können. Doch ist Hoenischs Insistieren auf eine sozialkonstruktive Genese der „ethnicity“ insgesamt überzeugend. Der Historiker Alexander Schmidt-Gernig (HU Berlin) bietet mit seinem Aufsatz einen Beitrag zur deutschen Amerikanismus-Debatte der 20er Jahre. „Amerikanismus“ erscheint Schmidt-Gernig vornehmlich als „Chiffre des modernen Kapitalismus“ (S. 49). Schmidt-Gernigs Behauptung, dass sich der Amerika-Diskurs um 1900 vom Thema der Politik zu dem der Wirtschaft verlagert habe (S. 51), ist aber nur von bedingter Gültigkeit, waren schließlich die kulturell-kulturalistischen Aspekte des Diskurses keineswegs nachrangig. Mit Blick auf eben nicht primär wirtschaftliche „Amerikanismen“ wäre denn auch Schmidt-Gernigs Einschätzung zu revidieren, nach welcher Amerika mit der Weltwirtschaftskrise radikal an Bedeutung für deutsche Visionen verloren habe (S. 62-64). Aus ökonomiehistorischer Sicht mag dies stimmen, ob es aber auch für den Moderne-Diskurs insgesamt gilt, ist mehr als fraglich. Der Historiker Egbert Klautke (London) bietet mit seiner Studie zu Amerikanismus und Anti-Amerikanismus im Frankreich der Zwischenkriegszeit ebenfalls einen Überblick, wobei sich der Leser gerade vor dem Hintergrund der vorangehenden Ausführungen Schmidt-Gernigs etwas mehr komparatistische Bemühungen gewünscht hätte; zeigt sich doch der französische Amerika-Diskurs als nicht wesentlich von den deutschen Debatten unterscheidbar; allerdings bereichert Klautke die positivistische Forschung um einiges an Material. Interessant ist die divergierende semantische Belegung der Kampfbegriffe Zivilisation und Kultur bzw. Civilisation und Culture: Während die deutsche Kulturkritik die deutsche (umfassende) Kultur gegen die angelsächsische (bloße) Zivilisation ausspielte, vermisste die französische Intelligenz eben die eigene (umfassende) Zivilisation in den Vereinigten Staaten, denen sie nur den Status einer „civilisation mécanique“ zubilligte (S. 81f.). Ausgehend von Studien Dan Diners 1 präsentiert der Berliner Literaturwissenschaftler Richard Herzinger ein Panorama amerikakritischer Konstanten auf der linken wie rechten Seite des politischen Spektrums. Hierbei beobachtet er topische, metaphorische und strukturelle Affinitäten des linken und des rechten Anti-Amerikanismus quer durch das vergangene 20. Jahrhundert. Thetisch bietet Herzingers Beitrag gegenüber Diner kaum Neues. Der Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Friedmar Apel (Bielefeld) zu Adorno und Amerika gleitet hinüber in Sprache, Begrifflichkeit und Duktus des verhandelten Denkers, und somit auch in dessen Opakheit, ohne jede Angst vor schlichtem Widersinn. Erfrischend wie stets, wenn auch in seinen Thesen nicht wirklich überraschend, präsentiert sich der Beitrag des Kulturwissenschaftlers Friedrich Kittler (HU Berlin) zum deutsch-amerikanischen Technologietransfer in der Medienwelt der Weimarer Republik. Wieder einmal wird uns der militärisch-industrielle Komplex als Vater aller technischen Medien und Normen vorgeführt. So steht zur Geschichte des ersten aus vorproduzierten Einzelteilen zusammengesetzten deutschen Maschinengewehrs 08/15 zu lesen: „Der Name 08/15 steht eben nicht, wie spätere Romanschreiber sich und ihrem Lesepublikum das vorstellten, für eine blutige, aber triviale Alltäglichkeit des Krieges; er stand für jene radikale Innovation, aus der nur ein Jahr später, 1917 in Berlin, der Deutsche Normenausschuß und damit die DIN-Norm als solche hervorgingen.“ 2 (S. 121f.) Um die Entstehungsgeschichte von Radio und Film war es nicht besser bestellt: „Der Tonfilm entstand, wie das Zivilradio auch, als Mißbrauch von Heeresgerät.“ (S. 122)

Die zweite Abteilung des Bandes trägt die Überschrift „Popularisierung und Technisierung der Künste“ und beginnt mit einer Vorstellung von Erich Mendelsohns viel gelesenem Buch ‚Amerika. Bilderbuch eines Architekten‘ (1926) durch den Kunsthistoriker John Czaplicka (HU Berlin). Czaplicka liest das Bilderbuch nicht allein als architekturhistorische Schrift, sondern als eine anhand amerikanischer Baukunst formulierte umfassende Gesellschaftskritik, in der sich der Anti-Amerikanimus der deutschen Kulturkritik spiegele. Andererseits verstünde Mendelsohn seine Führung durch die amerikanische Architekturlandschaft auch als eine Projektion in die Zukunft deutschen Bauens mit einer schnörkellosen, rein funktionalen Ästhetik, die er in den Vereinigten Staaten bereits in großen Silobauten verwirklicht sieht. So gelange der deutsche Architekt zu einem neuen Konzept organologischer Totalität: „Mendelsohn redefines the understanding of the ‚organism‘, modernizing it to fit his concept of the beautifully functioning city, an organism that can first arise and attain authentic expression when architects renounce the falseness of historicism and façadism, and respond in form to the new technological realities.“ (S. 137) Die folgenden Beiträge sind vornehmlich musikwissenschaftlicher Natur: Bryan Gilliam (Duke University) untersucht den Einfluss des amerikanischen Films auf das deutsche Musiktheater der Weimarer Zeit, wobei die deutsche „Chaplinitis“ (S. 151) gesonderte Berücksichtigung findet. Michael von der Linn (Columbia University) analysiert den Einfluss amerikanischer Populärmusik auf zeitgenössische deutsche Opern wie Kreneks ‚Jonny spielt auf‘ und Weills ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘. Andreas Eichhorn (Köln) studiert die amerikanischen und vermeintlich amerikanischen Elemente in Kreneks bekannter Oper und in deren zeitgenössischer Rezeption. In New York war dem ‚Jonny‘ kein Erfolg beschieden, zu europäisch kam den Amerikanern die ‚amerikanische‘ Oper daher. Ein Kritiker vermerkte: „The supposedly American features of Krenek’s opera are about as American as a Konditorei on the Kurfürstendamm.“ (S. 182) Gisela Schubert beschreibt die Geburt des Musicals aus dem Geiste des melting-pot und zeigt auf, wie sehr das junge Genre unter Rassimus (das schwarze Musical ‚Shuffle Along‘ von 1921 führte allerdings zur Aufhebung der Rassentrennung im Zuschauerraum) und Prüderie zu leiden hatte. So ließen sich Stimmen vernehmen, die deklamierten: „Any music played on a saxophone is immoral.“ (S. 189) Jack Sullivan (Rider University) wirft Schlaglichter auf die Rezeption Walt Whitmans durch europäische Komponisten.

Die dritte Abteilung schließlich widmet sich ausschließlich Kurt Weill, „Studien zu Leben und Werk“. Stephen Hinton (Stanford University) reflektiert die Problematik biografischen Schreibens in der Musikwissenschaft zwischen schlicht lebensgeschichtlicher ‚Biografik‘ und einer das Werk einbeziehenden ‚biografischen Methode‘ und hinterfragt in der Folge den heuristischen Wert solcher Kategorien wie ‚Personalstil‘ und ‚Œurve‘. Tamara Levitz (McGill University) verwahrt sich gegen Periodisierungen von Weills deutscher, jüdischer oder amerikanischer Identität und plädiert stattdessen für eine kontinuierlich multipel-komplexe, deutsch-jüdisch-amerikanische Identität als „Ausweg aus der Sackgasse der Zwei-Weill-Problematik“ (S. 244). Levitz’ zahlreiche Zitate aus Selbstzeugnissen Weills zeigen einen jungen Menschen, dessen Selbstbeweihräucherung und Karrierismus zuweilen unangenehm berühren. Erstaunlicher Weise nimmt Levitz die selbstmitleidigen und pseudo-philosophischen Exkursionen des Komponisten durchaus ernst. J. Bradford Robinson dokumentiert eine neu aufgefundene Quelle für das ‚Songspiel Mahagonny‘. Giselher Schubert (Frankfurt/Main) berichtet über Konzeption und Funktion des von Weill gemeinsam mit Hindemith und Brecht geschriebenen Lehrstücks ‚Der Lindberghflug‘ (1929), wobei er das didaktische wie letztlich auch künstlerische Scheitern aller Fassungen konstatiert. Nils Grosch (Freiburg/Breisgau) wendet sich dem von Brecht und Weill geschriebenen ‚amerikanischen‘ Ballett mit Gesang ‚Die sieben Todsünden‘ (1933) zu. Weills Beitrag zur Etablierung einer genuin ‚amerikanischen Oper‘ schließlich stellt Kowalke in einem ausführlichen Aufsatz vor: Mit den von Kowalke als Opern apostrophierten Bühnenwerken ‚Street Scene‘ (1947) und ‚Down in the Valley‘ (1948) habe der deutsch-jüdische Komponist seine größten Erfolge zu Lebzeiten errungen; und dies nicht etwa in der Metropolitan Opera, sondern auf dem Broadway.

Die für das Weill-Symposion und die Weill-Forschung wohl fruchtbare interdisziplinäre Konzeption des Sammelbandes wirft für die historischen Wissenschaften in toto nicht viel Neues ab, sind doch viele der nicht-musikwissenschaftlichen Beiträge Auskopplungen aus umfassenderen Arbeiten, die schon vor längerer Zeit erschienen sind (Schmidt-Gernig, Herzinger, Kittler) bzw. in Kürze vorgelegt werden (Klautke). Sosehr einzelne Details und Facetten auch nicht-musikwissenschaftliche Leser interessieren und faszinieren mögen, so ist doch insgesamt der hybride Charakter des Buches nicht zu leugnen.

Anmerkungen:
1 siehe Diner, Dan, Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1993; vgl. auch meine Rez. der Neuausgabe von 2002 unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2196>.
2 siehe auch die Dissertation des Kittler-Schülers Berz, Peter, 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001; vgl. auch die Rez. von Dirk van Laak unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NG-2002-033>.

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