Titel
08 / 15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Berz, Peter
Erschienen
München 2001: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
752 S.
Preis
€ 61,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk van Laak, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Unmöglich kann dies eine 08/15-Besprechung werden. Dazu stimmt das insgesamt beeindruckende Buch von Berz zu wenig mit dem Standard einer deutschen Dissertation überein. Vieles an dem Werk, mit dem er 1998 an der Humboldt-Universität promoviert wurde, ist eigentümlich: Schon der Klappentext, aber auch das Inhaltsverzeichnis, sind zwar als Ankündigung, schwerlich jedoch als Orientierung zu nutzen. Zum Glück gibt es wenigstens ein Register. Auch handelt das Buch gar nicht über das 20. Jahrhundert, sondern es beschreibt – in Tristram Shandy’scher Manier – die Vorgeschichte der Herausbildung technischer Standards im 19. Jahrhundert. Der Text selbst ist weniger chronologisch angeordnet als vielmehr aus modularen Bausteinen zusammengesetzt, die in einer gewissen Normhaftigkeit den Gospel des Kulturwissenschaftlers Friedrich Kittler streuen, der da heißt: Das Militär hat den Primat auf Standardisierungsvorgänge, die Industrie zieht nach, und Mensch wie Gesellschaft haben sich dieser Normierung schließlich zwingend zu ergeben.

Die Schüler Kittlers sind in der Wissenschaftsgeschichte immer etwas isoliert geblieben. Das ist sicher auch auf ihre hermetische Sprache zurückzuführen, von der man nicht recht weiß, ob sie eine Vermittlung zwischen Technik und Kultur leisten will oder eine Marotte ist. Leider ist auch Berz nur wenig um den Transfer in die Gemeinverständlichkeit bemüht. Vieles von dem, was den üblichen Verweishorizonten der Schule entsprechen mag, wird mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als bekannt vorausgesetzt. Ständig wird vor- oder rückgeblendet, wobei es meist nach folgendem Muster zugeht: Jemand macht eine Entwicklung, sie wird öffentlich, nach und nach zum Standard, und schließlich gibt es einen klugen Menschen (meist ein Philosoph oder Soziologe oder Literat, gern Foucault oder Canguilhem oder Pynchon, manchmal auch der gute alte McLuhan), der die geheime Rationalität hinter alldem entdeckt und auf den Punkt bringt. Die wird dann vom Autor als Quintessenz zitiert und zu einem Knotenpunkt im Netzwerk des Sinns erklärt.

So entsteht ein Verweismuster, das zwar eher auf historischer Suggestion als auf Argumentation beruht, dabei aber meist durchaus zu überzeugen vermag. Berz begründet sein Vorgehen damit, daß sich eine Kultur- und Medienwissenschaft heute den Codes zu stellen habe, welche aus physikalischen Laboren und aus der Maschinenwelt in die Medien- und Humanbereiche hinübergewechselt sind. Angekündigt wird dabei „eine künftige, systematisch-historische Theorie der Hard- und Software als solcher“ (S. 12). Denn erst der Computer bringe die Standardisierungsgeschichte zur Vollendung 1. „Das Folgende“, so Berz einleitend, „denkt Maschinen in drei Dimensionen. In der ersten sind Maschinen nur zusammengesetzt. Sie sind Aggregate aus Einzelteilen. In der zweiten sind Maschinen Systeme, die funktionieren. In der dritten ragen sie in ein meß- und medientechnisches Universum der Präzision.“ (S. 9) Das Maschinengewehr 08/15 der deutschen Infanterie des Ersten Weltkriegs habe aus diesen drei Dimensionen einen Standard des 20. Jahrhunderts gebaut. Damit ist immerhin schon mal der Titel geklärt.

Die umfangreiche, gut 700seitige Durchführung der Studie, äußerst findig in den Primärquellen und ohne Berührungsangst zum technischen Detail, ist vielleicht eher etwas für Liebhaber der Konstruktionstechnik. Sie ist voller Formeln, Schaltplänen und Konstruktionszeichnungen. Dazu sind in der Anlage noch einmal zehn ausklappbare Waffenskizzen beigefügt. Doch wird der geduldige Leser immer wieder mit überraschenden Überblendungen in die Geistesgeschichte entlohnt: „Was liegt zwischen Hegel und Freud, zwischen Bacon/Spinoza/Hegel und einer Maschinenbewegungstheorie Ende des 19. Jahrhunderts?“ - Wer die Antwort noch nicht wußte: „Ein technisches System und ein Maschinendispositiv.“ (S. 107) Auf solche und ähnliche Weise spürt Berz immer wieder den Gemeinsamkeiten in der gedanklichen Grammatik von Maschinen- und Menschendenkern nach. Das ist angesichts der heute oft künstlichen Trennung von Natur und Geisteswelt eine notwendige Erinnerung, und Berz gelingt es, die wechselseitigen Übertragungen von Erkenntnissen auf den unterschiedlichsten Gebieten (Ballistik, Kinematik, Meßtechnik, Telegraphie, Chronographie, Kinematographie etc.) zu einem Panorama der Techniken aufgespeicherter und gezielt nutzbarer Energien zu gestalten.

Im Grunde geht es nämlich in dem Buch um die konstruktive Arbeit an der Idee, Energien im Bedarfsfall möglichst gezielt zu entfesseln und in Kraft, Wärme oder Geschwindigkeit umzusetzen. Zum Modell der Maschinenwissenschaft des 19. Jahrhunderts wird das - ein geschlossenes System symbolisierende - Schloß, mit dem etwas gespannt, gesperrt und durch das Auslösen eines Knopfes oder das Entsichern eines Hebels mit ungeheurer Wucht - und gegenüber dem Impuls unverhältnismäßig wirksam - in Gang gesetzt wird. Das Leit-Artefakt ist dabei das Gewehr.

Um die Wende ins 19. Jahrhundert adaptierte der amerikanische Botschafter in Paris Thomas Jefferson die „modulare Logik“ des Chefkontrolleurs der französischen Waffenfabriken, Honoré Blanc, und transferierte sie jenseits des Atlantik. Blanc hatte die Idee der identitären, also rasch austauschbaren Teile in die Waffenproduktion eingeführt, um dem explosiv gestiegenen Bedarf nach nicht-spezialisiertem Waffengerät im Gefolge der allgemeinen Mobilisierung von Volksheeren nachkommen zu können. Von den zuvor handwerklich hergestellten Einzelwaffen, die bei Versagen schon eines einzigen Teils der Konstruktion nahezu unbrauchbar wurden, ging die Entwicklung nun zu möglichst präzisen, untereinander wechselbaren Modulen, die bei Funktionsstörungen leicht und ohne Spezialwissen ersetzt werden konnten.

Die erste Normung eines präzisen Gewehrschlosses erfolgte 1823 im „Springfield Standard“. In den Konstruktionsbüros wurden der Werkzeugmaschinenbau und die Meßtechnik weiter verfeinert 2. Dabei ging man von der Idee absoluter Identität zur Grenzwertlehre über, die geringe Toleranzen einkalkulierte. Denkt man etwa an den Kult der möglichst geringen Spaltmaße in der VW-Produktion unter Ferdinand Piëch, wird man daran erinnert, daß sich hier ein zum handwerklichen Unikat gegenteiliges Ingenieur-Ideal herausbildete. Dieser Denkstil orientierte sich an statistisch meßbaren Grenzwerten und möglichst geringen Toleranzen, um in suggestiver Weise auch auf die instrumentierten Körper der Arbeiter/Soldaten und schließlich auf Gesellschaften angewandt zu werden, deren „Wirkungsgrad“ gesteigert werden sollte. Die Kinematiker des 19. Jahrhunderts, etwa Franz Reuleaux, imaginierten als Endziel den gleichsam geräuschlosen Lauf der Staatsmaschine.

Als „American System“ trat die „modulare Logik“ später ihren Siegeszug im Produktionswesen an und wurde auf alle möglichen Industrieprodukte übertragen 3. Diese wirtschaftshistorische Seite verfolgt Berz jedoch nicht weiter. Ihm geht es um die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine. „Konformität“ wurde zum Äquivalent der technischen Normierung. Als „Versuchskaninchen“ der Effektivierung diente der Infanterist. An ihm wurde das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine erprobt, wurden Bewegungsabläufe und Psychotechniken studiert 4. Der ebenso leicht schul- wie ersetzbare „Fußsoldat“ avancierte zu einer Ikone der modernen Produktions- und Destruktionstechnik. Es wundert in dem Zusammenhang, daß sich Berz den naheliegenden Hinweis auf die Romantrilogie „08/15“ von Hans Helmut Kirst aus den Jahren 1954/55 hat entgehen lassen, mit welcher der Autor auch der Erfahrung des austauschbaren „Schützen Asch“ und dem Kasernenhofdrill ein Denkmal hat setzen wollen, dessen Sinnbild doch das endlose Zerlegen und Zusammensetzen eines Gewehrs ist. Der Infanterist wurde hier zum Maschinist, die Geschwindigkeit des Ladens bzw. die Steigerung des Durchsatzes an Schüssen fortan zum Gegenstand des militärischen Drills und der technischen Fortentwicklung bis zum Maschinengewehr von Maxim. In dessen Patronenband kündigt sich das Fließband der Massenproduktion an.

Hiram Stevens Maxim hatte nach dem Vorbild Thomas Alva Edisons gelernt, daß man um 1880 als zeitgemäßer Ingenieur nicht durch Erfindungen reich und berühmt wurde, sondern durch das Setzen von Standards, am besten mit Hilfe einer ausgeklügelten „Patentpolitik“ (S. 643) 5. So zielte er gleich unbescheiden auf einen „Standard for the World“, und tatsächlich wurde sein Maschinengewehr später als ein solcher gepriesen. Es bilanzierte die technische Entwicklung des 19. Jahrhunderts in einer so effektiven Weise, daß schon 1898 eine kleine Anzahl dieser Gewehre bei Omdurman den seit längerem schwelenden Mahdi-Aufstand im Sudan zu beenden vermochte, indem eine Übermacht an Derwischen kurzerhand niedergemäht wurde. Diese Erfahrung des ebenso kurzen wie nachhaltigen Einsatzes einer waffentechnischen Überlegenheit zur (siegreichen) Beendigung eines Krieges sollte die strategischen Phantasien der Militärs auch im 20. Jahrhundert begleiten. Doch war schon im Ersten Weltkrieg zu beobachten, daß statt dessen lediglich ein verhängnisvoller Rüstungswettlauf in Gang kam. Standards wurden dabei zu Feldzeichen nationaler Wettbewerbe, zu „Standarten technischer Schlachten“ (S. 719).

Firmen, die ansonsten zivile Maschinen herstellten, konnten im Gefolge des Hindenburg-Programms von 1916, mit dem eine Verdreifachung der Maschinengewehrproduktion erreicht werden sollte, vergleichsweise problemlos auf Waffenproduktion umschalten. Das Ergebnis war das M.G. 08/15, dessen Produktion auf unterschiedliche Standorte verteilt wurde, die jeweils einzelne Bauteile zulieferten. Damit war nach Berz ein erster militärisch-industrieller Komplex angelegt, dessen koordinierendes Zentrum seit 1917 der „Normenausschuß der Deutschen Industrie“ (heute „Deutsches Institut für Normung“, kurz: DIN) darstellte.

Berz begründet den Abschluß seiner Darstellung beim Maschinengewehr folgendermaßen: „Durch Hiram Stevens Maxims modularen Serienstandard laufen nicht nur militärische, sondern diskursive, administrative, epistemologische Techniken: eine infanteristische Ordnung der Disziplin, aufgehoben in Maschinen als Waffen; eine Mediengeschichte des Maschinenwissens, die vom symbolischen Universum der Maschinen-Zeichen zu unendlichen Serien diskontinuierlicher Zeitabschnitte und von den Zeitschnitten der Chronographie zum Kino führt; ein elektrotechnischer Standard, der unbegrenzte Serialität als ein Netzwerk von Verbrauchern etabliert; und schließlich Konstruktionsnormen, Fabrikationsweisen, Grenzliniensysteme, die in allgemeine Standardisierungsinstitutionen münden.“ (S. 719f.)

Auch im Text wird fortdauernd etwas zerlegt, angepaßt, angeordnet und wieder zusammengesetzt. In dieser Assoziativ- und Überblendungstechnik hat das Buch fast etwas Überlebtes, weil es den - schon wieder weithin ausgeblendeten - Diskurs der postmodernen Franzosen, also vor allem Foucault, Deleuze/Guattari und Virilio, fortschreibt. Es belegt aber, daß die Anregungen dieser Vordenker des Ambivalenten in der Moderne vielleicht doch noch lange nicht ausgeschöpft sind. Allerdings wünschte man sich, eine solch anregende Archäologie kultureller und technischer Normen in einer Darreichungsform rezipieren zu können, die den Standards der Verständlichkeit stärker entgegenkommt.

Anmerkungen:
1 Vgl. zur Vorgeschichte Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. 2. erw. Aufl. München 1999.
2 Dazu Wolfgang König: Künstler und Strichezieher. Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930, Frankfurt/Main 1999.
3 Thomas P. Hughes: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg in den USA seit 1870, München 1991.
4 Dies hat der von Berz nicht erwähnte Anson Rabinbach (Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001) ausgeführt.
5 Hierzu jetzt die Untersuchung von Kees Gispen: Poems in Steel. National Socialism and the Politics of Inventing from Weimar to Bonn, New York/Oxford 2002.

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