M. Falser: Zwischen Identität und Authentizität

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Titel
Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland


Autor(en)
Falser, Michael S.
Erschienen
Dresden 2008: Thelem
Anzahl Seiten
360 S., 135 Abb.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Speitkamp, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation, die an der Technischen Universität Berlin im Rahmen des Graduiertenkollegs „Kunstwissenschaft – Bauforschung – Denkmalpflege“ entstanden ist. Der Autor hat Architektur und Kunstgeschichte studiert und verfügt insofern über hervorragende Voraussetzungen für eine umfassende Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland. Ihm geht es vor allem um die politische Geschichte zwischen kunsthistorischem und öffentlichem Diskurs einerseits und nationaler Identitätsbildung andererseits. Eine solche politische Geschichte der Denkmalpflege über zwei Jahrhunderte hinweg, seit der Zeit von Aufklärung und preußisch-rheinbündischen Reformen, fehlte bislang tatsächlich. Nur ein nordamerikanischer Historiker, Rudy Koshar, hat zuvor versucht, eine Gesellschaftsgeschichte der Denkmäler und der Denkmalpflege zumindest für die Zeit seit dem späteren 19. Jahrhundert zu schreiben.1 Falser ist höchst belesen, und er lässt die Leserinnen und Leser an seinen breiten intellektuellen Interessen teilhaben. Das ist nicht immer ganz einfach zu verarbeiten, weil es zu vielen Zitaten, Theoriebezügen und überladenen Satzbildungen führt. Dennoch ist das Buch überaus anregend. Es enthält eine Fülle von Assoziationen und Funden, zahlreiche aufschlussreiche Bildbeispiele, geistreiche Bemerkungen und provozierende Urteile.

Falser behandelt drei Epochen – das 19. Jahrhundert, die Zeit von 1945 bis 1989 sowie die Gegenwart um 2000. Seine Ausführungen zu Theorie und Diskursen gehen von insgesamt sechs Fallbeispielen aus: Erstens ist das die Entwicklung Preußens zwischen 1795 und 1840, konkret die Rolle Friedrich Gillys und Karl Friedrich Schinkels (der bei ihm eher schlecht wegkommt als Vertreter eines autoritären Beamtenstaats); Erläuterungen zur Marienburg und zum Erfurter Dom ergänzen dies. Zweitens rückt die Debatte über das Heidelberger Schloss um 1900 in den Blick, eine Debatte, bei der sich so unterschiedliche Autoren wie Georg Dehio und Alois Riegl gegen eine Rekonstruktion der Ruine aussprachen. Diese Kontroverse gilt Falser als Beginn der modernen Denkmalpflege in Deutschland. Drittens geht es um den Wiederaufbau nach 1945, und zwar sowohl um die intellektuellen Debatten wie um den konkreten Wiederaufbau in Frankfurt am Main. Viertens wird der Blick auf das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 im Kontext von nationalen Programmen und Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik gerichtet. Hier betont Falser den rückwärtsgewandten Charakter der westdeutschen Interpretation des europäischen Denkmalschutzgedankens, der sich auch im Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ ausgedrückt habe. Die Erweiterung des Denkmalbegriffs auf ganze Sozialgefüge sei nur von außen (Kunstgeschichte) und von unten (Bürgerinitiativen) angestoßen worden. Fünftens wird der Rückbau des Hildesheimer Marktplatzes näher betrachtet, konkret der rekonstruierende Umgang mit dem modernisierenden Nachkriegswiederaufbau in den 1980er-Jahren. Sechstens schließlich geht es um Berlin nach 1990, um die Spreeinsel und die Debatten rund um die „Entsorgung“ der baulichen DDR-Geschichte sowie um die Rekonstruktion einer preußisch-deutschen Nationalgeschichte. Herausragende Objekte wie das Lenin-Denkmal in Ost-Berlin, die Neue Wache, der Palast der Republik und das Schlossbauprojekt stehen hier zur Diskussion. Berlin scheint im Grunde der Fluchtpunkt von Falsers Arbeit zu sein. Seine Position ist hier unzweideutig: Er attackiert die aus seiner Sicht von Eliten aus Politik und Wirtschaft durchgesetzte Beseitigung der Spuren einer strittigen und brüchigen Geschichte zugunsten eines bereinigten Mythenraumes.

Nicht ganz eindeutig sind hier allerdings die Bewertungskriterien. Falser beruft sich auch auf die öffentliche Meinung: Das Ost-Berliner Lenin-Denkmal wurde demnach 1991/92 „unter landesweitem Protest zerstört“ (S. 288). Das ist freilich ein problematisches Argument, denn man müsste erst klären, wessen Meinung hier einbezogen werden sollte (Anwohner, Berliner, ehemalige DDR-Bürger, alle Deutschen etc.), wie und wann sie abgefragt wird. Falser selbst wendet sich an anderer Stelle gerade gegen eine zeitgeistorientierte Denkmalpflege (S. 312) – dann nämlich, wenn sie für idyllische Stadtrekonstruktionen in Anspruch genommen wird. Woran also soll sich die Denkmalpflege eigentlich orientieren (Wissenschaft, Ästhetik, Ethik, Mehrheitsmeinung etc.), wenn sie berechenbar, kontrollierbar und rechtsstaatsfähig agieren will? Zweifellos aber sind die Fallbeispiele, auch wenn sie aus sehr unterschiedlichen Kategorien gewählt wurden, wichtig und aufschlussreich.

Die Hauptthese der Arbeit lautet, dass „der Diskurs über denkmalpflegerische Theorie und Praxis ein Spiegelbild der kulturpolitischen Konstruktion nationaler Identität(en)“ sei (S. 59). Die krisenhafte, von zahlreichen tiefen Einschnitten und gescheiterten Revolutionen gekennzeichnete Geschichte der deutschen Nationsbildung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert habe sich daher in immer wiederkehrenden Debatten über die Rekonstruktion überlieferter Objekte niedergeschlagen: „Das Thema der Rekonstruktion blieb bis heute die materiale Kehrseite zum mentalen ‚Sonderweg’ des deutschen ‚nation-building’-Prozesses mit seinen mit Selbstzweifel und selbst auferlegtem Zeitdruck durchsetzten Identitätskonstruktionen“ (S. 68). Zu Recht betont Falser Kontinuitäten. So wurde ein Großteil der Argumente der Rekonstruktionsdebatten der Gegenwart auch schon um 1900 vorgetragen. Ebenso zu Recht betont er, dass die Frage von Authentizität und Rekonstruktion zu den zentralen Herausforderungen der Denkmalpflege zählt. Und zu Recht schließlich weist Falser darauf hin, dass Rekonstruktionen dazu tendieren, gewissermaßen die Geschichte zu ersetzen, als die eigentliche Geschichte angesehen zu werden. Wem seine Sympathie gilt, ist unzweideutig: Er plädiert für das Offenhalten, für die Ablesbarkeit der Irrwege der Geschichte, für den „Streitwert“. Manchmal ersetzen apodiktische Urteile und engagierte Formulierungen die klare Herleitung. Nicht immer ist das, was mit eindrucksvollen Zitaten von Adorno, Horkheimer oder Marcuse unterlegt wird, auch sicher bewiesen. Aber es ist immer anregend und diskussionswürdig. Intellektuell handelt es sich bei dem Buch um einen der wichtigsten jüngeren Beiträge zur Debatte um Wandel und ‚Entstaatlichung’ der Denkmalpflege.

Drei Aspekte kommen vielleicht etwas zu kurz: Erstens überrascht gerade angesichts der Bedeutung, die Falser den krisenhaften Aspekten der deutschen Nationsbildung widmet, dass er die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Zeit kaum behandelt. Zweitens wird die Tradition des Föderalismus vernachlässigt. Das gilt sowohl für die Zeit des Kaiserreichs, wo die Interessen von Bayern, Baden oder Hessen-Darmstadt ebenfalls eine Rolle spielten, als auch für den Kontext des Europäischen Denkmalschutzjahres. Drittens verzichtet Falser weitgehend auf den europäischen Vergleich. Er leitet seine zentrale These vom deutschen Sonderweg der Nationsbildung, der sich in der Denkmalpflege gespiegelt habe, allein aus der deutschen Geschichte ab. Rekonstruktionen in Frankreich im 19. Jahrhundert oder der Umgang mit der Überlieferung in osteuropäischen Staaten nach 1991 verdienten es jedoch, näher erörtert zu werden, wenn man einen deutschen Sonderweg behaupten will. Territoriale und politische Zäsuren haben andere Staaten ebenfalls erlebt, neben Frankreich zum Beispiel auch Italien oder Polen. Rekonstruktionsdebatten werden dort ebenfalls geführt, und zwar gleichermaßen im Kontext der nationalen Identität.2

Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, dass Falser sich früh auf die Sonderwegsthese festgelegt hat und sie mit einer Fülle von Gewährsleuten betont, aber nicht mehr diskutieren will, warum die neuere historische Forschung davon abgekommen ist. Falser präsentiert eine aufgeklärte, aber recht hermetische Meistererzählung der deutschen Denkmalpflege. Angesichts der vielen nationalen Eigenwege in Europa wäre jedoch vielleicht eher zu erklären, warum denn immer wieder die Frage nationaler Identität um zentrale Erinnerungsorte im wörtlichen Sinn kreiste, um gesetzte und gewordene Denkmäler, und warum immer wieder – nicht nur in Deutschland – höchst kontroverse Debatten um Authentizität und Rekonstruktion ausgetragen wurden und werden. In diesem Kontext ist dann allerdings zu diskutieren, welche Aufgabe der staatlichen Denkmalpflege heute zukommt: Ist sie Exekutivorgan wissenschaftlicher Einsicht oder öffentlicher Interessen, Mediatorin zwischen Administration und Eigentümern, Lakai neonationaler Bestrebungen (wie man Falser zugespitzt interpretieren könnte)? Oder droht sie nicht vielmehr, wie man pessimistisch mit Blick auf aktuelle Entwicklungen folgern könnte, zum Bestandteil einer kulturellen Wellness-Agentur zu werden? Rekonstruktion und Denkmalpflege wären dann nur noch zwei Sparten einer Branche.

Anmerkungen:
1 Rudy Koshar, Germany’s Transient Pasts. Preservation and National Memory in the Twentieth Century, Chapel Hill 1998; ders., From Monuments to Traces. Artifacts of German Memory, 1870–1990, Berkeley 2000.
2 Für Fallbeispiele im deutsch-polnischen Vergleich siehe etwa Dieter Bingen / Hans-Martin Hinz (Hrsg.), Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen, Wiesbaden 2005 (rezensiert von Andreas R. Hofmann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-012>).