D. Bingen u.a. (Hrsg.): Die Schleifung

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Titel
Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen


Herausgeber
Bingen, Dieter; Hinz, Hans-Martin
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 20
Erschienen
Wiesbaden 2005: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Leipzig

Der Sammelband geht auf einen gemeinsamen Workshop des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, des Polnischen Instituts Leipzig und des Deutschen Historischen Museums Berlin vom Januar 2002 zurück. Obwohl der Diskussionsstand besonders zur Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits überholt war, ist die Thematik der Zerstörung, Erhaltung und Rekonstruktion historischer Baudenkmäler von unveränderter Aktualität. Heute dominieren Gesichtspunkte infrastruktureller Optimierung und Gewinnmaximierung durch Abriss (Stichwort: „schrumpfende Städte“). Diese sind ebenso wenig ideologiefrei und veränderlichen Gegenwartsinteressen enthoben, wie es die von politischen Zwecken geprägten Fallbeispiele des Sammelbandes waren.

In einem engeren Sinne meint „Schleifung“ die Niederlegung eines Festungsbaus, die der Eroberer nach der Einnahme verfügt. Das Zerstörungswerk geschieht also gerade nicht während der Kriegshandlung, sondern es ist vor allem ein Akt politischer Symbolik, der die Wehrlosmachung des Gegners ebenso zur Anschauung bringt wie seine politische Unterwerfung und moralische Demütigung. Zerstörungsakte dieser Art kennt die Geschichte über alle Kultur- und Epochengrenzen hinweg. In der industriellen Moderne, als Wehrbauten ihren militärischen Zweck eingebüßt hatten, verlagerte sich die Semantik der Schleifung umso stärker auf den politischen und kulturellen Symbolwert historischer Denkmäler. Die Schleifung zielt seither in einem übertragenen Sinne auf die politisch-ideologischen Bollwerke eines als überholt verstandenen Gesellschaftssystems, eines ideologischen Gegners oder einer als feindlich definierten Nationalkultur. In diesem Sinne können alle Bauwerke der Schleifung zum Opfer fallen, die einen politischen oder kulturellen Symbolcharakter besitzen.

Die Zeichenhaftigkeit der Schleifung ist nicht unbedingt von den Intentionen des Erbauers abhängig. Anders als beim Ikonoklasmus und beim Denkmalsturz kann die Symbolik des Bauwerks in manchen Fällen erst durch semantische Zuschreibungen im Verlaufe der Zeit, ja erst durch die Schleifung selbst oder gar in der schließlichen Abwesenheit des geschleiften Baus entstehen, wie Hans Wilderotter am Beispiel der Niederlegung der Bastille erörtert. Davon unabhängig ist die Frage zu beurteilen, ob den Revolutionären von Paris bereits die Symbolik ihrer Handlungsweise bewusst war oder diese erst durch nachträgliche Zuschreibung geschaffen wurde.

Auch der Angriff auf das New Yorker World Trade Center (WTC), unter dessen noch frischem Eindruck der Workshop abgehalten wurde, war eine „Schleifung“ im vorgenannten Sinne. An der Absicht der Terroristen, ein politisches Symbol zu setzen, kann nicht gezweifelt werden. Doch verweist Robert MacDonald, Direktor des New York City Museum, darauf, dass weder das WTC noch das Pentagon in den Augen der US-Amerikaner einen besonderen politisch-kulturellen Symbolcharakter besaßen. Der symbolische Wert wurde diesen Objekten vornehmlich durch die Angreifer zugeschrieben.

Die Entscheidung, wie mit Ruine und Platz eines geschleiften Bauwerks umzugehen sei, besitzt einen nicht minderen symbolpolitischen Stellenwert. Die Rekonstruktion des historischen Bauwerks als „Antischleifung“ (so der von Hans-Jörg Czech in seinem die Tagungsergebnisse resümierenden Text vorgeschlagene Begriff) wird deshalb zu einer Option der Stadtplaner/innen und Denkmalpfleger/innen. Weil Polen und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Ländern mit den höchsten Verlusten an historischer Bausubstanz zählten, wurde spätestens in der Zeit nach 1945 das nahezu zum Dogma gewordene Diktum Georg Dehios von 1905, dass Verluste historischer Baudenkmäler zu akzeptieren seien, massiv in Frage gestellt. Gerade Polen war ja nicht nur Opfer von Flächenbombardements geworden, sondern auch das Ziel einer deutschen Politik der Vernichtung seiner nationalen Existenz. Die totale Zerstörung der Warschauer Altstadt war ein Racheakt für den vorausgegangenen Aufstand und zugleich eine konsequente Fortsetzung dieser Politik. Deshalb erzielten die polnischen Kunsthistoriker/innen und Denkmalpfleger/innen in breitem Konsens mit der polnischen Gesellschaft rasch Übereinstimmung darüber, dass nicht nur einzelne Bauwerke von besonderer nationalkultureller Bedeutung, sondern ganze Altstadtquartiere flächendeckend zu rekonstruieren seien. So kam es selbst in den Städten der vormaligen deutschen Gebiete zu im internationalen Vergleich einzigartigen Rekonstruktionsleistungen (siehe die Beiträge von Bogdana Kozińska zu Stettin und Konstanty Kalinowski zur ehemaligen Freien Stadt Danzig). Allerdings war diese Politik nicht frei von inneren Widersprüchen. Während die zerstörten Städte in den neuen Gebieten zunächst noch Baumaterial für die Rekonstruktion der Hauptstadt Warschau abgeben mussten, wurden ihren neuen Bewohnern die Anstrengungen für den Wiederaufbau durch ihre Umdeutung zu „altpolnischen“ Städten schmackhaft gemacht. Am bekannten Beispiel des Warschauer Königsschlosses veranschaulicht Piotr Majewski, wie sich auch in Polen konkurrierende stadtplanerische und denkmalpflegerische Konzeptionen gegenseitig blockierten und die Politik der Staatsführung den originalgetreuen Wiederaufbau bis zum Beginn der 1970er-Jahre verhinderte.

In den beiden deutschen Staaten verlief die Entwicklung ganz anders. Bis zum Jahr 1975, das international eine denkmalpflegerische Wende markierte, dominierten hier Vorstellungen, die Kriegszerstörungen als tabula rasa einer völligen Neukonzipierung zu benutzen. Trotz unterschiedlicher ideologischer Voraussetzungen – im Westen die Erwartung der Massenmotorisierung, im Osten die Planung für eine „Massenmobilisierung durch inszenierte Großdemonstrationen in den Zentren der Städte“ (Werner Durth, S. 47f.) – waren die Parallelen in der städtebaulichen Entwicklung unübersehbar. In beiden Staaten waren Stadtplaner und politische Entscheidungsträger bereit, der Neugestaltung der Innenstädte auch unzerstörte oder wenig beschädigte, kunsthistorisch wertvolle Bauwerke zu opfern. Eine weitere Parallele bestand darin, dass sich in den Rechtfertigungen derartiger Zerstörungsakte so gut wie niemals symbolpolitische Argumente finden, sondern stets mit Hinweisen auf sicherheits- und verkehrstechnische sowie allgemein stadtplanerische Notwendigkeiten gearbeitet wurde (Durth). Anders als in der DDR mit ihrer zentral gesteuerten, letztlich vereinheitlichenden Stadtplanungspolitik wurden in der Bundesrepublik gleichzeitig sehr unterschiedliche Konzepte des Wiederaufbaus verwirklicht, wie Ulrich Höhns anhand von Freudenstadt im Schwarzwald und der Helgoland-Siedlung darlegt.

Ein interessanter Seitenaspekt der Thematik ist der Umgang mit den baulichen Hinterlassenschaften der Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Nicht ganz überraschend ist der Befund von Janusz L. Dobesz, dass nationalsozialistische Zweckbauten der 1930er-Jahre nach der Entfernung der deutschen Hoheits- und Parteizeichen unverändert weitergenutzt wurden. Leider fehlt in diesem Beitrag eine Antwort darauf, inwieweit diese Architektur von ihren neuen polnischen Nutzern überhaupt als „deutsch“ oder gar „nationalsozialistisch“ wahrgenommen wurde oder ob sie nicht vielmehr einem internationalen Funktionsstil zuzuordnen ist. Mit einer architektonischen Weiternutzung ganz anderer Art befasst sich Hans-Ernst Mittig: Er verweist die selbst in Denkmalpflegerkreisen verbreitete Behauptung, der rote Marmor aus der zerstörten Reichskanzlei sei bei der Errichtung der sowjetischen Ehrenmäler in Berlin als Spolie wiederverwendet worden, in den Bereich der Legende. Im Kalten Krieg diente die Behauptung gleichwohl dem Zweck, eine buchstäblich materiell greifbare Kontinuität zwischen den „beiden Diktaturen“ zu belegen.

Trotz der von Durth und anderen Tagungsteilnehmer/innen hervorgehobenen Abwesenheit ideologischer Begründungen bei der Schleifung historischer Baudenkmäler ist es gerade das Skandalon einer angeblich „barbarischen“ kommunistischen Kulturpolitik, das von den Lobbyisten/innen des originalgetreuen Wiederaufbaus in den Mittelpunkt ihrer Argumentation gerückt wird (Beiträge Wilhelm von Boddiens zum Berliner Stadtschloss und Christian Wendlands zur Potsdamer Hof- und Garnisonkirche). Als Historiker möchte der Rezensent an dieser Stelle auf eine gewisse Unterkomplexität des Argumentationsganges der fast ausschließlich mit Kunsthistoriker/innen und Denkmalpfleger/innen besetzten Tagung hinweisen. Zum einen „beweist“ die Abwesenheit ideologischer Argumente in den einschlägigen Quellen selbstverständlich nicht, dass sie im Umgang mit der historischen Bausubstanz keine Rolle gespielt hätten – dies wäre eine unzulässige Folgerung e silentio (dazu auch der Hinweis von Dieter Bingen in der Abschlussdiskussion, S. 204f.). Noch wichtiger ist der Einwand, dass die Autoren offenbar eine vereinfachte Trias aus Gesellschaft, Expertenöffentlichkeit und der letztlich entscheidenden Staats- und Parteiführung des DDR-Regimes annehmen. Ein Blick in die Forschungsliteratur, etwa zur Vorgeschichte der (in dem Band nicht behandelten) Sprengung der Leipziger Universitätskirche 1968, liefert jedoch Aufschluss darüber, welche entscheidende Rolle gerade den mittleren Instanzen (im genannten Fall der Leitung der Karl-Marx-Universität) zukam.1 Die simple Vorstellung „totalitärer“ Politikdurchsetzung hilft an dieser Stelle nicht weiter.

Umgekehrt muss die in dem Band nur am Rande angesprochene Frage erlaubt sein, ob der heute verstärkte Ruf nach Rekonstruktion historischer Baudenkmäler und ganzer Stadtsilhouetten nicht seinerseits sehr stark ideologisch bestimmt ist, nämlich von der Aversion gegen bauliche Hinterlassenschaften der DDR, die man aus dem historischen Gedächtnis löschen möchte. Auch die andernorts vielfach diskutierte oder bereits vollzogene Wiederherstellung von Baudenkmälern und historischen Quartieren (Beitrag Dethard von Winterfelds zu den deutschen Residenzschlössern) mag bereits in der Zeit der „alten“ Bundesrepublik der ostentativen Abgrenzung von Zerstörungsentscheidungen in der DDR gedient haben. Heute dagegen steht vielfach das stadtgewerbliche „Branding“ im Vordergrund – die Erzielung eines kommerziellen Mehrwerts durch die Herstellung einer touristisch attraktiven, „gemütlichen“ Fassadenlandschaft –, ist aber keineswegs frei von politischer Ideologie. Die Diskussion darüber, was als „erlaubte Rekonstruktion“ (von Winterfeld) zu betrachten ist und was nicht, wurde von den Tagungsteilnehmern ein ganzes Stück weitergeführt, kann aber an dieser Stelle nur angedeutet werden.

Anmerkung:
1 Löffler, Katrin, Die Zerstörung. Dokumente und Erinnerungen zum Fall der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1993; Winter, Christian, Gewalt gegen Geschichte. Der Weg zur Sprengung der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1998.

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