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Titel
Max Weber - Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen


Autor(en)
Sukale, Michael
Erschienen
Tübingen 2002: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
642 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie Max Webers, dessen Werk in vielen Tausenden von Aufsätzen, Sammelbänden und Monographien aus einer Vielzahl von Disziplinen analysiert worden ist (und weiter werden wird), wird seit langem als Desiderat empfunden. Die Unzulänglichkeiten des „Lebensbilds“, das Marianne Weber von ihrem Mann gezeichnet hat, 1 und der von ihr publizierten Sammlung der „Jugendbriefe“ Webers 2 sind ebenso evident wie diejenigen der Materialiensammlung, die 1964 Webers Neffe Eduard Baumgarten 3 vorgelegt hat. Wertvolles Quellenmaterial ist inzwischen durch die Edition der Weber-Briefe im Rahmen der Max Weber Gesamtausgabe (= MWG) erschlossen worden, jedoch erstrecken sich die bisher vorliegenden Bände nur auf den Zeitraum 1906-1912.

In seinem, im Weberschen Hausverlag vorgelegten Buch stützt sich Michael Sukale allein auf diese Publikationen; an Baumgartens Sammlung hatte er einst als Hilfsassistent mitgewirkt (XVIIIf.). Sukale ist sich bewußt, keine „ins Einzelne gehende Biographie“ für jene Zeiten vorlegen zu können, für die Weber-Briefe noch nicht ediert sind (XVIII, vgl. 196. 483). Dennoch beansprucht er, erstmals eine „Gesamtdarstellung“ zu bieten, die das „Leben, das Werk und die geistigen Wahlverwandtschaften Webers zu einem Ganzen“ vereint (XVf.). Neugierig macht die Feststellung, daß alles dies „ohne Rücksicht auf die gelehrte Weberliteratur“ geschehe (XX), da die Auswertung von Sekundär- nur zu Tertiärliteratur führe (74).

Das Ergebnis kann man nur als Desaster bezeichnen. Das Buch ist auch dann unlesbar, wenn man dem freundlichen Hinweis des Autors folgt, die einzelnen Kapitel und sogar Abschnitte könnten auch jeweils für sich gelesen werden (XVII. 62f.). Geboten wird eine Zitatenkompilation aus Webers Schriften und Briefen, aus dem „Lebensbild“ („doch nun übergeben wir Marianne selbst das Wort“, 137) und aus Texten von Vorläufern und Zeitgenossen, die für Webers Werk relevant sein sollen. Da die „Briefe für sich selbst sprechen können, sollte sie der Herausgeber [sic] nicht überinterpretieren, er hat schließlich in der Auswahl der Bruchstücke sein Stück Arbeit hinlänglich getan“ (XVII).

Insgesamt bietet Sukale eine „Zitatensammlung“ (so treffend XVIII), die er mit Überleitungen verbindet, die meistens banal („Wir kommen zum Ersten Weltkrieg“, 537), manchmal auch komisch ausfallen: wir werden „kurz eine philosophische Auseinandersetzung über die Erkenntnis der Welt nachzuvollziehen suchen, die sich zwischen Aristoteles und Kant entspann und in die Weber und sein Kreis hineingezogen wurden“ (207 – zu Webers „Objektivitätsaufsatz“).

Gelegentlich ist allerdings auch „sorgfältige Interpretation“ gefordert (XVII); so wird als Trouvaille präsentiert, daß Karl Jaspers 1948 in einem Aufsatz über den athenischen Gesetzgeber Solon diesem eine Haltung unterstellt, die genau gegensätzlich zu Webers Position - „Was ich nicht mache, machen andere“ - ist. Als Deutung für diese „kryptisch-kritische Bemerkung, die nur für Eingeweihte zu entschlüsseln ist“, wird angeboten: „Ist es eine versteckte Kritik an Max Weber, oder der Versuch, Weber auf die Höhe Solons zu bringen?“ (19f.).

Zur Biographie Webers erfährt man nichts substantiell Neues. Über den familiären Hintergrund Webers kann man sich nun ausführlich in der großen Studie von Guenther Roth 4 informieren. Bei Sukale ist zu lesen, daß Weber „nicht von der im Wochenbett fiebernden Mutter, sondern von der Frau eines sozialdemokratischen Tischlers gestillt“ wurde (82); daß man im 19. Jahrhundert junge Männer warnte, Masturbation führe zu Gehirn- und Nervenschäden, wird erwähnt, „um das allgemeine Klima sexueller und erotischer Enge zu umreißen, in dem Weber aufwuchs“ (79). Sukale meint, daß Webers psychischer Zusammenbruch von 1897 mit den langjährigen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit 5 für sein Werk von eher geringer Bedeutung gewesen sei (5. 189) – ob dies so ist, ließe sich aber nur beurteilen, wenn die Frage nach der Einheit des Werkes bzw. nach den Brüchen und Werkphasen systematisch erörtert würde. Im Zusammenhang mit der schweren Krise von 1897 wird die Ankündigung wahr gemacht, gelegentlich auch „einige intime Einzelheiten aus Webers Leben“ zu erzählen, „um die Spannung zu erhöhen“ (XVIII). Es wird eine mündliche Äußerung von Eduard Baumgarten wiedergegeben, nach der Weber „Masochist gewesen [sei] und Else Jaffé [...] diesen Wunsch befriedigt“ habe (196). Die Beziehung von Weber und Else Jaffé begann aber erst später, was diese „Enthüllung“ im Hinblick auf den schweren Konflikt mit dem Vater besagt, der gemeinhin als Auslöser der psychischen Dekomposition gilt, bleibt offen. Ob man das Geheimnis um Webers psychische und sexuelle Probleme unbedingt gelüftet sehen will, sei dahingestellt; allerdings wäre durchaus von Interesse, wie sich diese auch in seinem Werk widerspiegeln könnten. Sukale (485f.) verweist mit Recht auf solche Bezüge in der „Zwischenbetrachtung“ der religionssoziologischen Aufsätze (MWG I/19, 479ff.); man könnte – angesichts des Verhältnisses mit Else Jaffé – auch an die ziemlich unvermittelten Äußerungen zu ehelicher Untreue und erotischer Konkurrenz im Münchener Vortrag vom Januar 1919 über „Politik als Beruf“ (MWG I/17, 231) denken.

Zu Webers akademischer Karriere wäre wichtig, genauer zu wissen, wieso der „Verein für Socialpolitik“ ausgerechnet ihm den wichtigsten Teil der Landarbeiter-Enquête (MWG I/3) übertragen hat, was wesentlich zu Webers Berufung auf einen nationalökonomischen Lehrstuhl in Freiburg beitragen sollte – Vorgänge, die bei Webers akademischem Werdegang doch erheblich erklärungsbedürftiger sind, als Sukale annimmt (5. 146).

Breit wird auf die in Webers „Jugendbriefen“ als Lektüre genannten Werke von Gibbon, Ranke, Buckle und Treitschke eingegangen, aber worin genau die prägenden Eindrücke auf die intellektuelle Biographie Webers liegen sollen (69), wird nicht deutlich. Auch wenn Weber während seiner Militärdienstzeit Gibbon gelesen hat, brauchte er schwerlich diese Leseeindrücke, um über Sinn und Unsinn militärischer Disziplin zu räsonieren (96ff., 516f.).

Mit Recht wird darauf hingewiesen, wie stark sich der junge Weber mit dem Werk Theodor Mommsens auseinandergesetzt hat – nur ist dies seit Jürgen Deiningers Edition von Webers Habilitationsschrift über die römische Agrargeschichte (MWG I/2) hinlänglich bekannt. Hübsch ist aber die Bemerkung, daß Mommsen beim ersten Austausch über Probleme des römischen Bodenrechts anläßlich von Webers Doktordisputation 1889 „schon ein anerkannter Agrarhistoriker“ war (144).

Max Weber hat „Konquistadorenzüge“ 6 in einer Vielzahl von Fachdisziplinen unternommen und damit ein Werk sui generis geschaffen, auch wenn es ein Torso geblieben ist. Wie stark er dabei auf Ergebnisse aus den Einzeldisziplinen zurückgriff, ist oft nicht leicht zu erkennen, da Weber die verwendete Literatur - wenn überhaupt - nur selektiv zu zitieren pflegte. Mit den inzwischen vorliegenden Bänden der MWG sowie durch eine Vielzahl von Aufsätzen und Monographien sind aber in den letzten drei Jahrzehnten wesentliche wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge aufgedeckt worden, auch wenn weiterhin noch sehr vieles der Klärung bedarf. Sukales Behauptung, „die Bezüge zu Webers geistigen Vorfahren und Zeitgenossen“ seien „nur selten bearbeitet“ worden, „von einigen Aufsätzen in Fachzeitschriften und einem Sammelband einmal abgesehen“ (XV, vgl. XVIII), 7 zeugt nicht von souveräner Distanzierung von der Sekundärliteratur, sondern nur von Ignoranz. Es ist unbegreiflich, wie man über Webers Werk als Ganzes schreiben und dabei seine wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Karl Rodbertus, Karl Bücher, Gustav von Schönberg, Lujo Brentano, Rudolf Stammler, Eduard Meyer, Julius Wellhausen, Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel, Karl Lamprecht, Georg von Below, Georg Jellinek, Rudolf von Gneist usw. ignorieren oder das Konzept der charismatischen Herrschaft behandeln kann (394ff.), ohne auf die Kontroverse zwischen Rudolph Sohm und Adolf von Harnack über die Verfassung der frühen Kirche 8 einzugehen.

Webers Wirkung zu Lebzeiten und sein großer Nachruhm sind sicherlich differenziert zu bewerten, aber nicht in dem Sinne, daß Weber bis zu seinem Tode „nur wenigen bekannt war und [...] vielleicht unbekannt geblieben“ wäre, wenn sich Marianne Weber nicht der Pflege seines geistigen Erbes gewidmet hätte (XV). Wissenschaftler aus zahlreichen Disziplinen nahmen Weber als Autorität wahr, jedoch galt er zu seinen Lebzeiten wohl kaum als „einer der Gründerväter der Soziologie“ (1). 9 An anderer Stelle heißt es, Weber sei „nur im engeren Fachkreis seiner akademischen Kollegen bekannt“ gewesen und auch „seine politischen Ansichten“ seien „nur wenigen Kollegen zu Gehör gekommen“ (18). Es ist unerfindlich, wie dies zur großen Wirkung von Webers politischen Publizistik passen soll, weiß doch auch Sukale, daß dies nicht erst für die öffentlichen Stellungnahmen der Kriegs- und Nachkriegszeit (MWG I/15 und 16) gilt, sondern auch schon für diejenigen im Anschluß an die Landarbeiterstudie, die „nationale Beachtung“ (146) fanden. Für Webers Heidelberger Ehrenhändel 1910/11 hatten sich im übrigen Zeitungen aus ganz Deutschland interessiert (351f.).

Wichtiger als die im Untertitel genannten „Zeitgenossen“, mit denen sich Weber unmittelbar auseinandersetzte (daß umgekehrt die zeitgenössische Rezeption Webers durch andere nicht behandelt werden soll, erfährt man en passant, 297), 10 scheinen für Sukale Aristoteles, Platon, Machiavelli oder Hobbes zu sein, was – bei aller Verankerung Webers in der europäischen Geistesgeschichte – für die Erschließung seines Werkes nur bedingt erhellend ist. Angemessen ist gewiß die ausführliche Berücksichtigung von Marx, Nietzsche und Freud, nur daß das Ausschütten eines Zettelkastens auch hier nicht sonderlich weiterhilft.

Angesichts der Absage an die „Weberliteratur“ kann nicht überraschen, daß Sukale die Probleme der Überlieferungsgeschichte von Webers Texten selbst dann nicht interessieren, wenn sie unmittelbar für die Interpretation relevant sind, 11 und daß es, wenn es um Werkinterpretation geht, für ihn nicht der Abwägung unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten bedarf.

Für welchen Leserkreis das Buch gedacht ist, und wem es nützen könnte, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht können spätere Kulturhistoriker der Präsentation der Rußland-Schriften Webers (MWG I/10) als Schachspiel (174ff.) etwas abgewinnen oder auch dem Ausmaß der Selbstbespiegelungen sowie den Danksagungen im Vorwort – neben akademischen Lehrern, Freunden und Kollegen, des Verlegers („der dies Buch in einem Zustand staunenswerter Unvollkommenheit akzeptierte“) und der Ehefrau wird auch der Terrier-Hündin Juschka gedacht, die den Autor regelmäßig „an die frische Luft gezerrt“ hat und damit „gesund erhielt“ (XXIV.).

Anmerkungen:
1 Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926.
2 Max Weber, Jugendbriefe, Tübingen o. J. [1936].
3 Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964.
4 Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950, Tübingen 2001; vgl. dazu meine Rezension in: H-Soz-u-Kult, 16.03.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NG-2002-035>.
5 Subjektiv weit über die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Arbeit seit 1902 hinaus, wie die Briefe 1906ff. zeigen.
6 Carl Neumann, Zum Tode von Ernst Troeltsch, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1, 1923, 161-171, hier 163.
7 Mit dem Sammelband ist sicherlich gemeint: Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schwentker (Hgg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988.
8 Vgl. zuletzt Wilfried Nippel, Charisma und Herrschaft, in: ders. (Hg.), Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, 7ff.; Thomas Kroll, Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft und die zeitgenössische Charisma-Debatte, in: Edith Hanke / Wolfgang J. Mommsen (Hgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001, 47-72.
9 Vgl. Wilfried Nippel, Max Weber: „Nationalökonom und Politiker“, Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, 274-298.
10 Für die unmittelbare Wirkung Webers vgl. z. B.: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe an Max Weber, München 1923.
11 So beim Zusammenhang zwischen „nichtlegitimer Herrschaft“ und „Typologie der Städte“; vgl. zuletzt Antonio Scaglia, Max Webers Idealtypus der nichtlegitimen Herrschaft, Opladen 2001, dazu meine Rezension in: H-Soz-u-Kult, 20.09.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1379>. – Sukale (366ff.) hat überhaupt keine Probleme, den gesamten Text von Webers „Stadt“ (MWG I/22-5) als Ausführung zu „illegitimer Herrschaft“ zu lesen.

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